| # taz.de -- Stalking unter Nachbarn: Drei Zimmer, Küche, Psychoterror | |
| > Familie Kirchenmayer war glücklich, als sie endlich eine Wohnung gefunden | |
| > hatte. Bis sie Helga Zeller kennenlernte, die unter ihnen wohnte. | |
| Sie waren überglücklich, als sie die Wohnung gefunden hatten. Altbau, drei | |
| Zimmer, genug Platz, um ein Kind großzuziehen. Zentral gelegen zwischen | |
| zwei Parks, ein Shoppingcenter in der Nähe, kleine Cafés, eine Tapasbar. | |
| Ursula und Alexander Kirchenmayer kannten sich erst zehn Monate, da war | |
| sie schwanger geworden. Sie mussten sich schnell entscheiden. Wollten sie | |
| das überhaupt – ein Kind bekommen, eine Familie sein? Sie hätten lieber | |
| mehr Zeit gehabt, sich kennenzulernen, trotzdem entschieden sie sich, beide | |
| Mitte 30, dafür. | |
| Nach einem halben Jahr Suche inserierten sie bei einer Tauschbörse, obwohl | |
| sie sich mit ihren Jobs als Schriftstellerin und freischaffender | |
| Grafikdesigner wenig Chancen ausmalten. Dann bekamen sie ein Angebot in | |
| Berlin-Treptow. | |
| Die Kirchenmayers betraten den Innenhof eines Gründerzeitbaus, | |
| Kirschlorbeerhecken, efeuberankte Wände, ein Sandkasten, über ihnen gurrten | |
| die Tauben, Hinterhaus, 1. Stock. Alice und Simon Petersen öffneten die | |
| Tür, beide Ende 20, sympathisch. Sie erzählten, dass sie sich verkleinern | |
| wollten. Sie hätten hier als WG mit einem Freund zusammengelebt, jetzt | |
| wollten sie mehr Privatsphäre. Auf Nachfrage erklärten die Petersens, die | |
| Nachbarn im Haus seien allesamt nett, nur hier und da werde es mal etwas | |
| lauter. | |
| Kurz vor der Geburt zogen die Kirchenmayers ein. | |
| „Ich schlag dich richtig auf die Fresse, du verdammter, dreckiger Bastard, | |
| warte mal ab, was ich mit dir mache, ich schneide dir richtig die Fresse | |
| jetzt auf.“ – Alexander Kirchenmayer spielt eine Tonaufnahme von seinem | |
| Handy ab. Die Stimme gehört Helga Zeller, einer Nachbarin. Es ist der 27. | |
| November 2018. Der Einzug liegt etwas mehr als ein Jahr zurück, aber die | |
| Wohnung sieht aus, als wäre die Familie nie richtig angekommen. Kisten | |
| stapeln sich, ein Bild lehnt an der Wand. Außer dem Bau der Küche hätten | |
| sie nicht viel geschafft, erzählen sie, während sie am Esstisch sitzen. | |
| ## Die taz hat die Familie mehr als ein Jahr begleitet | |
| Das Paar wirkt abgekämpft und müde. Sie, die Haare zu einem schnellen Zopf | |
| geflochten, er mit Mütze über dem strubbligen Haar. Auf dem Fußboden der | |
| kleine Noah, der zur Steckdose krabbelt, die er nur allzu gerne untersuchen | |
| würde. „Nein, keine Steckdose“, sagen die Eltern an diesem Nachmittag | |
| unzählige Male. Die Geburt, das erste Jahr, das alles ist sowieso schon | |
| anstrengend, doch seit dem Einzug leben die Kirchenmayers im | |
| Ausnahmezustand. Helga Zeller macht ihnen das Leben zur Hölle. | |
| Ein Haus, verschiedene Welten, Tür an Tür. Man arrangiert sich. Ab und zu | |
| nerven wummernde Bässe aus einer Wohnung, klapprige Fahrräder, die nur noch | |
| rumstehen, aber was, wenn es nicht solche Kleinigkeiten sind, sondern | |
| Beleidigungen und Bedrohungen den Alltag belasten? Wie viel muss man | |
| ertragen? Und was wiegt schwerer: die Freiheit einer kranken Frau oder der | |
| Frieden einer Familie? | |
| Die taz hat den Fall der Familie Kirchenmayer länger als ein Jahr | |
| begleitet. Wir haben mit Nachbarn, Opferschutzexperten, einem rechtlichen | |
| Betreuer, Psychiatern und einem Psychiatrieerfahrenen gesprochen und uns | |
| durch Anwaltsschreiben, Akten, E-Mails und Protokolle gelesen. Dies ist die | |
| Rekonstruktion der Geschichte einer Familie und ihrer psychisch kranken | |
| Nachbarin, deren Namen wir zu ihrem Schutz geändert haben. Sie basiert vor | |
| allem auf den Erzählungen der Familie. Wir waren bei den Begegnungen mit | |
| Helga Zeller nicht dabei, nicht alles lässt sich nachträglich überprüfen. | |
| Es war in der ersten Woche nach dem Einzug, als Alexander Kirchenmayer | |
| merkte, dass mit der Wohnung etwas nicht stimmte. Seine hochschwangere | |
| Freundin verbrachte die meiste Zeit in ihrer alten Bleibe in Neukölln, die | |
| sie übergangsweise noch behalten hatten. Alexander Kirchenmayer strich die | |
| Wände und richtete mit einer Kollegin im Wohnzimmer ein provisorisches | |
| Studio ein, um zwischen den Renovierungsarbeiten ein paar Aufträge zu | |
| erledigen. Doch er konnte sich nur schlecht konzentrieren. | |
| Immer wieder habe eine Frau geschrien: „Ich bring dich um!“, und andere | |
| schreckliche Dinge. Es brauchte einen Moment, bis er begriff, dass die | |
| Hasstiraden aus der Wohnung unter ihm kamen. Helga Zeller, 47 Jahre, hatte | |
| sogar im November fast immer die Fenster offen, ihre tiefe, verrauchte | |
| Stimme hallte durch den Innenhof. Kurz dachte er, er müsste die Polizei | |
| rufen. Aber sie waren gerade erst eingezogen, da wollte er nicht gleich den | |
| Hauswart spielen. | |
| Die Vorfälle häuften sich. Nur wenige Tage später bekam Ursula Kirchenmayer | |
| mit, wie Helga Zeller am Fenster telefonierte und von ihrer toten Tochter | |
| sprach. Die Tochter tot! In der Badewanne! „Oh Gott, ich muss Hilfe holen“, | |
| habe Ursula Kirchenmayer gedacht, dann merkte sie, dass an der Geschichte | |
| etwas nicht stimmen konnte. Das Telefonat nahm kein Ende, wie eine Kassette | |
| spulte Helga Zeller immer wieder dieselbe Geschichte ab. Ihre eigene Rolle | |
| darin sollten Ursula Kirchenmayer wenig später verstehen. | |
| Am 22. November 2017 kam Noah auf die Welt. | |
| Drei Wochen später passierte es dann. Die junge Familie hatte die Nacht in | |
| der alten Wohnung in Berlin-Neukölln verbracht und sich am nächsten Morgen | |
| auf den Weg zur neuen Wohnung aufgemacht. „Scheiße, hier ist eingebrochen | |
| worden“, sei sein erster Gedanke gewesen, als sie vor der Wohnungstür | |
| gestanden hätten, erzählt Alexander Kirchenmayer. Ein Schuhabdruck auf | |
| Klingelhöhe, überall auf dem Boden Holzsplitter. „In mir breitete sich | |
| sofort eine gespenstische Ruhe aus“, sagt Ursula Kirchenmayer. „Ich hab | |
| dann gesagt, Alex, schau nach, ob die Computer noch da sind.“ | |
| Es dauerte, bis die Kirchenmayers begriffen, dass die Tür verschlossen war. | |
| Rechts unten war ein Loch in die Tür getreten. Wer macht so etwas? Das Paar | |
| klingelte bei den Nachbarn, irgendwer musste doch etwas mitbekommen haben. | |
| Eine Familie aus dem 3. Stock reagierte wenig überrascht. „Das war Helga | |
| Zeller“, hörten sie, die habe wieder mal einen ihrer psychotischen Schübe | |
| gehabt und sei durchs Treppenhaus gewütet. Die Nachbarn waren erstaunt, | |
| dass sie noch gar nichts über Helga Zeller gehört hätten. | |
| Zurück in der Wohnung riefen sie die Polizei. Da polterte es auch schon die | |
| Treppe hoch. Alexander Kirchenmayer öffnete die Tür und blickte in Helga | |
| Zellers wutentbranntes Gesicht. Sie schien außer sich, schimpfte wirres | |
| Zeug und fuchtelte herum. „Ihr habt meine Kinder vergewaltigt“, habe sie | |
| geschrien, „lasst sofort meine Kinder frei!“ Er habe versucht, sie zu | |
| beruhigen, erzählt Alexander Kirchenmayer, und gesagt: „Wir haben deine | |
| Kinder nicht.“ Doch Helga Zeller ließ sich nicht beruhigen. | |
| Irgendwann kam auch Fritz Heske dazu, Helga Zellers bester Freund, mit dem | |
| sie Tag und Nacht zusammenhockte. Er wollte schlichten. „Ich geh da jetzt | |
| rein“, habe er gesagt. Erst wollten die Kirchenmayers ihn stoppen, dann | |
| ließen sie ihn gewähren, und ein seltsames Schauspiel begann. Fritz Heske, | |
| dessen Name zu seinem Schutz geändert wurde, durchkämmte die Wohnung nach | |
| gekidnappten Kindern. Und dann rief er etwas zu seiner besten Freundin | |
| heraus, was die Familie im Nachhinein schwer beeindruckte. „Die haben nicht | |
| mal eine Badewanne“, rief er, obwohl das gar nicht stimmte. Die | |
| Kirchenmayers hatten eine Wanne, sie stand groß und nicht zu übersehen in | |
| einer Ecke des Bads. | |
| Am gleichen Tag rief Alexander Kirchenmayer die Vormieter an. „Erzählt mir | |
| nicht, dass ihr nichts davon gewusst habt“, schrie er ins Telefon. „Wollt | |
| ihr uns eigentlich verarschen?“ | |
| ## Erst lief alles gut, dann flippte Helga Zeller aus | |
| 11. Dezember 2018. Die Vormieter, Alice und Simon Petersen, nehmen sich | |
| Zeit, die Geschichte der taz zu erzählen. Sie sitzen in ihrem Wohnzimmer in | |
| Berlin-Friedrichshain, in dem vor dem Wohnungstausch noch Alexander | |
| Kirchenmayer lebte. Acrylfarben auf einem Schreibtisch, drei E-Gitarren in | |
| der Ecke, eine Weltkugel, die zugleich eine Schnapsbar ist. | |
| Sie studiert noch, er ist gerade fertig geworden. Mit dem Gespräch wollen | |
| sie Ursula und Alexander Kirchenmayer einen Gefallen tun, haben aber zur | |
| Bedingung gemacht, dass nicht ihr richtiger Name genannt wird. „Ich habe | |
| die Sache völlig falsch eingeschätzt“, sagt er. „Ich dachte, Helga Zeller | |
| hätte es nur auf mich abgesehen.“ | |
| Als Alice und Simon Petersen im Januar 2015 in die Treptower Wohnung zogen, | |
| lief zweieinhalb Jahre alles gut. Sie hatten zwar schnell bemerkt, dass | |
| unter ihnen ein paar Kiffer wohnten, die gerne HipHop hörten und feierten, | |
| aber sie waren ja selber jung, und so etwas gehörte für sie zu Berlin. | |
| Helga Zeller habe sich gleich vorgestellt, sagen sie. Man lebte friedlich | |
| nebeneinanderher. Dass Helga Zeller öfter mal komische Storys erzählte, | |
| über Einbrüche und darüber, dass sie im Gefängnis war, fanden sie nicht | |
| weiter schlimm. Einmal lud sie Alice Petersen zu sich in die Wohnung ein. | |
| „Es war sehr unordentlich und hat stark nach Kiffe gerochen“, erinnert sie | |
| sich. „Und dann erzählte sie mir, dass sie mal mit Til Schweiger zusammen | |
| war.“ | |
| In einer Nacht im Juli 2017 aber sei Helga Zeller ausgeflippt. Sie sei | |
| durchs Treppenhaus gedonnert, habe „Frau Schmidt, ich bring dich um!“ | |
| geschrien, dann im Innenhof vor einem Auto gestanden, gebrüllt, dass es | |
| Frau Schmidts Auto sei, ein Messer gezückt und die Reifen aufgeschlitzt. Am | |
| nächsten Morgen habe es bei den Petersens geklingelt. Die Polizei sei da | |
| gewesen. | |
| Helga Zeller hätte sie gerufen mit der Begründung, dass Frau Schmidt in | |
| ihrer Wohnung sei. Wochen später habe Helga Zeller dann herumgebrüllt, dass | |
| Frau Schmidt ihre Kinder zu den Petersens in die Wohnung gebracht habe, | |
| „damit ich sie ficken kann und so etwas“, sagt Simon Petersen und schüttelt | |
| sich. Wer diese Frau Schmidt war, wissen sie bis heute nicht. | |
| Nach dem Vorfall erfuhren sie, was es mit der Kindergeschichte auf sich | |
| hat. Fritz Heske, der immer wieder versucht habe, zwischen seiner besten | |
| Freundin und den Nachbarn zu vermitteln, erzählte ihnen, dass Helga Zeller | |
| ein Mädchen und einen Jungen habe, die aber angeblich schon lange bei ihrem | |
| Vater in Stuttgart lebten. Als ihr das Sorgerecht entzogen worden sei, habe | |
| sie das aus der Bahn geworfen. | |
| Nach der Nacht mit den zerstochenen Reifen war Simon Petersen ins Visier | |
| ihrer Wahnvorstellungen geraten. Er rauchte gerne am Fenster im Bad. Immer | |
| wenn sie ihn dort stehen sah, rastete sie aus. „Du Hurensohn, du fickst | |
| meine Tochter!“, habe sie gebrüllt. Irgendwann seien dann auch | |
| Morddrohungen gefallen: „Ich stech dich ab.“ | |
| Bei der Hausverwaltung seien die Petersens auf Desinteresse gestoßen. „Ich | |
| sollte anrufen, wenn so etwas noch mal passiert. Das war’s.“ Auch die | |
| Polizei, die sie mehrfach riefen, habe gleichgültig reagiert. Sie habe zwar | |
| seine Strafanzeigen aufgenommen, sei ansonsten aber tatenlos geblieben. | |
| „Hat sie denn jemanden angegriffen oder angekündigt, dass sie sich | |
| umbringen will?“, hätten sie gefragt, und da Simon Petersen das verneinte, | |
| seien die Polizisten wieder gegangen. | |
| ## Für die Polizei nur Sachbeschädigung | |
| „Wollt ihr uns eigentlich verarschen?“ – Als Alexander Kirchenmayer ihn am | |
| Telefon anbrüllte, hatte Simon Petersen das Gefühl, dass sich seine | |
| Geschichte wiederholte. Er und seine Freundin schrieben einen achtseitigen | |
| Entschuldigungsbrief an die Kirchenmayers und versprachen, ihnen bei der | |
| Suche nach Hilfe zur Seite zu stehen. Sie boten sogar an, den | |
| Wohnungstausch rückgängig zu machen. | |
| Doch die Kirchenmayers wollten die Wohnung behalten. Sie brauchten mit Noah | |
| mehr Platz, außerdem hatten sie schon so viel Arbeit investiert, Wände | |
| gestrichen, Möbel geschleppt, jetzt waren sie mitten im Küchenbau. Der | |
| Wille durchzuhalten war stärker als ihr Fluchtreflex. „Ich bin jemand, der | |
| nicht so schnell aufgibt“, sagt Alexander Kirchenmayer. | |
| Auch bei den Kirchenmayers kam nach der eingetretenen Tür die Polizei. Für | |
| die Beamten lag nur Sachbeschädigung vor, sonderlich verständnisvoll | |
| wirkten sie nicht: „Wissen Sie, wie viele eingetretene Türen es gibt?“, | |
| hätten sie gefragt. Erst auf Ursula Kirchenmayers Drängen hin nahmen sie | |
| eine Anzeige wegen Bedrohung auf. | |
| Die Kirchenmayers waren optimistisch, dass ihnen geholfen wird. Sie hatten | |
| Helga Zeller ja nichts getan, waren in der Anfangszeit sogar mehrfach auf | |
| sie zugegangen, um sie kennenzulernen und die Situation zu beruhigen, doch | |
| jede dieser Begegnungen hatte das Ganze schlimmer gemacht. Einmal hätte | |
| Helga Zeller „Buh!“ gerufen und sei weggerannt, ein anderes Mal habe sie | |
| Ursula Kirchenmayer gefragt: „Ist da ein echtes Baby drin?“, und dann, ohne | |
| zu fragen, ihren Bauch angefasst. Helga Zellers Fixierung auf Kinder, ob es | |
| nun die eigenen oder fremde waren, mache ihr bis heute die größte Angst, | |
| sagt Ursula Kirchenmayer. | |
| Sie waren angegriffen worden, jetzt wollten sie beschützt werden, und wenn | |
| das nicht klappte, dann sollte Helga Zeller ausziehen. | |
| Sie fanden heraus, dass Helga Zeller einen rechtlichen Betreuer hat, und | |
| riefen ihn an. Er teilte ihnen mit, dass er Helga Zeller wegen ihres | |
| psychotischen Verhaltens bereits mehrfach mit gerichtlicher Genehmigung in | |
| die Psychiatrie eingewiesen habe. Der Betreuer verwies sie an den | |
| Sozialpsychiatrischen Dienst, zuständig für die Krisenintervention bei | |
| psychisch Kranken. Das Gespräch mit der zuständigen Sozialarbeiterin sei | |
| ernüchternd gewesen, sagt Alexander Kirchenmayer. 15 Minuten habe sie | |
| erklärt, dass das Recht auf Selbstbestimmung schwerer wiege als ihre | |
| Sicherheit. | |
| Sie suchten die Hausverwaltung auf. Waren die Nöte der Vormieter noch | |
| weitgehend ignoriert worden, ging es nach der eingetretenen Tür mit der | |
| fristlosen Kündigung schnell. Doch die Hausverwaltung bremste sie in ihrer | |
| Erleichterung: So etwas könne Monate, wenn nicht Jahre dauern. | |
| Sie fuhren zur Polizei, um ihre Anzeigen zu wiederholen. Der Beamte zeigte | |
| Mitgefühl. „Oh Gott, Sie sind arm dran“, habe er gesagt, Helga Zeller sei | |
| bekannt, ihre Liste an Straftaten lang, in den letzten 15 Jahren habe sie | |
| schon fast überall in Berlin gewohnt. | |
| Nur einen Tag später folgte das nächste Drama. Fritz Heske ging zur Polizei | |
| und sagte aus, Helga Zeller habe ihn mit einem Messer angegriffen. Nun | |
| schritt der Staat ein. Ursula und Alexander Kirchenmayer standen am Fenster | |
| und sahen zu, wie eine Mitarbeiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes | |
| samt Polizisten und Sanitätern in den Innenhof kam. „Ich habe gehört, wie | |
| die Stimmen unter uns immer lauter wurden, dann ein spitzer Schrei“, sagt | |
| sie. | |
| Dann sahen sie, wie Helga Zeller bäuchlings auf einer Trage abtransportiert | |
| wurde. Es klingelte. Vor der Tür stand ein Polizist. „Freuen Sie sich nicht | |
| zu früh“, habe er gesagt, „die ist in ein paar Wochen wieder da.“ Und da… | |
| habe er etwas gesagt, das den Kirchenmayers seitdem nicht mehr aus dem Kopf | |
| geht: „Bei solchen Menschen hofft der Staat, sie bringen sich um.“ | |
| Drei Monate später war Helga Zeller wieder da. Sie hatte zugenommen und | |
| lief teilnahmslos in der Gegend rum. „Sie benahm sich wie ein Zombie“, sagt | |
| Alexander Kirchenmayer. In diesem Moment tat sie ihnen fast leid. | |
| Dann aber wurde sie langsam wieder die Alte. Vermutlich, weil sie ihre | |
| Medikamente abgesetzt gehabt habe, sagen die Kirchenmayers. Die | |
| Räumungsklage lief schon, die Hausverwaltung hatte ihnen aufgetragen, ein | |
| Lärmprotokoll zu führen. Vom 20. April bis zum 5. Juli 2018 dokumentierten | |
| sie jeden Tag, was sich im Dunstkreis von Helga Zeller abspielte, zum | |
| Beispiel im Juni: | |
| Sonntag, 3. Juni7:41 UhrImmer noch starker Grasgeruch11:33 UhrImmer noch | |
| extremer Grasgeruch, lüften weiter unmöglich13:30 Uhr–13:53 | |
| UhrRückfall/Helga Zeller; redet ununterbrochen, u. a. von ihren Kindern | |
| …„Meine Tochter ist da oben unter Wasser … Von den Nachbarn hilft dir | |
| keiner, kannst du alle vergessen …“[Nachmittag: Wir nicht zu Hause]21:21 | |
| UhrHeftiger Grasgeruch überall, auch im Kinderzimmer!!!(…) | |
| Freitag, 22. JuniAnkunft in Berlin gegen 21:20 Uhr23:10–23:25 UhrHelga | |
| Zeller schreit rum, irgendwas von ihrer Tochter. Dann: „Fick sie, die | |
| dreckige Hure da oben … Dann fick ich sein Kind da oben in den Arsch … Sie | |
| haben meine Tochter gefickt … Das ist doch der Wahnsinn, was da oben ist …�… | |
| Jemand sagt was, sie antwortet: „Sind die zu Hause?“ – „Ja“ – „Ah | |
| gut.“Laute HipHop-Musik | |
| Helga Zeller war selten alleine. Außer mit Fritz Heske saß sie ständig mit | |
| einem mutmaßlichen Drogendealer namens Said und seiner Freundin zusammen. | |
| Sie kifften, grölten, hörten 187 Straßenbande, Gangsta-Rapper aus Hamburg, | |
| und feierten manchmal nächtelang. Die Kirchenmayers vermuteten, dass Said | |
| die Wohnung als Drogenlager benutzte. „Sie ist schuldunfähig, da wäre es | |
| natürlich praktisch, die Drogen bei ihr zu verstauen.“ Das sei auch deshalb | |
| naheliegend, weil der Görlitzer Park in der Nähe liege, wo im großen Stil | |
| mit Drogen gehandelt werde. | |
| „Dann fick ich sein Kind da oben in den Arsch“ – als sie diesen Satz | |
| hörten, bekamen die Kirchenmayers es noch stärker mit der Angst zu tun. | |
| Längst hatten sich ein Teufelskreis aus Wahnvorstellungen im Erdgeschoss | |
| und Katastrophenfantasien im ersten Stock entwickelt. Wenn Noah weinte, | |
| fing Helga Zeller an zu toben, und wenn Helga Zeller tobte, geriet die | |
| Familie in Panik. | |
| Irgendwann nahmen sie ein Holzbrett, das beim Küchenbau übrig geblieben | |
| war, und schraubten es vor dem Zubettgehen vor die Tür. Für den Fall, dass | |
| Helga Zeller trotzdem zu ihnen vordringen sollte, hatten sie, beide geübte | |
| Kletterer, ein Seil an den Heizkörper gebunden, mit dem sie sich im Notfall | |
| in den Hof abseilen wollten. | |
| Zwei Monate nach dem Gerichtsurteil wurde Helga Zellers Wohnung geräumt. | |
| Die Kirchenmayers waren nicht zu Hause, aber man erzählte ihnen, dass Helga | |
| Zeller, Fritz Heske und die anderen widerstandslos und ohne einen einzigen | |
| Rucksack aus der Wohnung marschiert seien. Es verging kaum Zeit, da waren | |
| sie schon wieder da. Sie hatten die Fenster aufgebrochen und waren einfach | |
| wieder eingestiegen. Zwei Tage später jedoch kam die Berliner | |
| Stadtreinigung und nahm alle Habseligkeiten mit, die Hausverwaltung | |
| versiegelte die Fenster. | |
| Seitdem sitzt Helga Zeller auf der Straße. Sie kam zunächst in einem | |
| Obdachlosenheim in Neukölln unter, das ihr rechtlicher Betreuer ihr besorgt | |
| hatte. | |
| ## Von einem Wohnheim ins nächste | |
| Auf Anfrage lädt er in seine Neuköllner Kanzlei ein. Rolf-Reiner Stanke ist | |
| ein freundlicher Mann, der Berliner Dialekt spricht und eine Drachenkette | |
| um den Hals trägt. Er ist von Haus aus Strafrechtler und auf die rechtliche | |
| Betreuung von psychisch kranken Menschen spezialisiert. | |
| Zu Helga Zeller kann er nichts sagen, es besteht die gesetzliche | |
| Schweigepflicht. Deshalb spricht er allgemein, erzählt von | |
| traumatisierenden Kindheitserlebnissen, die die Betroffenen von Psychosen | |
| oft in ihre Wahnvorstellungen einbeziehen, und von seinem Wunsch nach | |
| niedrigschwelligen Hilfsangeboten auch für Menschen ohne | |
| Krankheitseinsicht. | |
| Gerade für psychisch Kranke sei die Wohnungslosigkeit eine Tragödie. Wenn | |
| jemand in dieser Verfassung seine Wohnung verliere, komme er in ein | |
| Obdachlosenasyl. „Wird dann jemand auffällig, fliegt er raus. Dann geht es | |
| meist von einem Wohnheim zum nächsten.“ Und dies führe wiederum dazu, dass | |
| das feste Hilfesystem oft verloren geht. | |
| Nachdem Helga Zeller geräumt worden war, entschied Familie Kirchenmayer, | |
| noch ein paar Tage abzuwarten, bis sich die Lage zu Hause wieder beruhigt | |
| hätte. Alexander Kirchenmayer kehrte als Erster in die Treptower Wohnung | |
| zurück. Kaum saß er in der Küche und bastelte an einem Beamer herum, hörte | |
| er lautes Grölen. Als er aus dem Fenster blickte, sah er, dass Helga Zeller | |
| und Fritz Heske wieder da waren. Beide standen bei den Mülltonnen und | |
| starrten zu ihm hoch. Alexander Kirchenmayer hörte Helga Zeller sagen: | |
| „Okay, die Fenster sind schon mal offen …“ | |
| Von da an habe Helga Zeller ständig Kirchenmayers Wohnung observiert, mal | |
| allein, mal mit Freunden, mal machte sie Fotos, mal stierte sie bloß | |
| herauf. Einmal hatte er so große Angst, dass er einen Freund anrief, der | |
| ihn dann besuchen kam. „Mit der Zeit wird man paranoid.“ | |
| Aus der Nachbarin Helga Zeller war die Stalkerin Helga Zeller geworden, die | |
| gegen Mülltonnen trat und brüllte – „Zeig dich, du dreckige Hure!“, „… | |
| Freundin, ich nehm sie dir weg!“ – und den Nachbarn erzählte, sie werde die | |
| Kirchenmayers umbringen. | |
| Die Familie beantragte ein Näherungsverbot nach dem Gewaltschutzgesetz. Das | |
| Amtsgericht legte den Kirchenmayers nahe, den Antrag auf einstweilige | |
| Verfügung zurückzunehmen, da Helga Zeller aufgrund ihrer Psychose nicht | |
| verfahrensfähig sei. Sie ließen das Verfahren laufen. | |
| Helga Zeller rief die Polizei, weil die Kirchenmayers angeblich ihre Kinder | |
| vergewaltigen. | |
| Anrufe beim Sozialpsychiatrischen Dienst schlugen fehl. Da Helga Zeller den | |
| Bezirk gewechselt hatte, war nun die Niederlassung in Neukölln für sie | |
| zuständig. Als die Familie sich dort meldete, erfuhr sie, dass Helga | |
| Zellers Akte nicht weitergeleitet worden sei. „Die Frau hat doch noch gar | |
| nichts gemacht“, habe eine Mitarbeiterin am Telefon gesagt, Ursula und | |
| Alexander Kirchenmayer waren sprachlos. | |
| Die Verwaltung arbeitet langsam, viel zu langsam, wenn man um seine | |
| körperliche Unversehrtheit bangt. Durch einen glücklichen Zufall wurde | |
| ihnen eine Wohnung in Friedrichshain angeboten, kleiner, teurer, aber | |
| immerhin. | |
| Es sind vor allem Hilflosigkeit und Unverständnis, die nach dieser | |
| Geschichte bleiben. „In bestimmten Situationen bist du völlig auf dich | |
| allein gestellt“, sagt Alexander Kirchenmayer. Das Paar versteht bis heute | |
| nicht, warum weder ihnen noch Helga Zeller geholfen werden konnte. | |
| Es gibt Menschen, das wird in den Gesprächen mit einem Psychiater, dem | |
| Landesbeauftragten für Psychiatrie und der Beratungsstelle Stop-Stalking | |
| deutlich, bei denen das sozialpsychiatrische Hilfesystem nicht greift. Es | |
| sind Menschen wie Helga Zeller, die an einer schweren psychischen | |
| Erkrankung leiden, das aber nicht wahrhaben wollen. Agieren sie akut | |
| selbst- oder fremdgefährdend, können sie kurzfristig in eine | |
| psychiatrische Einrichtung eingewiesen werden, doch sobald die akute | |
| Bedrohung vorbei ist, gelten die Freiheitsrechte des Individuums. | |
| Und zu diesen Freiheitsrechten gehört, dass jeder für sich selbst | |
| entscheiden kann, ob er Hilfe annehmen möchte oder nicht. Ob er Medikamente | |
| einnehmen will, einen Sozialarbeiter akzeptiert, der nach ihm sieht, oder | |
| in eine Einrichtung für betreutes Wohnen zieht. Wer das nicht will, den | |
| kann der Staat nicht dazu zwingen. Es ist der Spagat zwischen dem Recht auf | |
| Selbstbestimmung und den Interessen der Umgebung, den eine Gesellschaft | |
| aushalten muss. Denn was wäre die Alternative? | |
| Eine Sache lasse sie nicht los, sagt Ursula Kirchenmayer. Während sie ihre | |
| Zukunft planen können und eine Perspektive haben, befindet sich Helga | |
| Zeller in einer ausweglosen Situation. Das sei bitter, sagt sie. | |
| Die taz hat sich nach Rücksprachen mit Experten dazu entschlossen, Helga | |
| Zeller nicht zu konfrontieren. Eine Konfrontation könnte sie noch tiefer in | |
| ihren Wahn treiben, befürchten wir. Dadurch bleibt in diesem Text eine | |
| Unwucht: Durch all die Geschichten von den Kirchenmayers, den Vormietern | |
| und den Nachbarn ist Helga Zeller zu einem Gespenst geworden, beinahe | |
| virtuell. | |
| Das Ermittlungsverfahren gegen Helga Zeller wegen Beleidigung und | |
| Nachstellung wird am 12. Februar 2019 wegen ihrer Schuldunfähigkeit | |
| eingestellt. | |
| Im Sommer 2019 stellt der Sozialpsychiatrische Dienst Neukölln seinen | |
| Krisen- und Notdienst wegen Personalmangels ein und hat ihn bis heute nicht | |
| wieder aufgenommen. | |
| Ursula Kirchenmayer verarbeitet die Erlebnisse literarisch. Das Geschehene | |
| habe sie und ihren Freund zusammengeschweißt, sagt sie. Sie erwarten ein | |
| zweites Kind. In Friedrichshain konnten sie nie Fuß fassen. Immer wieder | |
| dachten sie, Helga Zeller erkannt zu haben, doch dann war es jemand | |
| anderes. Vor Kurzem sind sie in die Nähe seiner Eltern nach Bayern gezogen. | |
| Stattdessen wird jetzt Olga Lystsova heimgesucht. Sie war im Sommer 2019 | |
| unwissend in Helga Zellers ehemalige Wohnung im Erdgeschoss gezogen. Ein | |
| paar Wochen später versuchte Helga Zeller, durchs offene Fenster bei ihr | |
| einzusteigen. Mit einem Bein war sie schon drin, da bellte Lystsovas Hund, | |
| sie eilte zum Fenster und schubste sie raus. Eine Zeit lang kam Helga | |
| Zeller fast jede Nacht, schlief auf der Bank im Hof, schrie und klopfte an | |
| ihr Fenster. „Das war der totale Horror“, sagt Olga Lystsova. Sie packte | |
| ihre Sachen und zog für mehrere Wochen zu ihrer Tochter. | |
| Seit Anfang des Jahres ist es vorbei. Helga Zeller ist nicht wieder | |
| aufgetaucht. Nur manchmal klingelt jemand und fragt nach ihr. | |
| 8 Feb 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Fastabend | |
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