# taz.de -- Bremer*innen ohne Krankenversicherung: Endlich Arzttermine für alle | |
> Seit September werden Unversicherte in Bremen im regulären | |
> Gesundheitssystem behandelt. Die Kosten übernimmt die Stadt. | |
Bild: Zum Arzt gehen – in Bremen ist das jetzt auch für Menschen ohne Versic… | |
BREMEN taz | „Es gab keine Chance“, sagt Bajrami Medi. Der Bremer | |
Streetworker hat in der Vergangenheit oft versucht, Klient*innen zum | |
Arzt zu bekommen. Aber für Mazedonier*innen, für Bulgar*innen, für viele | |
andere war seine Suche nach einem Termin meist vergeblich. „Dabei bin ich | |
alle Wege gegangen“, erzählt er, „zum Jobcenter, zur Krankenkasse, zu den | |
Ärzten. Ich war verzweifelt.“ | |
Seit ein paar Wochen erst ist das anders; Medi steht heute in einer | |
ehemaligen Arztpraxis in Bahnhofsnähe, beim Tag der offenen Tür: Der | |
„Verein zur Förderung der medizinischen und gesundheitlichen Versorgung von | |
nichtversicherten und papierlosen Menschen in Bremen“, kurz MVP, stellt | |
sich vor. Er hat Anfang September seine Arbeit aufgenommen – und ist | |
Bremens Versuch, das Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung für alle | |
einzulösen. | |
102 Menschen waren seitdem für 300 Termine dort, zur medizinischen | |
Sprechstunde oder zur Beratung. Etwa der Hälfte konnte vor Ort geholfen | |
werden, die andere Hälfte wurde weiterüberwiesen: ins Krankenhaus, zu | |
Therapeut*innen, in Facharztpraxen. Hilfsangebote zur Notversorgung gab es | |
schon vorher und gibt es weiterhin. Die Weitervermittlung ins reguläre | |
Gesundheitssystem ist das eigentlich Revolutionäre. | |
Das Grundgesetz kennt das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, | |
die Vereinten Nationen kennen das Menschenrecht auf den „höchsten | |
erreichbaren Stand an körperlicher und geistiger Gesundheit“. Doch ein | |
Leistungsanspruch des Einzelnen auf Gesundheitsversorgung ließ sich daraus | |
bisher rechtlich nicht gegen den deutschen Staat ableiten. | |
## Obdachlose und Papierlose fallen raus | |
Das Krankenversicherungssystem erfasst nicht jeden. Herausfallen können | |
Obdachlose, viele EU-Bürger*innen ohne Job, Papierlose und Menschen, deren | |
Asylantrag abgelehnt wurde. Wie viele Menschen in Bremen betroffen sind, | |
ist nicht bekannt; die Linksfraktion schätzt ihre Zahl auf 4.000. | |
Gezielt geworben hat der MVP [1][bisher nicht für sein Angebot,] die | |
Vermittlung läuft über die Anlaufstellen für Papier- und Obdachlose und | |
über Mund-zu-Mund-Propaganda. „Wir gehen davon aus, dass die Zahl der | |
Patienten noch stark zunimmt, wenn wir bekannter werden“, sagt Holger | |
Dieckmann vom Verein. | |
Durchschnittlich dreimal waren die einzelnen Patient*innen in den neun | |
Wochen seit Projektstart vor Ort. Viele haben komplexe Krankheitsbilder: | |
Sie sind nicht vorbehandelt, über die Jahre haben sie Krankheiten | |
verschleppt. | |
## Möglichst viele in die Krankenversicherung bringen | |
Die vielen Besuche pro Patient*in liegen aber auch an der zweiten | |
wichtigen Aufgabe des MVP: Der Verein versucht, Menschen nicht nur zu | |
behandeln und zu überweisen, sondern sie doch noch im regulären | |
Gesundheitssystem unterzubringen; für viele deutsche Obdachlose, für manche | |
EU-Bürger*innen gibt es eine Chance. „Einer unserer Klienten war jetzt | |
17-mal bei uns – aber das ist ein gutes Zeichen“, sagt Dieckmann. „Es | |
heißt, dass wir etwas in die Wege leiten können.“ | |
Diese Möglichkeit gibt es längst nicht immer. Menschen mit abgelehntem | |
Asylantrag, aber auch EU-Bürger*innen, die schon länger ohne Arbeit | |
dastehen, haben oft keine Chance, in die Versicherung zu kommen. Für rund | |
die Hälfte der Menschen, die den MVP aufsuchen, bleibt der Verein dauerhaft | |
der einzige Zugang zum Gesundheitssystem. | |
## Finanzierung durch die Stadt, statt durch die Kasse | |
Etwa 2.000 Euro Budget ist pro Patient*in für die Behandlung | |
vorgesehen. „Viele Behandlungen sind natürlich günstiger“, erklärt David | |
Saputera, der eigentlich Anästhesist ist, jetzt aber parallel auch Haus- | |
und Hofmediziner des MVB. Höhere Kosten für Einzelne gleichen sich damit | |
oft aus – das meiste lässt sich vom Budget finanzieren. Was aber, wenn eine | |
Behandlung sehr viel aufwendiger ist? Eine Krebsbehandlung etwa kostet um | |
die 150.000 Euro, pro Jahr. „Wir versuchen dann, mit den Krankenkassen und | |
den Krankenhäusern einen Kompromiss zu finden“, erklärt Saputera. | |
„Dauerhaft keine ideale Lösung“, findet Gesundheitssenatorin Claudia | |
Bernhard (Linke). Ursprünglich hatte das Land für die garantierte | |
Gesundheitsversorgung [2][eine anonyme Gesundheitskarte präferiert.] Die | |
Kosten der Behandlungen über diese Karte hätten die Krankenkassen auffangen | |
müssen, die AOK war schon gesprächsbereit; das Bundesrecht erlaubte diese | |
Lösung aber nicht. | |
Für die Betroffenen sei die jetzt gefundene Lösung ähnlich gut, glaubt | |
Bernhard, die nachhaltige Finanzierung aber sei schwieriger. Die nächste | |
Koalition müsse das Projekt im Haushalt verstetigen – aktuell ist die | |
Finanzierung nur bis Ende 2023 gesichert, das Geld [3][stammt aus dem | |
Bremen-Fonds.] „Perspektivisch aber müssen wir die Menschen einfach ins | |
Versicherungssystem reinbekommen“, meint Bernhard. Allein kann Bremen das | |
wohl nicht. „Aber es sind ja alle Länder betroffen. Gesundheitliche | |
Versorgung ist das Elementare.“ | |
5 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Gesundheitsversorgung-fuer-Gefluechtete/!5870395 | |
[2] /Krankenversorgung-Papierloser/!5600574 | |
[3] /Bremen-nimmt-mehr-Schulden-auf/!5758344 | |
## AUTOREN | |
Lotta Drügemöller | |
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