# taz.de -- Krankenversorgung Papierloser: Nur schöner Schein | |
> Das Medibüro Berlin ruft zum Protest gegen die schlechte Umsetzung des | |
> anonymen Krankenscheins auf. Die Gesundheitsverwaltung zieht positive | |
> Bilanz. | |
Bild: Diese Praxis für Asylbewerber*innen ist in Leipzig | |
Wer krank ist, geht zum Arzt. So selbstverständlich der Satz klingt, gilt | |
er doch nicht für alle. Für BerlinerInnen, die nicht krankenversichert | |
sind, Schätzungen sprechen von rund 50.000 Menschen, können Zahnschmerzen | |
oder Rückenleiden zum existenziellen Problem werden. Betroffen sind | |
Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus, EU-BürgerInnen mit ungeklärtem | |
Versicherungsschutz im Heimatland sowie Menschen, die aus Armutsgründen | |
keiner Kasse angehören – etwa weil sie als Soloselbstständige oder | |
RentnerInnen die monatlichen Beiträge nicht stemmen können oder als | |
Wohnungslose bei keinem Amt gemeldet sind. | |
Das Problem ist bekannt, und Gruppen wie das Medibüro Berlin, die auf | |
Ehrenamtsbasis medizinische Versorgung für Nichtversicherte organisieren, | |
fordern seit Jahrzehnten den sogenannten anonymen Krankenschein, den jedeR | |
beim Sozialamt bekommen kann, ohne dass seine/ihre Daten zum Beispiel an | |
die Ausländerbehörde gegeben werden. Mit dem rot-rot-grünen Senat schien | |
endlich eine Lösung in Sicht. Wie im Koalitionsvertrag vereinbart wurde | |
vergangenen Oktober eine „Clearingstelle für nicht versicherte Menschen“ | |
eingerichtet, für 2018 und 2019 jeweils 1,5 Millionen Euro zur Finanzierung | |
eingestellt. | |
Doch nachdem Anfang Juni die zuständige Senatsverwaltung für Gesundheit | |
eine erste – aus ihrer Sicht positive – Bilanz zog, ruft das Medibüro jetzt | |
zum Protest auf. „Die Clearingstelle ist zwar eingerichtet – bis Anfang | |
Juni wurde jedoch kein*e einzige*r Patient*in mit einem anonymisierten | |
Krankenschein behandelt!“, heißt es in einem Aufruf zu Warnstreik, Flashmob | |
und Protest am Weltflüchtlingstag kommenden Donnerstag. | |
Zwar können seit vergangener Woche Menschen ohne Papiere in einigen | |
Arztpraxen und Kliniken Behandlungen bekommen – was auch das Medibüro | |
ausdrücklich begrüßt. Jedoch, kritisiert Jessica Groß, Ärztin und | |
Aktivistin beim Medibüro, gegenüber der taz: „Der Behandlungsschein der | |
Clearingstelle kann erst mal nur bei wenigen kooperierenden Arztpraxen | |
eingelöst werden, bei den Krankenhäusern ist bislang nur die Charité dabei. | |
Von einer flächendeckenden und niederschwelligen Versorgung ist Berlin | |
damit weit entfernt.“ Wünschenswert sei die freie Arztwahl wie bei | |
„Normalversicherten“, die nicht durch einen vorgegebenen Kostenrahmen | |
gedeckelt sei. | |
## Versorgungsnetz soll größer werden | |
Einen solchen „echten“ – gleichwertigen und unbudgetierten – anonymen | |
Krankenschein, wie ihn das Medibüro und andere fordern, gibt es bislang | |
nicht in Deutschland. Recht nahe kommt ihm aber ein Modellprojekt in | |
Thüringen, das seit 2017 läuft. Dort können Bedürftige bei einer | |
Vermittlungsstelle in Jena oder bei Vertrauensärzten, die es in fast allen | |
Landkreisen gibt, einen Krankenschein bekommen, mit dem sie sich dann bei | |
einem Arzt ihrer Wahl behandeln lassen können. Der Haken: Auch dieses | |
Modellprojekt ist finanziell gedeckelt. | |
In die richtige Richtung sei auch ein Modellprojekt in Hannover und | |
Göttingen (Niedersachsen) gegangen, erklärt Groß. Ende 2015 hatte dort die | |
damalige rot-grüne Landesregierung den anonymen Krankenschein eingeführt, | |
der zwar auch aus einem Landesfonds finanziert wurde (also begrenzt war), | |
aber über die Kassenärztliche Vereinigung (KV) abgerechnet wurde. „Das | |
hieß, die PatientInnen konnten zu jedem Arzt gehen, die Ärzte haben ihr | |
Geld dann von der KV bekommen“, so Groß. Die neue rot-schwarze Regierung in | |
Hannover stellte das Projekt allerdings 2018 ein. Die CDU war ohnehin | |
dagegen, die SPD mit der Umsetzung offenbar unzufrieden. | |
Lena Högemann, Sprecherin von Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD), | |
erwidert auf die Kritik: „Eine Vereinbarung mit der Kassenärztlichen | |
Vereinigung, die aktuell in Arbeit ist, wird es künftig ermöglichen, an ein | |
größeres Netz von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten zu vermitteln.“ | |
Auch weitere Krankenhäuser würden bald das Versorgungsnetz vergrößern. Sie | |
verweist zudem auf die gute Bilanz der Arbeit der Clearingstelle, die die | |
Stadtmission in der Lehrter Straße unterhält. Zwischen Anfang Oktober und | |
Ende April seien 320 Menschen beraten worden, die meisten zwischen 39 und | |
45 Jahren alt, es seien aber auch viele RentnerInnen gekommen. 122 Menschen | |
hätten wieder in eine Krankenversicherung vermittelt werden können, für 101 | |
sei ein bestehender Versicherungsschutz ermittelt worden. Bei 75 sei die | |
Klärung, ob Versicherungsschutz besteht, noch offen. | |
Nur bei 22 Personen habe die Prüfung ergeben, dass aktuell keine | |
Leistungsansprüche bestehen. Für einige dieser Fälle seien Ende Mai dann | |
die ersten Kostenübernahmen ausgestellt worden. 46 Prozent der Ratsuchenden | |
seien deutschstämmig, 26 Prozent aus einem EU-Land und 28 Prozent aus | |
Drittstaaten. | |
Was die Kritik am Kostendeckel angeht, sagt Högemann, das Projekt sei eben | |
ein Modellprojekt: „Es ist weder bekannt, wie viele Menschen nicht in eine | |
Versicherung vermittelt werden können, noch welche Kosten für eventuelle | |
Behandlungen entstehen werden. Von daher müssen wir abwarten, wie sich die | |
Dinge entwickeln.“ | |
Hintergrund des Konflikts zwischen Medibüro und Verwaltung sind offenbar | |
unterschiedliche Interessenschwerpunkte. Die Ehrenamtler kümmern sich | |
vorwiegend um Menschen ohne Aufenthaltstitel, sogenannte Papierlose oder | |
Illegalisierte, die naturgemäß keine Versicherung haben, aber einen Arzt | |
brauchen. Beim Senatsprojekt liegt dagegen der Fokus auf dem Clearing: „Das | |
vorrangige Ziel der Stelle ist die Vermittlung in die Regelversorgung“, | |
sagt Högemann. Nur wenn das nicht möglich sei, bekämen die Hilfesuchenden | |
einen Behandlungsschein – wobei die Versorgung von akut Kranken dennoch | |
möglich sei. | |
Bei allen Differenzen in der praktischen Ausgestaltung: Auch das Medibüro | |
findet es „grundsätzlich gut, dass der Senat das Thema endlich umsetzt. Wir | |
wollen ihn ermutigen, da weiter dranzubleiben“, erklärt Aktivistin Groß. | |
Aber die Clearingstelle sei eben nicht so ausgestaltet, dass dadurch die | |
Arbeit des Medibüros überflüssig werde – was eigentlich das politische | |
Ziel der Gruppe sei. „Wir vermitteln nach wie vor Migrant*nnen anonyme und | |
kostenlose Behandlung durch ehrenamtlich arbeitende Ärzte.“ | |
Flashmob, Kundgebung und Performance am Donnerstag, den 20. Juni, um 16 Uhr | |
vor der Senatsverwaltung für Gesundheit, Oranienstr. 106. | |
(Anm.d.Red.: Der Hinweis auf das Modellprojekt in Thüringen wurde dem | |
Artikel am 2.7. nachträglich eingefügt. Mehr Informationen über das dortige | |
System gibt es unter: [1][https://aks-thueringen.de]) | |
18 Jun 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://aks-thueringen.de/wordpress/de/ | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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