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# taz.de -- Psychische Erkrankungen: Weihnachtsgans for One
> Die Nachfrage nach psychiatrischen Angeboten steigt. Die
> Weihnachtsfeiertage stellen für viele eine zusätzliche Belastung dar.
Bild: Wenn um einen herum alle gemeinsam feiern: Das Gefühl des Alleinseins ka…
Berlin taz | Die Auswirkungen der Pandemie, steigende Kosten durch
Inflation, die Angst vor einer Ausweitung des Ukraine-Krieges, der Angriff
der Hamas auf Israel: Für viele Menschen stellen die anhaltenden Krisen
eine erhebliche psychische Belastung dar. Die emotional hoch aufgeladene
[1][Weihnachtszeit ist oftmals eine zusätzliche Herausforderung].
„Es herrscht großer sozialer Erwartungsdruck, fröhlich zu sein und
gemeinsam mit anderen zu feiern“, sagt eine Sprecherin des Berliner
Krisendiensts. Das erzeuge Stress, wodurch sich bestehende familiäre und
Partnerschaftskonflikte zuspitzen können. Eine Sprecherin der Charité
betont gegenüber der taz, dass Weihnachten für Personen mit psychiatrischen
Krankheitsbildern eine Zeit sei, in der Einsamkeit und soziale Isolation
oft noch stärker wahrgenommen würden.
Betroffene wollten deshalb die Feiertage häufig im Kreis der Familie
verbringen, sagt sie. Von den nicht zwangseingewiesenen Patient*innen
unterbrächen viele die stationäre Behandlung für die Weihnachtszeit. Andere
blieben freiwillig.
Psychisch Erkrankte seien letztlich ein Abbild der Gesellschaft, sagt
Michael Webers vom Vorstand des Vereins Kommrum, der betreutes Wohnen
anbietet. „Manche Bewohner*innen feiern zu Hause, manche tauchen zu
Weihnachten komplett ab, ziehen sich zurück und meiden den Kontakt“,
berichtet er.
## Beratungsstellen sind teils an den Feiertagen geöffnet
Daher, sagt Webers, brauche es an Feiertagen Angebote für Personen mit
mentalen Belastungen. „Psychisch Erkrankte haben an den Weihnachtstagen die
gleichen Wünsche und Bedürfnisse wie alle anderen auch.“ Bei Kommrum gibt
es deshalb Angebote wie die Weihnachtscafés.
Hilfesuchende können auch online Kontakt zu Beratungsstellen aufnehmen,
etwa bei der Kontaktstelle Krisenchat. Psychosoziale Kontakt- und
Beratungsstellen, darunter der Krisendienst, sind darüber hinaus an den
Feiertagen zumindest zeitweise geöffnet.
Den Krisendienst lobt Michael Webers von Kommrum als eine „einmalige
Einrichtung“. Vergleichbares gebe es in anderen Bundesländern kaum. Man
könne stolz sein auf das Angebot in Berlin. Es sei breit gefächert und gut
verzahnt. „Aber diese Strukturen haben ihre Grenzen.“
Stationäre oder ambulante Einrichtungen, Tageskliniken, Privatkliniken oder
niedergelassene Psychotherapeut*innen – [2][sie sind alle voll
ausgelastet]. Die Wartezeiten sind lang, die Stationen und Kliniken oft
überbelegt.
## Hohe Nachfrage, zu wenig Angebote
Dabei ist die Versorgungslage mit Psychotherapeut*innen in Berlin
verhältnismäßig gut. Mit 63,4 Psychotherapeut*innen pro 100.000
Einwohner*innen weist die Hauptstadt bundesweit die höchste
Versorgungsdichte bei der psychotherapeutischen Versorgung auf. In
Mecklenburg-Vorpommern etwa liegt sie bei 16,4.
In Berlin besteht jedoch auch eine höhere Nachfrage. Berlin sei ein
Sammelbecken für Menschen, die die Nischen der Großstadt suchten, weil sie
mit ihren Besonderheiten woanders nicht zurechtgekommen seien, sagt Webers.
Die Versorgung reicht dann auch vorn und hinten nicht, der Bedarf an
Therapeut*innen steigt stetig, der Mangel an Behandlungsplätzen
verschärft sich. In allen Bezirken gebe es einen höheren Bedarf als
Angebote, so Webers. Hilfesuchende müssen in Berlin im Schnitt fast 40 Tage
auf ein psychotherapeutisches Erstgespräch warten. Die Wartezeiten bis zum
Psychotherapiebeginn betragen durchschnittlich 3 Monate.
Das liege Weber zufolge vor allem am Fachkräftemangel und an der
Wohnungsnot. Auch für das betreute Wohnen von Kommrum gebe es lange
Wartelisten, erzählt er. Hilfebedürftige mit eigenem Wohnraum könnten zwar
meist innerhalb von 4 Wochen aufgenommen werden. Für Menschen ohne Wohnraum
liegen die Wartezeiten aber bei mehreren Monaten bis hin zu einem Jahr. So
lange bleiben dann auch die psychischen Erkrankungen unbehandelt.
## „Man kriegt die Leute nicht raus“
Was die Lage nicht einfacher macht: Viele Hilfebedürftige kämen aus der
Obdachlosigkeit und wollten nach einer Verbesserung ihres Zustandes nicht
wohnungslos werden: „Man kriegt die Leute nicht raus, sogar wenn es ihnen
gut geht“, sagt Webers. Bürokratische Prozesse, fragmentierte
Gesetzgebungen und mangelnde Finanzierung kommen obendrauf.
[3][Mehrfach marginalisierte Betroffenengruppen fänden nur schwer den Weg
in das Versorgungssystem], berichtet eine Sprecherin des Krisendienstes.
Wohnungslose Menschen mit psychischen Erkrankungen oder auch traumatisierte
Menschen mit Fluchterfahrung würden dabei häufig nicht erreicht.
Der Krisendienst und Kommrum fordern daher, den Zugang zu
niedrigschwelligen Angeboten so einfach wie möglich zu gestalten. Dazu
gehören psychosoziale Kontakt- und Beratungsstellen ebenso wie solche für
Alkohol- und Medikamentenabhängige.
Das Problem liegt im System: Für eine Behandlung muss man krankenversichert
sein, man braucht eine ärztliche Diagnose, eine Begutachtung, muss einen
Antrag stellen und vieles mehr. Im besten Fall solle der Zugang aber anonym
und ohne ärztliche Diagnose ermöglicht werden, findet Michael Webers. An
eine zeitnahe Reform der Sozialgesetzgebung glaubt er jedoch nicht: „Das
ist Zukunftsvision. Das werde ich in meinem Arbeitsleben nicht mehr
erleben.“
## Bewusstsein für Einsamkeit und deren Folgen
Krisenprofis wie Webers fordern darüber hinaus eine Entbürokratisierung der
Mittelverwaltung und eine verlässliche Ausfinanzierung der
sozialpsychiatrischen Pflichtversorgung. Die bestehende Zuwendungspraxis
sei katastrophal, sagt Webers. „Es kann nicht sein, dass wir das jedes Jahr
neu mit dem Senat, dem Staatssekretär und einem Gesundheitsstadtrat
aushandeln müssen.“ Das sei „keine vernünftige Arbeitsgrundlage“ und ge…
ihm keine langfristige Planungssicherheit.
Vielmehr brauche es eine umfassende Unterstützung für ganzheitliche
Ansätze, die von Prävention über niedrigschwellige Beratung bis hin zu mehr
psychotherapeutischen Plätzen und kürzeren Wartezeiten in psychiatrischen
Praxen reichen, fordert etwa Krisenchat.
Nötig sei auch ein stärkeres gesamtgesellschaftliches Bewusstsein für
Einsamkeit und deren Folgen. „Wir müssen raus aus unserer Denkweise der
Institution. Wir müssen uns sozialräumlich organisieren“, sagt Michael
Webers. Es müssten mehr ehrenamtliche Angebote geschaffen werden, um
einsame Menschen in ihrer Nachbarschaft stärker zu integrieren, findet auch
der Krisendienst.
Konkret für die Feiertage empfiehlt der Krisendienst ein gezieltes
„Erwartungsmanagement“, um präventiv einer Krise bei psychisch belasteten
Menschen entgegenzuwirken. Es könne helfen, sich zu fragen, wie das Fest in
den letzten Jahren verlief, was gut funktioniert habe oder was getan werden
könne, damit die Stimmung nicht kippt oder Betroffene rückfällig werden.
23 Dec 2023
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## AUTOREN
Lilly Schröder
## TAGS
Einsamkeit
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