# taz.de -- Mindestlohnverstöße bei Landwirten: Kontrollen finden kaum statt | |
> Bevor bei niedersächsischen Bauern der Zoll kontrolliert, können | |
> Jahrzehnte vergehen. Saisonarbeiter:innen sind den Betrieben | |
> ausgeliefert. | |
Bild: Können ihre Ansprüche kaum geltend machen: Saisonarbeiter:innen, hier i… | |
OSNABRÜCK taz | Wer in Niedersachsen einen Hof betreibt, hat gute Chancen, | |
niemals eine staatliche Kontrolle zu erleben. Auch die Kinder nicht. Auch | |
die Enkel nicht. Auch die Urenkel nicht. Das gilt besonders für Kontrollen | |
zu Mindestlohnverstößen durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der | |
Hauptzollämter: Von den rund 35.000 landwirtschaftlichen Betrieben | |
Niedersachsens wurden von Januar bis Mai 2022 nur 28 kontrolliert. | |
Angestoßen durch Berichte über [1][prekäre Beschäftigungsverhältnisse] im | |
Spargelanbau hatte der Linke-Bundestagsabgeordnete Victor Perli beim | |
Bundesfinanzministerium nachgefragt, auch nach Straf- und | |
Ordnungswidrigkeitsverfahren, die infolge von Prüfungen durch den Zoll | |
eingeleitet wurden. Die Antwort ernüchtert ihn: „Statistisch gesehen wird | |
ein landwirtschaftlicher Betrieb in Niedersachsen nur alle 350 Jahre auf | |
die Einhaltung des [2][Mindestlohns] kontrolliert. Selbst die geringen | |
Kontrollen aus dem Vorjahr werden nochmal unterboten.“ Von Januar bis Mai | |
2021 waren es immerhin doppelt so viele, 56, gewesen. | |
Was Perli besonders empört: Nach den insgesamt 104 Kontrollen im Jahr 2021 | |
war es zu 91 Straf- oder Ordnungswidrigkeitsverfahren gekommen. Fast jede | |
Kontrolle war also ein Treffer. Die 28 Kontrollen bis Mai 2022 haben zu 23 | |
Straf- oder Ordnungswidrigkeitsverfahren geführt. Das sei „erschütternd“, | |
sagt Perli. „Mindestlohnbetrug ist kein Bagatelldelikt, sondern knallharte | |
Wirtschaftskriminalität, die besser geahndet werden muss. Das würde auch | |
dem Schutz der vielen ehrlichen Betriebe dienen, die anständige Löhne | |
zahlen.“ Die „Kontrollblindheit“ sei „komplett inakzeptabel“ und lade… | |
Betrug ein, sagte Perli der taz. | |
Perli, Initiator des [3][Meldeportals „Mindestlohnbetrug“], ist überzeugt | |
davon, dass [4][Ernte-Saisonarbeiter] auch in Niedersachsen „oft Ausbeutung | |
der schlimmsten Form“ erleben. Viele kommen aus dem Ausland, vor allem aus | |
Osteuropa. Um sie kümmern sich unter anderem fünf Beratungsstellen für | |
mobile Beschäftigte, angesiedelt bei der hannoverschen Bildungsvereinigung | |
Arbeit und Leben. Eines der Haupt-Beratungsthemen dort ist die Einhaltung | |
des Mindestlohns. In einem Drittel aller Beratungen kam das Thema 2021 zur | |
Sprache, weit vor Themen wie Arbeitsvertrag, Kündigung, Sozialleistungen | |
und Krankenversicherung. | |
„Die Zahl der Kontrollen ist viel zu gering“, bestätigt Eva Viehoff der | |
taz, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im niedersächsischen | |
Landtag. „Und das ist nicht nur bei den Kontrollen des Zolls so, der | |
dringend personell aufgestockt werden muss, moderner aufgestellt, | |
digitaler. Das gilt auch für die Gewerbeaufsicht, zuständig für | |
Arbeitsschutz.“ Hier liege die Besichtigungsquote derzeit bei unter einem | |
Prozent aller Betriebe pro Jahr. Bis 2026 soll sie auf fünf Prozent | |
steigen, nach EU-Vorgaben. „Dann würde jeder Betrieb ungefähr alle zehn | |
Jahre kontrolliert.“ | |
Schnell beheben lässt sich dieser Missstand nicht. Es dauert Jahre, neues | |
Personal auszubilden. Und damit ist es nicht getan, sagt Lars Niggemeyer, | |
Abteilungsleiter Arbeitsmarktpolitik des Deutschen Gewerkschaftsbundes für | |
Niedersachsen, Bremen und Sachsen-Anhalt: „Bei gravierenden Verstößen muss | |
es weit höhere Strafen geben. Die bisherigen Bußgelder sind so gering, dass | |
es sich wirtschaftlich lohnen kann, das Risiko einzugehen, erwischt zu | |
werden.“ Dass es von Januar bis Mai nur 28 Zollkontrollen gab, findet er | |
„unfassbar“. | |
Und selbst wenn ein Verstoß dokumentiert ist: Für ausländische | |
Saisonbeschäftigte ist es extrem schwer, Ansprüche an den Arbeitgeber | |
durchzusetzen. „Die müssen das dann ja individuell hier in Deutschland vor | |
Gericht durchfechten“, sagt Niggemeyer. Wer wenig Geld hat, weit weg in | |
Osteuropa wohnt, überlegt sich das natürlich. Und der Arbeitgeber ist fein | |
raus. | |
Das ist er auch schon dank der spärlichen Kontrollen. „Jede fünfte Stelle | |
beim Zoll ist unbesetzt“, sagt Perli, der zuweilen undercover Beschäftigte | |
bei der Arbeit begleitet, die um den Mindestlohn betrogen werden. „Da sind | |
im Prinzip nur Stichproben möglich.“ Perli geht davon aus, dass die meisten | |
Landwirte sich korrekt verhalten. Dass die Trefferquote bei den Kontrollen | |
so „erschreckend krass“ ist, erklärt er sich auch damit, „dass der Zoll | |
nicht blind kontrolliert, sondern oft schon eine Vorahnung hat“. Besonders | |
jetzt, zur Erntezeit, müsse kontrolliert werden. „Im Oktober oder November | |
lohnt sich das nicht mehr.“ | |
18 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Lohndumping-und-Erntearbeit/!5810228 | |
[2] /Agrarministerium-zu-Arbeitsbedingungen/!5836207 | |
[3] https://mindestlohnbetrug.de/#die-initiative | |
[4] /Erntehelfer/!t5243331 | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
## TAGS | |
Erntehelfer | |
Mindestlohn | |
Niedersachsen | |
Landwirtschaft | |
Ausbeutung | |
Erntehelfer | |
Bauwirtschaft | |
Bremen | |
Mindestlohn | |
Landwirtschaft | |
Erntehelfer | |
Landwirtschaft | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Spargel- und Erdbeerernte: Bundesregierung muss eingreifen | |
Viele ErntehelferInnen aus Osteuropa werden ausgebeutet. Die Ampel muss | |
endlich dafür sorgen, dass sie eine ausreichende Krankenversicherung | |
bekommen. | |
Reportage aus dem Rhein-Main-Gebiet: Ganz unten im System | |
Länder, in denen migrantische Arbeiter auf Baustellen prekär beschäftigt | |
werden, müssen boykottiert werden? Am besten fängt man mit Deutschland an. | |
Bremer*innen ohne Krankenversicherung: Endlich Arzttermine für alle | |
Seit September werden Unversicherte in Bremen im regulären | |
Gesundheitssystem behandelt. Die Kosten übernimmt die Stadt. | |
Erhöhung des Mindestlohns: So viele Einzelfälle | |
Der Mindestlohn steigt auf 12 Euro. Doch viele haben nichts davon – sie | |
werden um den Mindestlohn betrogen. Tut die Politik genug? | |
Theatermacher über Ernte-Ausbeutung: „Wer holt die Nahrung vom Feld?“ | |
Das Drama vom billigen Spargel: Ein Stück lässt in Bremen | |
Feldarbeiter*innen auf der Bühne zu Wort kommen. | |
Vermittlung von Jobs in der Ernte: Wer sticht den Spargel? | |
Erntejobs sind ein kapitalistischer Kampfplatz. Zwar könnten ukrainische | |
Geflüchtete in der Ernte arbeiten, aber ihr Weg nach Deutschland ist | |
schwer. | |
Agrarministerium zu Arbeitsbedingungen: Gegen Sozialdumping bei der Ernte | |
Der Bauernverband will, dass der Mindestlohn später steigt und Erntehelfer | |
länger ohne Sozialversicherung arbeiten. Das Agrarministerium ist dagegen. |