# taz.de -- Streetworker über Wohnungslosigkeit: „Das pure Überleben“ | |
> Immer mehr wohnungslose Menschen sind psychisch krank. Zwei Streetworker | |
> berichten, wie ihre nicht auf Zwang ausgelegte Methodik an ihre Grenzen | |
> stößt. | |
wochentaz: Frau Kienreich, Herr Kretschmann, als StraßensozialarbeiterInnen | |
erleben Sie eine verheerende Entwicklung. Worum geht es? | |
Sarah Kienreich: An manchen Orten in Berlin beobachten wir inzwischen, dass | |
bis zu 80 Prozent der obdachlosen Menschen dem Anschein nach psychisch | |
massiv erkrankt sind. Diese Personen haben in den letzten drei Jahren als | |
sichtbare Gruppe deutlich zugenommen. Ich höre auch im Austausch mit | |
anderen Trägern, dass gerade in den letzten Monaten die Probleme überall | |
dieselben sind und die Hilflosigkeit auch. Vor allem für Menschen mit | |
psychischen Erkrankungen und Drogenkonsum gibt es fast gar keine Angebote. | |
Es gibt einfach keine Orte, die diese Leute aufnehmen. | |
Tino Kretschmann: Wir sehen diese Menschen, aber wir können sie mit unserer | |
Arbeit überhaupt nicht erreichen. | |
Inwiefern unterscheiden sie sich von anderen obdachlosen Personen? | |
Kretschmann: Normalerweise braucht es einen gewissen Grad an | |
Organisiertheit, um auf der Straße überleben zu können: Schlafplatz, Essen, | |
Geld, Waschmöglichkeit und so weiter. Was wir jetzt aber immer mehr sehen, | |
sind Menschen, die ohne Taschen, ohne Schlafsack und in der Regel ganz | |
allein unterwegs sind. Die offenbar über lange Zeiträume keine hygienischen | |
Maßnahmen nutzen und die vor allem kaum oder gar nicht ansprechbar sind. | |
Viele sind nicht einmal mehr in der Lage, zu schnorren oder Flaschen zu | |
sammeln. Diese Menschen ernähren sich aus Mülleimern. | |
Das ist eine krasse Verelendungsstufe, über die wir hier sprechen. | |
Kienreich: Das ist die Realität. Es gibt eine Art Rangordnung auf der | |
Straße. Aber diese Menschen kommen darin überhaupt nicht mehr vor. Die sind | |
schon völlig weg vom Sichtfenster. | |
Aber wir sehen sie doch, wenn wir durch die Straßen der Großstädte gehen … | |
Kretschmann: Man nimmt sie sicher wahr. Aber sobald jemand anfängt, | |
herumzuschreien oder sich in einem völlig desolaten hygienischen Zustand | |
befindet, machen doch die meisten Menschen einen großen Bogen. Was bis zu | |
einem gewissen Punkt ja auch nachvollziehbar ist. | |
Kienreich: Wenn diese Menschen zu auffällig werden, werden sie vom direkten | |
Umfeld auch aktiv vertrieben. | |
Wie lange kann ein Mensch in solch einem Zustand auf der Straße überleben? | |
Kienreich: Erstaunlich lange. Menschen sind oft unglaublich zäh. Aber das | |
ist nur noch das pure Überleben. Sonst nichts mehr. | |
Warum gibt es immer mehr Menschen, die so auf der Straße leben? | |
Kretschmann: Es gibt die Vermutung, dass die aktuelle Entwicklung, vor | |
allem in den Ballungsgebieten, mit dem Wohnungsmarkt zusammenhängt. Vor | |
zehn oder fünfzehn Jahren war ein Vermieter noch toleranter gegenüber | |
Mieter*innen, die Auffälligkeiten zeigten. Heute ist es doch so, dass die | |
Menschen schnell aus ihren Wohnungen rausfliegen, wenn die Miete mal nicht | |
kommt oder es Beschwerden der Nachbar*innen gibt. Wir sehen jetzt auf | |
der Straße, was sonst hinter verschlossenen Türen stattfand. Und auf der | |
Straße wird es dann immer schlimmer. | |
Straßensozialarbeit ist das niedrigschwelligste Angebot der | |
Obdachlosenhilfe. Sind Sie nicht genau für diese Menschen zuständig, die | |
sonst nirgendwo mehr ankommen? | |
Kienreich: Aus gesellschaftlicher Sicht fühle ich mich in der | |
Verantwortung, weil es niemand anderen gibt. Aus professioneller Sicht habe | |
ich weder die Ausbildung dafür, noch passt das zu meinem Auftrag. Wir | |
können keine Diagnosen stellen, wir sind keine Mediziner*innen. Aber es | |
gibt faktisch keine Institution, die auf der Straße Diagnosen stellt. | |
Außerdem sind wir Straßensozialarbeiter*innen bestimmten Standards | |
verpflichtet. Wir arbeiten akzeptierend, immer ohne Zwang, auf der | |
Grundlage von Beziehungs- und Vertrauensarbeit. | |
Kretschmann: Und genau da stoßen wir an die Grenze. Wir unterstützen | |
Menschen, die auf der Straße leben. Aber den Auftrag geben sie uns | |
letztlich selbst und zwar sehr direkt: Ich habe kein Geld, ich habe keine | |
Wohnung, ich bin krank, ich brauche einen Schlafsack und so weiter. Lasst | |
mich in Ruhe, ist auch eine klare Ansage. Aber was machen wir, wenn eine | |
psychisch erkrankte Person ihre Bedürfnisse gar nicht mehr formulieren oder | |
sichtbar machen kann? | |
Eine psychiatrische Behandlung erfolgt in Deutschland nur auf Wunsch der | |
Person oder bei Eigen- und Fremdgefährdung. | |
Kretschmann: Die gesetzlichen Grenzen sind aufgrund unserer deutschen | |
Geschichte und auch aufgrund der Hospitalisierungsdiskussion der 1980er | |
Jahre nachvollziehbar eng. Die Freiwilligkeit in der psychiatrischen | |
Behandlung ist hart erkämpft. Aber es gibt diese wachsende Gruppe von | |
Menschen auf der Straße, für die es keinen Ort gibt und wir alle – auch wir | |
Sozialarbeiter, die sehr kritisch mit jeder Form von Zwang umgehen – müssen | |
uns fragen, wie weit der Begriff von Freiwilligkeit geht, den wir | |
akzeptieren. Wie freiwillig ist es, dass diese Menschen auf der Straße | |
vegetieren? | |
Kienreich: Der Punkt ist doch nicht die Freiwilligkeit, sondern die | |
Entscheidungsfähigkeit. Wenn eine Person nicht fähig ist, Entscheidungen zu | |
treffen, dann wäre es wünschenswert, dass es eine Instanz gibt, die diese | |
Fürsorge vorübergehend übernimmt. Selbstverständlich mit den geringsten | |
Mitteln des Eingriffs, die nötig sind. Es ist bekannt, dass psychische | |
Erkrankungen, die nicht diagnostiziert und behandelt sind, einen schlechten | |
Verlauf haben. In diesem Fall ist das Argument der Freiwilligkeit ein | |
Freibrief in die Verelendung von Menschen. | |
Was bräuchte es also? | |
Kienreich: Diese Menschen brauchen eine Stelle, die sich für sie | |
verantwortlich fühlt. Nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch. Die | |
diese Menschen auf der Straße aufsucht und mitnimmt an einen Ort, an dem | |
sie so ankommen können, wie sie sind. Ich finde, die Situation, die wir auf | |
der Straße erleben, ist ein Spiegelbild unserer gesellschaftlichen | |
Zustände. Der Druck, der auf den einzelnen Individuen lastet. Du musst | |
etwas schaffen, du musst etwas beitragen, dieses und jenes wird von dir | |
erwartet. Du hast so zu funktionieren, ansonsten bist du kein wertvolles | |
Mitglied dieser Gesellschaft und dementsprechend gibt es auch kein Angebot | |
für dich. | |
Wie sieht es mit Wohnungsloseneinrichtungen aus? | |
Kienreich: In den meisten Einrichtungen müssen sich die Menschen bewähren, | |
sie müssen sich an Regeln halten, sie müssen fast immer auch abstinent | |
sein. Wenn ich aber einer Person, die eh schon isoliert ist und nicht für | |
sich selbst sorgen kann, auch noch ihre Droge, ihre Selbstmedikation | |
wegnehme, dann ist das entwürdigend. Es braucht ein Angebot der echten | |
Beheimatung, erst dann gibt es wieder eine Perspektive für diese Menschen. | |
Es gibt inzwischen in einigen Städten Housing First – ein Angebot, bei dem | |
Menschen fast voraussetzungslos mit einer eigenen Wohnung versorgt werden. | |
Das ist doch Beheimatung. | |
Kretschmann: Viele Menschen, die wir auf der Straße als psychiatrisch | |
auffällig erleben, sind vermutlich allein gar nicht wohnfähig. Housing | |
First setzt das aber schon voraus. Jemand, der zum Beispiel schizophren | |
ist, muss erst mal wieder in eine Situation gebracht werden, Entscheidungen | |
treffen zu können. Da sprechen wir zum Beispiel über Medikamentengabe und | |
kommen wieder zurück zu der Frage: Wie viel Zwang braucht es? Wer müsste | |
den umsetzen? Welche gesetzlichen Grundlagen wären dafür nötig? Wie | |
vereinbaren wir das mit den Menschenrechten? | |
Kienreich: Es geht nicht in allererster Linie um Medikamente, sondern um | |
einen Schutzraum, in dem eine Basis geschaffen wird, die überhaupt wieder | |
Beziehung ermöglicht. Allein die Vorstellung ist absurd, das könne | |
irgendwie funktionieren bei einem Menschen, der zum Beispiel psychotisches | |
Verhalten zeigt und auf der Straße lebt. | |
Also plädieren Sie dafür, dass es wieder so etwas wie geschlossene | |
Stationen für Menschen gibt, die nicht mehr für sich sorgen können? | |
Kretschmann: Man hat zu Recht diese ganzen geschlossenen Stationen | |
abgeschafft, wo Menschen nur verwahrt wurden, im Grunde gefangen waren. Die | |
Frage ist aber jetzt: Wie kommen Menschen wieder in das System? | |
Ja, wie? | |
Kretschmann: Das wissen wir nicht. Wir sind eigentlich nur die Melder. Wir | |
erleben eine gesellschaftliche Entwicklung, die unten auf der Straße | |
stattfindet und sicherlich ihren Anfang ganz woanders hat. Wir versuchen | |
der Politik und der Gesellschaft zurückzumelden: Da fehlt was, da braucht | |
es was. Wir wissen nicht, was wir mit den Leuten machen sollen. Wir kommen | |
mit unseren Möglichkeiten der Straßensozialarbeit nicht weiter, weil die | |
Bedarfe ganz andere sind und weil es jemanden braucht, der Entscheidungen | |
trifft, die entgegen der Prinzipien der Straßensozialarbeit auch in Teilen | |
mit Zwängen verbunden sind. Das ist eine gesellschaftliche und politische | |
Debatte, die geführt werden muss. | |
Wenn es ein Angebot geben soll, das dem Einzelnen gerecht wird, klingt das | |
nach sehr teuren Maßnahmen. | |
Kienreich: Wir reden über Menschen mit multiplen Problemlagen und hohem | |
Hilfebedarf, sogenannte High Need Clients. Das heißt, da muss viel Geld in | |
die Hand genommen werden, da müssen viele Ressourcen mobilisiert werden, um | |
überhaupt die Möglichkeit zu schaffen, dass die Menschen ihre Fähigkeiten | |
und ihr Potenzial ausschöpfen können. Und auch dann werden wir nicht alle | |
erreichen. Aber die Frage, ob wir das machen, ist keine Frage von Kosten, | |
sondern eine zutiefst moralische: In welcher Gesellschaft wollen wir | |
leben?! | |
Kretschmann: Nur weil das jetzt Geld kostet oder wir noch kein Verfahren | |
dafür haben, nehmen Politiker*innen die Hände hoch und machen nix und | |
gucken zu, wie diese Menschen dahinvegetieren? Und dann wird jahrelang | |
darüber diskutiert, dass es mehr werden? Und keiner fühlt sich | |
verantwortlich? Moralisch ist das echt eine Frechheit. | |
Wir diskutieren vor dem Hintergrund, dass die Länder der Europäischen Union | |
bis 2030 die Obdachlosigkeit überwunden haben sollen … | |
Kretschmann: In den Großstädten kann das nur gelingen, wenn viel mehr in | |
den Wohnungsmarkt eingegriffen wird. Das sehe ich überhaupt nicht. | |
Kienreich: Letztlich ist die Frage, ob Wohnungslosigkeit beendet werden | |
kann oder nicht, eine Umverteilungsfrage. Es ist leider so, dass Menschen, | |
die reich sind, immer reicher werden auf Kosten einer immer breiteren | |
Gesellschaftsschicht. Und diese breitere Gesellschaftsschicht unterteilt | |
sich immer mehr. Es gibt Menschen, die arm sind und es gibt Menschen, die | |
ärmer sind als arm – was es eigentlich ja gar nicht gibt. Und da ist eben | |
die Frage: Wollen wir so leben? Ja oder nein? Wenn nicht, was wollen wir | |
verändern? Und wer ist bereit, etwas zu geben und kann auch etwas geben? | |
Ich würde mir wünschen, dass wir uns von dieser Wachstumsgesellschaft mehr | |
in Richtung Gedeihen entwickeln würden. | |
Was bedeutet es für Sie persönlich, täglich mit Menschen konfrontiert zu | |
sein, an die Sie selber gar nicht mehr herankommen, die aber eigentlich am | |
dringendsten Unterstützung benötigen? | |
Kienreich: Ich muss immer und immer wieder meine eigenen Ideale | |
hintanstellen. Ich muss mich einem gewissen Scheitern hingeben, das noch | |
weit über das „normale“ Scheitern hinausgeht, das ich jeden Tag erlebe und | |
das mit dieser Arbeit sowieso schon verbunden ist. | |
Kretschmann: Wer sagt schon gern, dass er hilflos ist in seinem Job? Aber | |
an der Stelle muss ich einfach ganz klar sagen: Ja, wir kommen an Grenzen. | |
Wir versuchen, diese professionelle Hilflosigkeit gegenüber der Politik und | |
der Öffentlichkeit klar zu benennen, damit sich etwas verändert. Aber ganz | |
ehrlich: Wenn ich täglich Menschen sehe, denen ich nichts anbieten und auf | |
der Beziehungsebene nichts geben kann und das auch niemand anderer macht … | |
Es ist manchmal einfach nur zum Kotzen. | |
26 Feb 2023 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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