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# taz.de -- Erhöhung des Mindestlohns: So viele Einzelfälle
> Der Mindestlohn steigt auf 12 Euro. Doch viele haben nichts davon – sie
> werden um den Mindestlohn betrogen. Tut die Politik genug?
Bild: Besonders auf dem Bau wird beim Mindestlohn getrickst
In einem schlicht eingerichteten Büro in der Innenstadt von Frankfurt am
Main sitzt ein Mann Mitte 50, ganz in Schwarz gekleidet, kurzes graues
Haar. Er rückt nervös seinen Stuhl zurecht. „[1][Faire Mobilität Hessen]“
steht auf einem Schild an der Tür. Das Büro ist eine Beratungsstelle für
Arbeiter aus Ost- und Mitteleuropa, finanziert durch öffentliche Mittel des
Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration.
Deutschland habe es nicht gut gemeint mit ihm, sagt die Frau, die dem Mann
hinter ihrem Schreibtisch gegenübersitzt, seine Beraterin. Sechsmal kam der
Mann zum Arbeiten ins Land. Fünfmal wurde er abgezockt. Bei seiner letzten
Arbeitsstelle, einer Baustelle in Frankfurt am Main, gab es wieder keinen
Lohn. Erst als er wiederholt nachfragte, drückte ihm sein Chef einen
50-Euro-Schein in die Hand. Mit der Warnung, das ja nicht seinen Kollegen
zu erzählen. „Nicht gut“, sagt Boris* mit starkem Akzent.
Dabei klang alles so gut, damals in seiner nordbulgarischen Kleinstadt.
Deutschland war für Boris das Land der hohen Löhne und fairen Bezahlung.
2009 kam er das erste Mal hierher, eine Großbaustelle in Koblenz. Drei
Monate warteten er und die anderen bulgarischen Arbeiter auf ihren Lohn.
Dann verschwand der Chef. Der nächste gab Boris Arbeit, aber unter der
Bedingung, dass er in einem Geräteschuppen auf seinem Grundstück schläft,
ohne Küche, ohne WC, für 350 Euro pro Monat. Dann verschwand auch er.
„Nicht gut“, sagt Boris wieder.
Seine letzte Firma gab ihm nicht mal einen Vertrag. Sein Chef erwähnte die
Konditionen beim ersten Gespräch. Boris sollte Fassaden dämmen und Fenster
isolieren. Festgeschriebene Arbeitszeiten gab es nicht. Stattdessen einen
Deal: 30 Euro für den Quadratmeter. Für Arbeit dieser Art, sagt Boris,
brauche er mindestens einen Tag. Geht man von einem Arbeitstag mit acht
Stunden aus, wäre das ein Stundenlohn von 3,75 Euro.
## Eine Herzenssache
Das sind 8,25 Euro unter dem ab 1. Oktober geltenden gesetzlichen
Mindestlohn.
„Mindestlohn?“, fragt Boris und schaut irritiert. Das Wort scheint ihm
nicht viel zu sagen.
Arbeitsminister Hubertus Heil feiert 12 Euro Mindestlohn, der ab dem 1.
Oktober gezahlt werden muss, als gewaltigen Erfolg. Bereits zum 1. Juli war
er von 9,82 auf 10,45 Euro gestiegen, nun kommen weitere 1,55 pro Stunde
obendrauf. Für viele, [2][so der SPD-Mann im Juni im Bundestag], sei dies
„möglicherweise der größte Lohnsprung in ihrem Leben“.
Zwölf Euro Mindestlohn sind eine Herzenssache für die SPD. Wie das
Bürgergeld, das Hartz IV ersetzt, ist dies ein Schritt weg von der Agenda
2010. Mit beidem korrigiert die Partei alte Fehler und söhnt sich mit sich
selbst aus. Der erste SPD-Spitzenpolitiker, der für den Mindestlohn von 12
Euro warb, war Olaf Scholz – nach der verlorenen Wahl 2017. Dass Arbeit
besser bezahlt werden muss, ist Teil von Scholz’ Respektrhetorik. Das
Copyright auf die Forderung hatte aber die Linkspartei. Die SPD machte sie
sich zu eigen.
Für die SPD soll die Mindestlohnerhöhung der Beweis dafür sein, dass sie
sich wieder um Alltagssorgen von GeringverdienerInnen kümmert und konkrete
Verbesserungen durchsetzt. Martin Rosemann, Sprecher der SPD-Fraktion für
Arbeit und Soziales, sagt: „12 Euro Mindestlohn ist ein großer sozialer
Fortschritt. Und er ist für die, die wenig haben, eine Antwort auf die
Krise.“
Also alles gut? Wenn man genauer hinschaut, entdeckt man dunkle Ecken. Und
keine kleinen.
Boris’ Geschichte ist ein extremer Fall – aber was ihm passiert, geschieht
in Deutschland tagtäglich. Zwischen 750.000 und über 3 Millionen
Arbeitnehmer:innen in Deutschland werden laut einer Erhebung des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) um den Mindestlohn
betrogen. „Die Spanne ist so breit, weil illegale Aktivitäten schwer zu
erfassen sind und es unterschiedliche Methoden gibt, sie zu messen“, sagt
Johannes Seebauer, Experte des DIW für Arbeit und Beschäftigung.
Mindestlohnbetrug trifft Minijobber, Studierende oder Rentner. Und oft
Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Arbeiter aus
Osteuropa wie Boris – oder Bürger aus Staaten jenseits der EU. Menschen,
die davor zurückschrecken, die Verstöße zu melden, weil sie Angst haben,
dann nicht nur ihren Job, sondern auch ihre Wohnung oder gar ihr
Bleiberecht zu verlieren.
Der Betrug findet in vielen Branchen statt. Auf dem Bau, in der
Gastronomie, in der Reinigung, der häuslichen Pflege, in der
Fleischverarbeitung und Logistik. Mindestlohnbetrug ist ein Massenphänomen.
Aber eines mit verschiedenen Ausprägungen. Es gibt eine Vielzahl von
Maschen, allein auf dem Bau.
Beispiel Florean*. Ein sportlicher Mann, 29 Jahre alt, kurz geschorenes
braunes Haar. Aufgewachsen in einer Kleinstadt im Osten Rumäniens kam er
2016 nach Deutschland. Er blickt abwechselnd misstrauisch und freundlich.
Florean arbeitet als Maurer und Kranfahrer, meist um die zehn Stunden pro
Tag. Sein letzter Chef aber hat auf den Lohnzetteln im Schnitt nur vier
Stunden erfasst – den Rest bekam Florean schwarz ausgezahlt. Einmal im
Monat kam der Chef vorgefahren, winkte die Arbeiter zu sich, einen nach dem
anderen, drückte jedem einen Umschlag mit Geld in die Hand.
Für Florean bedeutete die Schwarzarbeit: entsprechend weniger
Rentenbeiträge, weniger Geld im Krankheitsfall, weniger Urlaubsgeld.
Zumindest offiziell. Tatsächlich wurde im Krankheitsfall und bei Urlaub gar
kein Geld gezahlt. Und auch bei der Abrechnung der Arbeitszeit nutzte der
Chef alle Schlupflöcher. Nicht angerechnet wurde etwa die Zeit, die Florean
brauchte, um den Kran hinauf- und wieder hinunterzuklettern. Vierzig
Minuten dauerte das jedes Mal.
Solche Tricks und unbezahlte Überstunden sind weit verbreitete Methoden,
den Mindestlohn zu umgehen, vor allem auf dem Bau und in der
Reinigungsbranche. In der Landwirtschaft müssen Arbeitnehmer teils ihre
Arbeitsgeräte selbst zahlen oder es werden ihnen überhöhte Kosten für die
Unterkunft abgezogen. Oder beides. Es gibt undurchsichtige
Lohnabrechnungen. Die Zahl der Tricks ist unüberschaubar.
## Keine hat je eine Kontrolle gesehen
Dabei gibt es ein Organ, das all diese Verstöße kontrollieren soll: die
Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls. Fragt man Boris und Florean
danach, schütteln sie den Kopf. Keiner von ihnen hat auf dem Bau je eine
Kontrolle gesehen.
Eigentlich erstaunlich. Schließlich wurde nicht nur der Mindestlohn in den
letzten Jahren angehoben, sondern auch die Zahl der Stellen bei der
Finanzkontrolle Schwarzarbeit. 6.865 Planstellen waren es 2015, derzeit
sind es 10.223, allerdings sind da auch Stellen für Querschnittsbereiche
wie Organisation und Haushalt mit dabei. Im fachlichen Bereich tatsächlich
besetzt sind derzeit 8.500 Stellen. Der Stellenplan ist gewachsen, aber es
ist schwierig, Nachwuchs zu gewinnen.
Wenn man SPD-PolitikerInnen nach Mindestlohnbetrug fragt, bekommt man fast
immer dieselbe Antwort. Man schaffe doch beim Zoll mehr Stellen, alles
werde gut. „Wir haben mit dem massiven Ausbau der Stellen bei der
Finanzkontrolle Schwarzarbeit gegengesteuert. Und die Kontrolldichte
intensiviert“, sagt SPD-Mann Martin Rosemann.
Doch das Kontrollsystem ist noch immer löchrig. Vor allem in den
Großstädten mit großen Baustellen ist der Zoll dünn besetzt. Victor Perli,
Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, hat deshalb 2021 das
[3][Onlineportal Mindestlohnbetrug] gegründet. Dort können sich Betroffene
anonym melden. „In Deutschland wird Falschparken strenger kontrolliert als
Mindestlohnbetrug“, sagt Perli. Bei seinem Portal haben sich inzwischen
eine höhere dreistellige Zahl von Menschen mit konkreten Fällen gemeldet,
die er nach Vorprüfung an den Zoll weiterreicht.
Wie stiefmütterlich das Thema Mindestlohnbetrug von der Politik behandelt
wird, verdeutlicht auch ein Anruf bei einem Arbeitsmarktexperten der SPD.
Verstöße müssten gemeldet werden, sagt er, und verweist auf eine Hotline
für Mindestlohnbetrug im Arbeitsministerium, an die sich Betroffene ja
wenden können. Doch die Hotline gibt es nicht. Es gibt nur eine beim
Arbeitsministerium, bei der sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer informieren
können. Bei Mindestlohnbetrug verweist man dort an den Zoll. Wenn schon
erfahrene SPD-Abgeordnete, die die Gesetze schreiben, nicht wissen, wie man
Mindestlohnbetrug meldet – wie soll das ein Bauarbeiter aus Bulgarien
wissen?
Boris, der für 30 Euro pro Quadratmeter arbeitet, landete zufällig bei der
Beratungsstelle Faire Mobilität. Er begleitete eine bulgarische Freundin zu
einem Termin dort. Sie arbeitete als Reinigungskraft, ebenfalls unterhalb
des Mindestlohns. Als er neben seiner Freundin saß und der Beraterin
zuhörte, wurde Boris klar, dass man etwas gegen den Betrug tun kann.
Doch nur ein kleiner Teil der betrogenen ArbeitnehmerInnen finde den Weg zu
ihnen, heißt es bei Beratungsstellen, GewerkschaftsvertreterInnen und
Anwälten. Die Menschen haben Angst, Verstöße zu melden. Und viele wissen
gar nicht, dass es diese Anlaufstellen und die Möglichkeit rechtlicher
Schritte gibt.
Auch der Linkspartei-Abgeordnete Perli kritisiert, dass handhabbare
Angebote für Leute fehlen, die nicht so gut Deutsch können. Der Zoll biete
nur eine komplizierte Website an – nötig sei eine zentrale Anlaufstelle für
Betroffene. „In Großbritannien gibt es eine Hotline. Die funktioniert
besser.“
## Die Probleme liegen tiefer
All das könnte man ändern, verbessern, anpassen – aber die Probleme beim
Zoll liegen tiefer. Einfach mehr Personal löst das Grundsätzliche nicht.
Das glaubt jedenfalls Frank Buckenhofer, Vorsitzender der Bezirksgruppe
Zoll der Gewerkschaft der Polizei. Man erwischt ihn am Telefon im Auto auf
dem Weg nach Berlin zu einem Gewerkschaftskongress. Man habe auf
politischen Druck die Zahl der Stellen erhöht, sagt Buckenhofer. Und dabei
leider versäumt, die neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter intensiv aus-
und fortzubilden. Zulasten der alteingesessenen KollegInnen: „Die brauchten
Zeit für das Anlernen der Neuen und hatten weniger Zeit für Kontrollen und
Ermittlungen.“
Wer Buckenhofer über den Zoll reden hört, der bekommt den Eindruck einer
undurchsichtigen Behörde, bei der jede Abteilung eigenen Gesetzen und
Vorgaben gehorcht. Er spricht von einer „wahren Patchworkstruktur“, von
„verschiedenen polizeilichen Einsatzbereichen“, die „nicht miteinander
verzahnt sind und auch nicht unter gemeinsamer örtlicher Führung
zusammenarbeiten“. Der Zoll, sagt Buckenhofer, bestehe aus „sehr vielen
weitestgehend selbstständigen Fürstentümern“. Um effektiv Mindestlohnbetrug
zu bekämpfen, müsse die Finanzkontrolle Schwarzarbeit zu einer
Finanzpolizei werden. Flexibel einsetzbar, mit Zugriff auf Polizeidaten und
mit polizeilichen Befugnissen.
Die Schwächen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit sind lange bekannt. Aber es
ist so ähnlich wie beim Mindestlohnbetrug. Manche wissen, was falsch läuft
– aber der Elan, Entscheidendes zu ändern, fehlt. Die Idee, den Zoll zu
reformieren, gibt es seit 30 Jahren. Gescheitert sei sie, so Buckenhofer,
an der Verwaltung des Zolls, die resistent gegenüber Veränderungen ist. Und
an der Politik, die sich damit begnügt habe, der Öffentlichkeit gestiegene
Mitarbeiterzahlen zu präsentieren – ohne sich für die Arbeit und die
Strukturen des Zolls zu interessieren.
Gerhard Bosch ist Arbeitssoziologe und hat lange für die Einführung des
Mindestlohns gestritten. Gegen die Mehrheitsmeinung der Ökonomen, die vor
2015 finstere Bilder an die Wand warfen. Millionen Arbeitsplätze werde der
Mindestlohn von 8,50 Euro killen, hieß es damals. Bosch hielt dagegen. Und
behielt recht. „Die Einführung des Mindestlohns war ein Waterloo für die
Mainstream-Ökonomen. Denn die Zahl der Arbeitsplätze in den
Niedriglohnbranchen hat sogar zugenommen. Aber keiner hat gesagt: Ich habe
mich geirrt.“
Bosch hat auch den Zoll und Mindestlohnbetrug erforscht und durchleuchtet.
Sein Eindruck: „Die Zöllner, mit denen wir gesprochen haben, sind hoch
engagierte, gut ausgebildete Leute, die ihren Beruf lieben.“ Aber die
Organisation sei zu schwerfällig, habe Doppelstrukturen und zu viele
verschiedene Aufgaben. Und sie sei zu wenig kreativ. Fakt ist: Die
Aufklärungsquote der Finanzkontrolle Schwarzarbeit ist übersichtlich. Auch
wenn man die Zahl der Missbrauchsfälle niedrig schätzt, liegt sie unter 0,5
Prozent.
## Misbrauch gilt nicht als Skandal
Gerhard Bosch hält Kontrollen vor Ort für zu wenig „Der Zoll muss am Kopf
der Missbrauchskette ansetzen, bei den großen Auftraggebern. In den USA ist
das unter Obama geschehen. Die großen Hotelketten wurden auf wirkungsvolle
Kontrollen ihrer Nachunternehmer verpflichtet. Warum trifft der Zoll nicht
mit allen DAX-Unternehmen Vereinbarungen über ein sozialverträgliches
Nachunternehmermanagement? Aber dafür denkt er zu wenig strategisch.“
Wie geht es nun weiter? Man muss kein Prophet sein, um zu vermuten, dass
bei einem Mindestlohn von 12 Euro die Betrügereien eher noch zunehmen. Hohe
Energiepreise, die Inflation – einfach den Lohn zu drücken mag da vielen
als einfache Lösung erscheinen. Die Gefahr, erwischt zu werden, ist gering.
Die drohenden Strafen sind milde. Mindestlohnbetrug ist nur eine
Ordnungswidrigkeit. Und so richtig als Skandal gilt der massenhafte
Missbrauch auch nicht.
„Die Betroffenen haben keine Lobby. Das macht es schwierig, eine größere
Öffentlichkeit herzustellen“, sagt Victor Perli von der Linkspartei, der
seit Jahren versucht, das Thema publik zu machen.
Das Problem ist auch: Arbeitgeber können sich vieles erlauben. Es mangelt
nicht an willigen Arbeitskräften. Beispiel Alexander*, ein Moldawier, seit
2012 in Deutschland, er arbeitet als Zimmermann. Seine Überstunden wurden
von seinem letzten Arbeitgeber zwar notiert, sagt er, für ein
Überstundenkonto wie es hieß, ausgezahlt werde es im Winter, wenn man nicht
arbeiten kann. Als dann aber der Winter kam, sagte sein Chef: „Du kriegst
nichts.“ Und: „Kannst ja gehen, wenn es dir nicht passt. Es gibt genügend
andere, die hier arbeiten wollen.“
Florean, der rumänische Maurer und Kranfahrer, sagt: Wer als gesunder,
nicht zu alter Mann von einer Baustelle fliegt oder selbst hinschmeißt,
braucht keine zwei Wochen, dann hat er einen neuen Job. Allerdings werde
bei dem in der Regel genauso getrickst wie bei dem alten. Arbeitgeber, die
den Lohn korrekt auszahlen und die Stunden ihrer Mitarbeiter richtig
erfassen, kenne er gar nicht, sagt Florean.
## Digitale Erfassung könnte helfen
Dabei gibt es eine Methode, den Betrug wirksam einzudämmen. Sie stand auch
in Hubertus Heils erstem Entwurf des Gesetzes über 12 Euro Mindestlohn: die
digitale Erfassung der Arbeitszeit per App. Dass diese Technik
funktioniert, zeigen Paketboten, deren Arbeit digital überwacht wird.
Eine digitale Erfassung der Arbeitszeit würde Betrug zwar nicht unmöglich
machen, aber es würde schwieriger. Die ArbeitnehmerInnen müssten aktiv
dabei mitmachen. Fälle wie der von Florean hingegen, der zehn Stunden
arbeitet, aber nur für vier verlässlich bezahlt wird, würden rapide
abnehmen. Der Zoll könnte mit Zugriff auf digitale Arbeitszeiten Betrüger
viel effektiver dingfest machen. Doch FDP und Arbeitgeberverbänden gelang
es, diesen Passus aus dem Gesetz zu streichen. Das sei zu aufwendig für die
Arbeitgeber, so das Argument.
Auch jetzt müssen Arbeitgeber in Branchen, die anfällig für
Mindestlohnbetrug sind, die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten
dokumentieren. Aber das geht ohne Unterschrift des Arbeiternehmers und es
kann innerhalb einer Woche nachgetragen werden. Das ist ungefähr so, wie
Diebstahl zu verbieten, aber nur von Montag bis Mittwoch – und jedem, der
trotzdem erwischt wird, eine Woche Zeit zu geben, die Tat zu vertuschen.
Dass es keine fälschungssichere elektronische Arbeitszeitaufzeichnungen
gibt, sagt der Soziologe Bosch, zeige einfach, dass „die Politik nicht
will, dass der Zoll genau kontrollieren kann“.
Und es gibt noch einen Malus, der auf das Konto der FDP geht. Die
monatliche Verdienstgrenze für Minijobs wird zum 1. Oktober von 450 auf 520
Euro angehoben. Derzeit gibt es rund vier Millionen Menschen, die in
Minijobs arbeiten, mal im Geschäft an der Kasse sitzen, in Kneipen
kellnern, in Restaurants in der Küche arbeiten oder im Reinigungsgewerbe.
Genau diese Jobs werden mit der Anhebung auf 520 Euro attraktiver. „Bei der
Hälfte aller Minijobs wird der Mindestlohn aber nicht gezahlt“, sagt Bosch.
Der interne Deal in der Ampel war: Die SPD bekommt 12 Euro Mindestlohn, die
FDP die Minijobs mit 520 Euro. Das Ergebnis hat etwas Paradoxes: Der
Mindestlohn steigt. Und genau der Sektor, in dem er schon jetzt häufig
nicht gezahlt wird, wird noch ausgeweitet. Die Folgen sind absehbar.
Dabei ist der Mindestlohn bisher eine echte Erfolgsgeschichte. Fünf
Millionen Beschäftigte haben so seit 2015 zum Teil kräftige Lohnerhöhungen
bekommen. Die Ungleichheit bei den Einkommen, die lange wuchs, ist sogar
leicht gesunken. Doch 12 Euro, die für Millionen dann doch nur auf dem
Papier stehen, sind keine rosige Perspektive, oder wie Boris sagen würde:
„nicht gut“.
Der Blick über die Grenzen zeigt, dass es anders gehen kann. In den
skandinavischen Ländern ist Lohnbetrug eine Randerscheinung. Dort gibt es
auch in kleinen Betrieben einflussreiche Gewerkschaftsvertreter. In
Deutschland nicht.
* Die Namen der Protagonisten wurden zu ihrem Schutz geändert. Die Namen
sind der Redaktion bekannt
1 Oct 2022
## LINKS
[1] http://www.emwu.org/faire-mobilitaet-hessen2/
[2] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-des-bundesmini…
[3] https://mindestlohnbetrug.de/
## AUTOREN
Sascha Lübbe
Stefan Reinecke
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das reicht.
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