| # taz.de -- Zwangsräumung in Hannover: Zwiespältiger Protest | |
| > Ist es richtig, gegen die Zwangsräumung von Eldin S. und seiner | |
| > 9-jährigen Tochter zu protestieren? Bei der Anti-Räumungs-Aktion kommen | |
| > Zweifel auf. | |
| Bild: Zwangsräumungsprotest mit Fragezeichen: Wer ist eigentlich Opfer – und… | |
| Hannover taz | Eldin S. wippt nervös mit dem Fuß. Er steht vor der | |
| Metalltreppe, die an der Hausfassade zu seiner Wohnung in den ersten Stock | |
| führt und streicht sich mit der Hand über die kurzrasierten Haare. Der | |
| 28-Jährige alleinerziehende Vater aus Hannover hat gerade einen Entschluss | |
| gefasst. Er will sein Zuhause und das seiner 9-jährigen Tochter nicht | |
| widerstandslos verlassen. Hinter ihm, auf der Treppe, sitzen rund 20 | |
| Aktivist*innen. Auch sie haben einen Entschluss gefasst. Sie wollen S. bei | |
| seinem Protest gegen die Zwangsräumung, die ihm gleich bevorsteht, | |
| unterstützen – auch wenn sein Fall viel weniger eindeutig ist als es | |
| anfangs schien. | |
| Der Grund für die Kündigung ist Streit in der Nachbarschaft. S. sieht sich | |
| selbst als Opfer. „Ich habe denen nichts getan“, sagt er und blickt die | |
| Straße entlang. Das Quartier liegt hinter einer viel befahrenen Straße in | |
| einem Industriegebiet. Der Verkehrslärm wird von einem großen Häuserblock | |
| abgeschirmt. Hier sind kleinere Wohneinheiten, viele Sozialwohnungen, ein | |
| bisschen Grün. Das weiße Mehrfamilienhaus, in dem S. lebt, hat blaue | |
| Holzfenster. | |
| Vor zwei oder drei Jahren habe der Ärger angefangen. „Grundlos“, sagt S., | |
| der in einer Winterjacke samt falschem Pelzkragen in der Sonne steht. | |
| Nachbarn hätten ihn vor den Augen seiner Tochter mit einem Messer | |
| angegriffen und beleidigt. Das glaube ihm aber niemand. „Ich sage nicht, | |
| dass ich ein Engel bin, aber ich habe hier niemandem etwas getan.“ | |
| Neben S. steht Anna. Eine 29-Jährige mit goldenen Ringen in der Nase und | |
| Leoparden-Look-Hose. Die Aktivistin [1][vom solidarischen Kiezkollektiv] | |
| will ihren richtigen Namen nicht nennen. „Wir können das nicht von außen | |
| beurteilen“, sagt sie. Es sei jedenfalls keine Lösung, Menschen einfach | |
| woanders hinzusetzen, wenn es Probleme gebe. | |
| Das Amtsgericht Hannover hat entschieden, dass S. ausziehen muss. Vermieter | |
| ist das städtische Wohnungsunternehmen Hanova. Der 28-Jährige S. ist | |
| arbeitslos. Er wohnt seit sieben Jahren in der Drei-Zimmer-Wohnung und | |
| kümmert sich um seine Tochter. Gerade ist sie in der Schule und bekommt | |
| nicht mit, wie sich die Polizist*innen vor dem Haus für die Räumung bereit | |
| machen. | |
| Die Wohnung sei S. wegen Beleidigung und Bedrohungen gegen Nachbar*innen | |
| gekündigt worden, sagt ein Sprecher des Amtsgerichts auf Anfrage der taz. | |
| Es habe eine „nachhaltige Störung des Hausfriedens“ gegeben. Die Polizei | |
| bestätigt, dass es mehrfach Einsätze an dem Haus gegeben hat. | |
| Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) vermietet in direkter Nachbarschaft | |
| Jugendhilfewohnungen an junge, alleinerziehende Mütter. „Die wurden massiv | |
| belästigt“, sagt Ursula Schroers vom Wohnungsunternehmen Hanova. Die | |
| Zwangsräumung sei nicht nur rechtens, sondern auch notwendig, um andere | |
| Mieter zu schützen. „Es geht hier nicht um Kleinigkeiten.“ | |
| Das Büro der AWO-Jugendhilfeeinrichtung ist nur ein paar Türen weiter. „Es | |
| gab diverse Beschwerden gegen ihn“, sagt Tanja Holzheimer, die Leiterin. | |
| „Er hat Schimpfworte benutzt, die alle mit F anfangen.“ Zudem sei der | |
| gebürtige Bosnier den Hitlergruß zeigend, johlend durch die Siedlung | |
| gerannt. S. bestreitet das. „Das ist deren Masche. Die wollen mich | |
| rauskicken und suchen dafür Gründe“, sagt er. „Ich bedrohe aber nicht | |
| irgendwelche Leute.“ | |
| Für Anna ändern die konkreten Vorwürfe aber etwas an der Lage. Sie steht | |
| neben dem 28-Jährigen und diskutiert ihren Zwiespalt mit ihm: „Wenn das | |
| stimmen würde, würden wir dich nicht unterstützen und uns mit den Frauen | |
| solidarisieren“, sagt sie. „Ein bisschen schwer vorzustellen, dass da gar | |
| nichts dran ist“, sagt auch Arthur vom Kiezkollektiv. „Ihr habt ein völlig | |
| falsches Bild von mir“, sagt S. „Ich hab nichts gegen Frauen.“ | |
| Anna schlüpft unter dem orangenen Transparent mit der Aufschrift „Wohnraum | |
| ist keine Ware“ hindurch, um sich mit den anderen Aktivist*innen zu | |
| besprechen. „Es geht uns darum, dass Zwangsräumungen grundsätzlich scheiße | |
| sind“, sagt einer. Natürlich gebe es hier Probleme. „Aber es soll ein Vater | |
| mit seinem Kind geräumt werden.“ Nur das sei wichtig. | |
| Sie bleiben sitzen. Es geht ihnen auch um die weitere Unterbringung der | |
| Familie. Als Unterkunft nach der Räumung sei S. vom Wohnungsamt nur ein | |
| Container, keine richtige Wohnung angeboten worden. „Unser Ziel ist nicht, | |
| dass er hier ewig bleibt, aber der Container ist zu klein für die zwei“, | |
| sagt Arthur. „Mit der Aktion wollen wir versuchen, Druck auszuüben, damit | |
| er eine Wohnung bekommt.“ | |
| Noch gibt es Hoffnung, dass die Polizei die Räumung abbricht und S. Zeit | |
| gewinnt. Die vier Möbelpacker sind schon vor einer Weile wieder gefahren. | |
| S. sagt, dass er am Tag zuvor beim Landgericht eine Beschwerde dagegen | |
| eingereicht habe, dass sein Räumungsschutzantrag abgelehnt wurde. Das | |
| Verfahren wäre damit noch nicht abgeschlossen. „Beim Landgericht liegt | |
| nichts vor“, sagt ihm jedoch ein Polizist. S. hat sich den Eingang der | |
| Beschwerde nicht quittieren lassen. | |
| Damit ist die letzte Hoffnung dahin. S. atmet tief durch und macht den | |
| Rücken gerade. Neben ihm steht Anna mit einem roten Stoppschild in der | |
| Hand. Ein Polizist spricht einen Platzverweis aus. „Verlassen Sie dieses | |
| Grundstück“, sagt er. Keiner rührt sich. Dann beginnen die Beamt*innen die | |
| Räumung. Jeweils zu zweit tragen sie den 28-Jährigen und die Aktivist*innen | |
| weg. Die machen sich schwer und lassen sich ziehen. Alles bleibt friedlich. | |
| Ein Mann vom Schlüsseldienst soll nun die Tür aufbrechen. Er versucht es | |
| mit einer Bohrmaschine und einem Schraubenschlüssel, dann mit Hammer und | |
| Brecheisen. Er schwitzt. Das Holz des Türrahmens splittert. Dann schlägt er | |
| die Scheibe ein – und klopft auf Holz. Die Wohnungstür ist verbarrikadiert. | |
| Das kann dauern. | |
| S. steht noch eine Weile bei den Aktivist*innen, dann geht er zur | |
| Straßenbahn. Er will seine Tochter von der Schule abholen. Ihm graust | |
| davor, in einem Container zu leben. Heute Nacht können sie bei einem Cousin | |
| schlafen, aber wie es danach weitergehen soll, wisse er nicht. Die | |
| Wohnungssuche in Hannover sei schwierig. „Das ist kein Leben für mich und | |
| meine Tochter“, sagt er. „Das ist nicht menschlich.“ | |
| 21 Sep 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://kiezkollektiv.blogsport.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Andrea Maestro | |
| ## TAGS | |
| Zwangsräumung | |
| Hannover | |
| Alleinerziehende | |
| Hitlergruß | |
| Awo | |
| Belästigung | |
| Stalking | |
| Zwangsräumung | |
| Mieten | |
| Jobcenter | |
| Zwangsräumung | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Stalking unter Nachbarn: Drei Zimmer, Küche, Psychoterror | |
| Familie Kirchenmayer war glücklich, als sie endlich eine Wohnung gefunden | |
| hatte. Bis sie Helga Zeller kennenlernte, die unter ihnen wohnte. | |
| Zwangsräumungen in Bremen: „Jede Räumung ist eine zu viel“ | |
| Linke AktivistInnen verhindern in Vegesack die Zwangsräumung eines Mieters. | |
| Sie möchten auf das Gesamtproblem aufmerksam machen. | |
| Räumung beim 2. Versuch: „Eindeutig rechtswidrig“ | |
| Eine Lichtenberger Familie wird ohne vorherige Ankündigung geräumt. Das sei | |
| unzulässig, sagen Experten. | |
| Schuldlos wohnungslos: Räumung wegen Jobcenter | |
| Das Jobcenter Bremen stellte widerrechtlich die Mietzahlungen für die Hartz | |
| IV-Empfängerin Jolanda D. ein. Nun soll ihre Wohnung geräumt werden | |
| Zwangsräumung mit Folgen: Aus der Wohnung in die Tiefe gerissen | |
| Tatjana Schulepa und Edin Osmanovic haben ihre Wohnung in Hannover | |
| verloren. Die junge Mutter hat danach versucht, sich das Leben zu nehmen. |