| # taz.de -- Erhöhung des Mindestlohns: So viele Einzelfälle | |
| > Der Mindestlohn steigt auf 12 Euro. Doch viele haben nichts davon – sie | |
| > werden um den Mindestlohn betrogen. Tut die Politik genug? | |
| Bild: Besonders auf dem Bau wird beim Mindestlohn getrickst | |
| In einem schlicht eingerichteten Büro in der Innenstadt von Frankfurt am | |
| Main sitzt ein Mann Mitte 50, ganz in Schwarz gekleidet, kurzes graues | |
| Haar. Er rückt nervös seinen Stuhl zurecht. „[1][Faire Mobilität Hessen]“ | |
| steht auf einem Schild an der Tür. Das Büro ist eine Beratungsstelle für | |
| Arbeiter aus Ost- und Mitteleuropa, finanziert durch öffentliche Mittel des | |
| Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration. | |
| Deutschland habe es nicht gut gemeint mit ihm, sagt die Frau, die dem Mann | |
| hinter ihrem Schreibtisch gegenübersitzt, seine Beraterin. Sechsmal kam der | |
| Mann zum Arbeiten ins Land. Fünfmal wurde er abgezockt. Bei seiner letzten | |
| Arbeitsstelle, einer Baustelle in Frankfurt am Main, gab es wieder keinen | |
| Lohn. Erst als er wiederholt nachfragte, drückte ihm sein Chef einen | |
| 50-Euro-Schein in die Hand. Mit der Warnung, das ja nicht seinen Kollegen | |
| zu erzählen. „Nicht gut“, sagt Boris* mit starkem Akzent. | |
| Dabei klang alles so gut, damals in seiner nordbulgarischen Kleinstadt. | |
| Deutschland war für Boris das Land der hohen Löhne und fairen Bezahlung. | |
| 2009 kam er das erste Mal hierher, eine Großbaustelle in Koblenz. Drei | |
| Monate warteten er und die anderen bulgarischen Arbeiter auf ihren Lohn. | |
| Dann verschwand der Chef. Der nächste gab Boris Arbeit, aber unter der | |
| Bedingung, dass er in einem Geräteschuppen auf seinem Grundstück schläft, | |
| ohne Küche, ohne WC, für 350 Euro pro Monat. Dann verschwand auch er. | |
| „Nicht gut“, sagt Boris wieder. | |
| Seine letzte Firma gab ihm nicht mal einen Vertrag. Sein Chef erwähnte die | |
| Konditionen beim ersten Gespräch. Boris sollte Fassaden dämmen und Fenster | |
| isolieren. Festgeschriebene Arbeitszeiten gab es nicht. Stattdessen einen | |
| Deal: 30 Euro für den Quadratmeter. Für Arbeit dieser Art, sagt Boris, | |
| brauche er mindestens einen Tag. Geht man von einem Arbeitstag mit acht | |
| Stunden aus, wäre das ein Stundenlohn von 3,75 Euro. | |
| ## Eine Herzenssache | |
| Das sind 8,25 Euro unter dem ab 1. Oktober geltenden gesetzlichen | |
| Mindestlohn. | |
| „Mindestlohn?“, fragt Boris und schaut irritiert. Das Wort scheint ihm | |
| nicht viel zu sagen. | |
| Arbeitsminister Hubertus Heil feiert 12 Euro Mindestlohn, der ab dem 1. | |
| Oktober gezahlt werden muss, als gewaltigen Erfolg. Bereits zum 1. Juli war | |
| er von 9,82 auf 10,45 Euro gestiegen, nun kommen weitere 1,55 pro Stunde | |
| obendrauf. Für viele, [2][so der SPD-Mann im Juni im Bundestag], sei dies | |
| „möglicherweise der größte Lohnsprung in ihrem Leben“. | |
| Zwölf Euro Mindestlohn sind eine Herzenssache für die SPD. Wie das | |
| Bürgergeld, das Hartz IV ersetzt, ist dies ein Schritt weg von der Agenda | |
| 2010. Mit beidem korrigiert die Partei alte Fehler und söhnt sich mit sich | |
| selbst aus. Der erste SPD-Spitzenpolitiker, der für den Mindestlohn von 12 | |
| Euro warb, war Olaf Scholz – nach der verlorenen Wahl 2017. Dass Arbeit | |
| besser bezahlt werden muss, ist Teil von Scholz’ Respektrhetorik. Das | |
| Copyright auf die Forderung hatte aber die Linkspartei. Die SPD machte sie | |
| sich zu eigen. | |
| Für die SPD soll die Mindestlohnerhöhung der Beweis dafür sein, dass sie | |
| sich wieder um Alltagssorgen von GeringverdienerInnen kümmert und konkrete | |
| Verbesserungen durchsetzt. Martin Rosemann, Sprecher der SPD-Fraktion für | |
| Arbeit und Soziales, sagt: „12 Euro Mindestlohn ist ein großer sozialer | |
| Fortschritt. Und er ist für die, die wenig haben, eine Antwort auf die | |
| Krise.“ | |
| Also alles gut? Wenn man genauer hinschaut, entdeckt man dunkle Ecken. Und | |
| keine kleinen. | |
| Boris’ Geschichte ist ein extremer Fall – aber was ihm passiert, geschieht | |
| in Deutschland tagtäglich. Zwischen 750.000 und über 3 Millionen | |
| Arbeitnehmer:innen in Deutschland werden laut einer Erhebung des | |
| Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) um den Mindestlohn | |
| betrogen. „Die Spanne ist so breit, weil illegale Aktivitäten schwer zu | |
| erfassen sind und es unterschiedliche Methoden gibt, sie zu messen“, sagt | |
| Johannes Seebauer, Experte des DIW für Arbeit und Beschäftigung. | |
| Mindestlohnbetrug trifft Minijobber, Studierende oder Rentner. Und oft | |
| Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Arbeiter aus | |
| Osteuropa wie Boris – oder Bürger aus Staaten jenseits der EU. Menschen, | |
| die davor zurückschrecken, die Verstöße zu melden, weil sie Angst haben, | |
| dann nicht nur ihren Job, sondern auch ihre Wohnung oder gar ihr | |
| Bleiberecht zu verlieren. | |
| Der Betrug findet in vielen Branchen statt. Auf dem Bau, in der | |
| Gastronomie, in der Reinigung, der häuslichen Pflege, in der | |
| Fleischverarbeitung und Logistik. Mindestlohnbetrug ist ein Massenphänomen. | |
| Aber eines mit verschiedenen Ausprägungen. Es gibt eine Vielzahl von | |
| Maschen, allein auf dem Bau. | |
| Beispiel Florean*. Ein sportlicher Mann, 29 Jahre alt, kurz geschorenes | |
| braunes Haar. Aufgewachsen in einer Kleinstadt im Osten Rumäniens kam er | |
| 2016 nach Deutschland. Er blickt abwechselnd misstrauisch und freundlich. | |
| Florean arbeitet als Maurer und Kranfahrer, meist um die zehn Stunden pro | |
| Tag. Sein letzter Chef aber hat auf den Lohnzetteln im Schnitt nur vier | |
| Stunden erfasst – den Rest bekam Florean schwarz ausgezahlt. Einmal im | |
| Monat kam der Chef vorgefahren, winkte die Arbeiter zu sich, einen nach dem | |
| anderen, drückte jedem einen Umschlag mit Geld in die Hand. | |
| Für Florean bedeutete die Schwarzarbeit: entsprechend weniger | |
| Rentenbeiträge, weniger Geld im Krankheitsfall, weniger Urlaubsgeld. | |
| Zumindest offiziell. Tatsächlich wurde im Krankheitsfall und bei Urlaub gar | |
| kein Geld gezahlt. Und auch bei der Abrechnung der Arbeitszeit nutzte der | |
| Chef alle Schlupflöcher. Nicht angerechnet wurde etwa die Zeit, die Florean | |
| brauchte, um den Kran hinauf- und wieder hinunterzuklettern. Vierzig | |
| Minuten dauerte das jedes Mal. | |
| Solche Tricks und unbezahlte Überstunden sind weit verbreitete Methoden, | |
| den Mindestlohn zu umgehen, vor allem auf dem Bau und in der | |
| Reinigungsbranche. In der Landwirtschaft müssen Arbeitnehmer teils ihre | |
| Arbeitsgeräte selbst zahlen oder es werden ihnen überhöhte Kosten für die | |
| Unterkunft abgezogen. Oder beides. Es gibt undurchsichtige | |
| Lohnabrechnungen. Die Zahl der Tricks ist unüberschaubar. | |
| ## Keine hat je eine Kontrolle gesehen | |
| Dabei gibt es ein Organ, das all diese Verstöße kontrollieren soll: die | |
| Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls. Fragt man Boris und Florean | |
| danach, schütteln sie den Kopf. Keiner von ihnen hat auf dem Bau je eine | |
| Kontrolle gesehen. | |
| Eigentlich erstaunlich. Schließlich wurde nicht nur der Mindestlohn in den | |
| letzten Jahren angehoben, sondern auch die Zahl der Stellen bei der | |
| Finanzkontrolle Schwarzarbeit. 6.865 Planstellen waren es 2015, derzeit | |
| sind es 10.223, allerdings sind da auch Stellen für Querschnittsbereiche | |
| wie Organisation und Haushalt mit dabei. Im fachlichen Bereich tatsächlich | |
| besetzt sind derzeit 8.500 Stellen. Der Stellenplan ist gewachsen, aber es | |
| ist schwierig, Nachwuchs zu gewinnen. | |
| Wenn man SPD-PolitikerInnen nach Mindestlohnbetrug fragt, bekommt man fast | |
| immer dieselbe Antwort. Man schaffe doch beim Zoll mehr Stellen, alles | |
| werde gut. „Wir haben mit dem massiven Ausbau der Stellen bei der | |
| Finanzkontrolle Schwarzarbeit gegengesteuert. Und die Kontrolldichte | |
| intensiviert“, sagt SPD-Mann Martin Rosemann. | |
| Doch das Kontrollsystem ist noch immer löchrig. Vor allem in den | |
| Großstädten mit großen Baustellen ist der Zoll dünn besetzt. Victor Perli, | |
| Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, hat deshalb 2021 das | |
| [3][Onlineportal Mindestlohnbetrug] gegründet. Dort können sich Betroffene | |
| anonym melden. „In Deutschland wird Falschparken strenger kontrolliert als | |
| Mindestlohnbetrug“, sagt Perli. Bei seinem Portal haben sich inzwischen | |
| eine höhere dreistellige Zahl von Menschen mit konkreten Fällen gemeldet, | |
| die er nach Vorprüfung an den Zoll weiterreicht. | |
| Wie stiefmütterlich das Thema Mindestlohnbetrug von der Politik behandelt | |
| wird, verdeutlicht auch ein Anruf bei einem Arbeitsmarktexperten der SPD. | |
| Verstöße müssten gemeldet werden, sagt er, und verweist auf eine Hotline | |
| für Mindestlohnbetrug im Arbeitsministerium, an die sich Betroffene ja | |
| wenden können. Doch die Hotline gibt es nicht. Es gibt nur eine beim | |
| Arbeitsministerium, bei der sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer informieren | |
| können. Bei Mindestlohnbetrug verweist man dort an den Zoll. Wenn schon | |
| erfahrene SPD-Abgeordnete, die die Gesetze schreiben, nicht wissen, wie man | |
| Mindestlohnbetrug meldet – wie soll das ein Bauarbeiter aus Bulgarien | |
| wissen? | |
| Boris, der für 30 Euro pro Quadratmeter arbeitet, landete zufällig bei der | |
| Beratungsstelle Faire Mobilität. Er begleitete eine bulgarische Freundin zu | |
| einem Termin dort. Sie arbeitete als Reinigungskraft, ebenfalls unterhalb | |
| des Mindestlohns. Als er neben seiner Freundin saß und der Beraterin | |
| zuhörte, wurde Boris klar, dass man etwas gegen den Betrug tun kann. | |
| Doch nur ein kleiner Teil der betrogenen ArbeitnehmerInnen finde den Weg zu | |
| ihnen, heißt es bei Beratungsstellen, GewerkschaftsvertreterInnen und | |
| Anwälten. Die Menschen haben Angst, Verstöße zu melden. Und viele wissen | |
| gar nicht, dass es diese Anlaufstellen und die Möglichkeit rechtlicher | |
| Schritte gibt. | |
| Auch der Linkspartei-Abgeordnete Perli kritisiert, dass handhabbare | |
| Angebote für Leute fehlen, die nicht so gut Deutsch können. Der Zoll biete | |
| nur eine komplizierte Website an – nötig sei eine zentrale Anlaufstelle für | |
| Betroffene. „In Großbritannien gibt es eine Hotline. Die funktioniert | |
| besser.“ | |
| ## Die Probleme liegen tiefer | |
| All das könnte man ändern, verbessern, anpassen – aber die Probleme beim | |
| Zoll liegen tiefer. Einfach mehr Personal löst das Grundsätzliche nicht. | |
| Das glaubt jedenfalls Frank Buckenhofer, Vorsitzender der Bezirksgruppe | |
| Zoll der Gewerkschaft der Polizei. Man erwischt ihn am Telefon im Auto auf | |
| dem Weg nach Berlin zu einem Gewerkschaftskongress. Man habe auf | |
| politischen Druck die Zahl der Stellen erhöht, sagt Buckenhofer. Und dabei | |
| leider versäumt, die neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter intensiv aus- | |
| und fortzubilden. Zulasten der alteingesessenen KollegInnen: „Die brauchten | |
| Zeit für das Anlernen der Neuen und hatten weniger Zeit für Kontrollen und | |
| Ermittlungen.“ | |
| Wer Buckenhofer über den Zoll reden hört, der bekommt den Eindruck einer | |
| undurchsichtigen Behörde, bei der jede Abteilung eigenen Gesetzen und | |
| Vorgaben gehorcht. Er spricht von einer „wahren Patchworkstruktur“, von | |
| „verschiedenen polizeilichen Einsatzbereichen“, die „nicht miteinander | |
| verzahnt sind und auch nicht unter gemeinsamer örtlicher Führung | |
| zusammenarbeiten“. Der Zoll, sagt Buckenhofer, bestehe aus „sehr vielen | |
| weitestgehend selbstständigen Fürstentümern“. Um effektiv Mindestlohnbetrug | |
| zu bekämpfen, müsse die Finanzkontrolle Schwarzarbeit zu einer | |
| Finanzpolizei werden. Flexibel einsetzbar, mit Zugriff auf Polizeidaten und | |
| mit polizeilichen Befugnissen. | |
| Die Schwächen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit sind lange bekannt. Aber es | |
| ist so ähnlich wie beim Mindestlohnbetrug. Manche wissen, was falsch läuft | |
| – aber der Elan, Entscheidendes zu ändern, fehlt. Die Idee, den Zoll zu | |
| reformieren, gibt es seit 30 Jahren. Gescheitert sei sie, so Buckenhofer, | |
| an der Verwaltung des Zolls, die resistent gegenüber Veränderungen ist. Und | |
| an der Politik, die sich damit begnügt habe, der Öffentlichkeit gestiegene | |
| Mitarbeiterzahlen zu präsentieren – ohne sich für die Arbeit und die | |
| Strukturen des Zolls zu interessieren. | |
| Gerhard Bosch ist Arbeitssoziologe und hat lange für die Einführung des | |
| Mindestlohns gestritten. Gegen die Mehrheitsmeinung der Ökonomen, die vor | |
| 2015 finstere Bilder an die Wand warfen. Millionen Arbeitsplätze werde der | |
| Mindestlohn von 8,50 Euro killen, hieß es damals. Bosch hielt dagegen. Und | |
| behielt recht. „Die Einführung des Mindestlohns war ein Waterloo für die | |
| Mainstream-Ökonomen. Denn die Zahl der Arbeitsplätze in den | |
| Niedriglohnbranchen hat sogar zugenommen. Aber keiner hat gesagt: Ich habe | |
| mich geirrt.“ | |
| Bosch hat auch den Zoll und Mindestlohnbetrug erforscht und durchleuchtet. | |
| Sein Eindruck: „Die Zöllner, mit denen wir gesprochen haben, sind hoch | |
| engagierte, gut ausgebildete Leute, die ihren Beruf lieben.“ Aber die | |
| Organisation sei zu schwerfällig, habe Doppelstrukturen und zu viele | |
| verschiedene Aufgaben. Und sie sei zu wenig kreativ. Fakt ist: Die | |
| Aufklärungsquote der Finanzkontrolle Schwarzarbeit ist übersichtlich. Auch | |
| wenn man die Zahl der Missbrauchsfälle niedrig schätzt, liegt sie unter 0,5 | |
| Prozent. | |
| ## Misbrauch gilt nicht als Skandal | |
| Gerhard Bosch hält Kontrollen vor Ort für zu wenig „Der Zoll muss am Kopf | |
| der Missbrauchskette ansetzen, bei den großen Auftraggebern. In den USA ist | |
| das unter Obama geschehen. Die großen Hotelketten wurden auf wirkungsvolle | |
| Kontrollen ihrer Nachunternehmer verpflichtet. Warum trifft der Zoll nicht | |
| mit allen DAX-Unternehmen Vereinbarungen über ein sozialverträgliches | |
| Nachunternehmermanagement? Aber dafür denkt er zu wenig strategisch.“ | |
| Wie geht es nun weiter? Man muss kein Prophet sein, um zu vermuten, dass | |
| bei einem Mindestlohn von 12 Euro die Betrügereien eher noch zunehmen. Hohe | |
| Energiepreise, die Inflation – einfach den Lohn zu drücken mag da vielen | |
| als einfache Lösung erscheinen. Die Gefahr, erwischt zu werden, ist gering. | |
| Die drohenden Strafen sind milde. Mindestlohnbetrug ist nur eine | |
| Ordnungswidrigkeit. Und so richtig als Skandal gilt der massenhafte | |
| Missbrauch auch nicht. | |
| „Die Betroffenen haben keine Lobby. Das macht es schwierig, eine größere | |
| Öffentlichkeit herzustellen“, sagt Victor Perli von der Linkspartei, der | |
| seit Jahren versucht, das Thema publik zu machen. | |
| Das Problem ist auch: Arbeitgeber können sich vieles erlauben. Es mangelt | |
| nicht an willigen Arbeitskräften. Beispiel Alexander*, ein Moldawier, seit | |
| 2012 in Deutschland, er arbeitet als Zimmermann. Seine Überstunden wurden | |
| von seinem letzten Arbeitgeber zwar notiert, sagt er, für ein | |
| Überstundenkonto wie es hieß, ausgezahlt werde es im Winter, wenn man nicht | |
| arbeiten kann. Als dann aber der Winter kam, sagte sein Chef: „Du kriegst | |
| nichts.“ Und: „Kannst ja gehen, wenn es dir nicht passt. Es gibt genügend | |
| andere, die hier arbeiten wollen.“ | |
| Florean, der rumänische Maurer und Kranfahrer, sagt: Wer als gesunder, | |
| nicht zu alter Mann von einer Baustelle fliegt oder selbst hinschmeißt, | |
| braucht keine zwei Wochen, dann hat er einen neuen Job. Allerdings werde | |
| bei dem in der Regel genauso getrickst wie bei dem alten. Arbeitgeber, die | |
| den Lohn korrekt auszahlen und die Stunden ihrer Mitarbeiter richtig | |
| erfassen, kenne er gar nicht, sagt Florean. | |
| ## Digitale Erfassung könnte helfen | |
| Dabei gibt es eine Methode, den Betrug wirksam einzudämmen. Sie stand auch | |
| in Hubertus Heils erstem Entwurf des Gesetzes über 12 Euro Mindestlohn: die | |
| digitale Erfassung der Arbeitszeit per App. Dass diese Technik | |
| funktioniert, zeigen Paketboten, deren Arbeit digital überwacht wird. | |
| Eine digitale Erfassung der Arbeitszeit würde Betrug zwar nicht unmöglich | |
| machen, aber es würde schwieriger. Die ArbeitnehmerInnen müssten aktiv | |
| dabei mitmachen. Fälle wie der von Florean hingegen, der zehn Stunden | |
| arbeitet, aber nur für vier verlässlich bezahlt wird, würden rapide | |
| abnehmen. Der Zoll könnte mit Zugriff auf digitale Arbeitszeiten Betrüger | |
| viel effektiver dingfest machen. Doch FDP und Arbeitgeberverbänden gelang | |
| es, diesen Passus aus dem Gesetz zu streichen. Das sei zu aufwendig für die | |
| Arbeitgeber, so das Argument. | |
| Auch jetzt müssen Arbeitgeber in Branchen, die anfällig für | |
| Mindestlohnbetrug sind, die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten | |
| dokumentieren. Aber das geht ohne Unterschrift des Arbeiternehmers und es | |
| kann innerhalb einer Woche nachgetragen werden. Das ist ungefähr so, wie | |
| Diebstahl zu verbieten, aber nur von Montag bis Mittwoch – und jedem, der | |
| trotzdem erwischt wird, eine Woche Zeit zu geben, die Tat zu vertuschen. | |
| Dass es keine fälschungssichere elektronische Arbeitszeitaufzeichnungen | |
| gibt, sagt der Soziologe Bosch, zeige einfach, dass „die Politik nicht | |
| will, dass der Zoll genau kontrollieren kann“. | |
| Und es gibt noch einen Malus, der auf das Konto der FDP geht. Die | |
| monatliche Verdienstgrenze für Minijobs wird zum 1. Oktober von 450 auf 520 | |
| Euro angehoben. Derzeit gibt es rund vier Millionen Menschen, die in | |
| Minijobs arbeiten, mal im Geschäft an der Kasse sitzen, in Kneipen | |
| kellnern, in Restaurants in der Küche arbeiten oder im Reinigungsgewerbe. | |
| Genau diese Jobs werden mit der Anhebung auf 520 Euro attraktiver. „Bei der | |
| Hälfte aller Minijobs wird der Mindestlohn aber nicht gezahlt“, sagt Bosch. | |
| Der interne Deal in der Ampel war: Die SPD bekommt 12 Euro Mindestlohn, die | |
| FDP die Minijobs mit 520 Euro. Das Ergebnis hat etwas Paradoxes: Der | |
| Mindestlohn steigt. Und genau der Sektor, in dem er schon jetzt häufig | |
| nicht gezahlt wird, wird noch ausgeweitet. Die Folgen sind absehbar. | |
| Dabei ist der Mindestlohn bisher eine echte Erfolgsgeschichte. Fünf | |
| Millionen Beschäftigte haben so seit 2015 zum Teil kräftige Lohnerhöhungen | |
| bekommen. Die Ungleichheit bei den Einkommen, die lange wuchs, ist sogar | |
| leicht gesunken. Doch 12 Euro, die für Millionen dann doch nur auf dem | |
| Papier stehen, sind keine rosige Perspektive, oder wie Boris sagen würde: | |
| „nicht gut“. | |
| Der Blick über die Grenzen zeigt, dass es anders gehen kann. In den | |
| skandinavischen Ländern ist Lohnbetrug eine Randerscheinung. Dort gibt es | |
| auch in kleinen Betrieben einflussreiche Gewerkschaftsvertreter. In | |
| Deutschland nicht. | |
| * Die Namen der Protagonisten wurden zu ihrem Schutz geändert. Die Namen | |
| sind der Redaktion bekannt | |
| 1 Oct 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.emwu.org/faire-mobilitaet-hessen2/ | |
| [2] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-des-bundesmini… | |
| [3] https://mindestlohnbetrug.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Sascha Lübbe | |
| Stefan Reinecke | |
| ## TAGS | |
| Mindestlohn | |
| Betrug | |
| Bauwirtschaft | |
| GNS | |
| Lkw | |
| Mindestlohn | |
| Familie | |
| Prekäre Arbeit | |
| Arbeitslosigkeit | |
| Kolumne La dolce Vita | |
| Erntehelfer | |
| Olaf Scholz | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Lkw-Streik auf dem Rastplatz: Lieferstopp wegen Lohnausfall | |
| Seit Wochen warten sie auf ihren Lohn. Jetzt protestieren Lkw-Fahrer aus | |
| Usbekistan und Georgien. Erst wenn das Geld da ist, fahren die Lkw weiter. | |
| Böckler-Stiftung zu Inflation: Höherer Mindestlohn gefordert | |
| Geht es nach den Expert*innen der Hans-Böckler-Stiftung, sollte die | |
| zuständige Kommission den Mindestlohn rasch anheben. Die Inflation mache | |
| eine Anpassung nötig. | |
| Reinigungskräfte beschäftigen: Hilfe beim Putzen, ein Traum! | |
| Unsere Autorin fordert, dass Alleinerziehende Anspruch auf eine vom Staat | |
| bezahlte Reinigungskraft bekommen sollten. Nichts daran wäre verwerflich. | |
| Reportage aus dem Rhein-Main-Gebiet: Ganz unten im System | |
| Länder, in denen migrantische Arbeiter auf Baustellen prekär beschäftigt | |
| werden, müssen boykottiert werden? Am besten fängt man mit Deutschland an. | |
| Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland: Der Käpt’n überlebt immer | |
| Stefan Diebetz ist Schleusenwärter in Eberswalde, er gehört zu den | |
| Ostdeutschen, die nach der Revolution 1989 viel verloren haben. Heute hat | |
| er eine Marke aus sich gemacht. | |
| Teilhabe von Menschen mit Behinderung: Mindestlohn für alle | |
| Die Bundesregierung feiert sich für die baldige Einführung des | |
| 12-Euro-Mindestlohns. Der gilt aber nicht für alle. | |
| Mindestlohnverstöße bei Landwirten: Kontrollen finden kaum statt | |
| Bevor bei niedersächsischen Bauern der Zoll kontrolliert, können Jahrzehnte | |
| vergehen. Saisonarbeiter:innen sind den Betrieben ausgeliefert. | |
| Bundestag stimmt für Erhöhung: 12 Euro Mindestlohn kommt | |
| Der Bundestag hat ein zentrales Versprechen der Ampel beschlossen: Zum 1. | |
| Oktober steigt der Mindestlohn auf 12 Euro. Doch die Zweifel wachsen, ob | |
| das reicht. |