# taz.de -- Studie zur Gesundheit von Obdachlosen: „Sie finden keine Hilfe“ | |
> Obdachlose sind häufiger krank und fallen zunehmend aus dem | |
> Gesundheitssystem heraus. Das zeigt eine Studie des Universitätsklinikums | |
> Eppendorf. | |
Bild: Eine Möglichkeit, dem Problem zu begegnen: Behandlung im Berliner Gesund… | |
HAMBURG taz | Wer in Deutschland einen Therapieplatz oder einen | |
Facharzttermin sucht, braucht Durchhaltevermögen, Glück und oft auch einen | |
festen Wohnsitz. Obdachlose Menschen leiden noch stärker als die | |
Allgemeinbevölkerung unter dem schlechten Versorgungssystem hierzulande. | |
Dabei ist der Bedarf bei ihnen besonders groß. Eine [1][Studie des | |
Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE)] hat zum ersten Mal | |
deutschlandweit nachgewiesen, dass obdach- und wohnungslose Menschen | |
häufiger als die Allgemeinbevölkerung unter psychischen und körperlichen | |
Krankheiten leiden. Oft wissen die Proband*innen außerdem nichts von | |
ihren Erkrankungen. Das überrascht nicht, aber trotzdem sind solche | |
Untersuchungen wichtig. Bisher gab es kaum Studien über den | |
Gesundheitszustand von Menschen auf der Straße – eine Leerstelle, die | |
politisches Handeln erschwert. | |
Im Rahmen der Studie haben Wissenschaftler*innen des UKE 651 Menschen | |
in Hamburg, Frankfurt, Leipzig und München untersucht. Nicht alle von ihnen | |
waren obdachlos. Auf der Straße leben viele verschiedene Menschengruppen. | |
Eine Klassifikation der Europäischen Union unterscheidet zwischen vier | |
Hauptgruppen: obdachlosen und wohnungslosen Menschen, Menschen in | |
ungesicherten und in ungenügenden Wohnverhältnissen. Die Spanne reicht von | |
Bettenlagern hinter Containern bis zu überfüllten Wohneinrichtungen. | |
Einer Studie der Bundesregierung vom Dezember 2022 zufolge haben etwa | |
263.000 Menschen in Deutschland keinen festen Wohnsitz. Etwa 37.000 von | |
ihnen kommen nicht in offiziellen Unterkünften oder bei Freund*innen | |
unter und leben vollständig auf der Straße, rund 70 Prozent von ihnen | |
stammen aus Deutschland. In Hamburg leben [2][bundesweit die meisten | |
Menschen ohne festen Wohnsitz]. Allein in diesem Winter sind dort bis | |
Anfang Dezember 23 Menschen auf der [3][Straße erfroren]. | |
Die Studie des UKE ist besonders, weil nie zuvor in so großem Rahmen | |
untersucht wurde, wie es diesen Menschen gesundheitlich geht. Frühere | |
Studien, auch eine des UKE, beschränkten sich auf einzelne Städte oder | |
Regionen. Mit den Städten Hamburg, Frankfurt, Leipzig und München wollten | |
die Forschenden nun alle Himmelsrichtungen abdecken. | |
Fabian Heinrich ist der Ansprechpartner für die Untersuchung und hat als | |
Assistenzarzt daran mitgearbeitet. Er und das Team aus vorwiegend | |
Doktorand*innen sind von Juli bis September 2022 für die Studie durch | |
Deutschland gereist. Die größte Hürde, sagt er, sei der schwierige Zugang | |
zu obdachlosen Menschen durch unstete Lebensbedingungen und | |
dezentralisierte Versorgung. „Solche Studien sind sehr aufwendig und werden | |
leider nicht regelhaft durchgeführt.“ | |
In vorher kontaktierten Einrichtungen wurden die Menschen befragt und | |
ärztlich untersucht. Konkret heißt das: Den Proband*innen wurde zum | |
Beispiel Blut abgenommen und sie konnten Fragebögen ausfüllen, mit denen | |
getestet wurde, ob psychische Erkrankungen wie Depressionen oder | |
Angststörungen vorliegen könnten. Auch wurden sie gefragt, ob sie von | |
Erkrankungen wüssten. | |
Das Ergebnis: Die Unterdiagnostik ist bei obdach- und wohnungslosen | |
Menschen besonders hoch. „In fünfzig Prozent der Fälle sehen wir mögliche | |
somatische Erkrankungen, die vorher nicht bekannt waren. Zwei Drittel der | |
Probanden könnten psychische Erkrankungen haben, die zuvor nicht | |
diagnostiziert wurden“, fasst Heinrich die Ergebnisse zusammen. | |
Vor allem Anzeichen für Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen kamen | |
häufig vor. Ebenso Suchterkrankungen, aber auch Depressionen und | |
Angststörungen. Fabian Heinrich betont, dass die Untersuchungen nur | |
Hinweise auf mögliche Krankheiten geben können und keine feste Diagnose | |
bedeuten. Trotzdem zeigen die Ergebnisse, dass es einen hohen | |
Behandlungsbedarf gibt, der nicht erfüllt wird. | |
Warum das so sei, könne eine solche Studie nicht abschließend klären. Fest | |
stehe, dass vielen der Zugang zu Ärzten fehle – mit drastischen | |
Unterschieden je nach Herkunft. „Beim [4][Krankenversicherungsschutz] gibt | |
es deutliche Unterschiede: Während 87 Prozent der aus Deutschland | |
stammenden wohnungslosen Menschen in unserer Studie eine | |
Krankenversicherung hatten, waren es bei wohnungslosen EU-Migranten nur 38 | |
Prozent, bei wohnungslosen Migrant*innen von außerhalb der EU 67 | |
Prozent.“ | |
Und auch wer theoretisch versichert ist, geht nicht häufiger ins | |
Krankenhaus. „Wir sehen also einen deutlichen Unterschied im | |
Versorgungszugang, der sich aber nicht in der Inanspruchnahme medizinischer | |
Leistungen widerspiegelt.“ Das Regelsystem kann obdach- und wohnungslose | |
Menschen nicht auffangen, trotz des hohen Bedarfs. | |
Das beobachtet auch Julien Peters, der seit 2017 bei der | |
„[5][Straßenvisite]“ in Hamburg arbeitet. Ziel des Caritas-Projekts ist es, | |
wohnungs- und obdachlose Menschen psychiatrisch zu versorgen. Die | |
Mitarbeiter*innen sprechen Menschen auf der Straße an und weisen sie | |
auf die wöchentliche psychiatrische Sprechstunde hin. Der Bedarf sei extrem | |
hoch, sagt Peters. „In einer Sprechstunde kamen teilweise bis zu 25 Leute“, | |
sagt er – viel zu viele für die kurze Zeit. | |
## Nur oberflächliche Hilfe | |
Neben der Unterdiagnostik beobachtet Peters auch die mangelnde Versorgung: | |
„Viele Menschen wissen sehr genau über ihre möglichen Erkrankungen | |
Bescheid, finden aber keine Hilfe.“ Das liege zum einen an Stigmatisierung | |
und Diskriminierung in Krankenhäusern und ambulanten Psychiatrien, aber | |
auch an bürokratischen Hürden. „Wir haben große Probleme, Leute bei einer | |
ambulanten Psychiatrie unterzubringen, weil sie dafür einen festen Wohnsitz | |
brauchen.“ Das sei nicht immer so gewesen, sondern eine Entwicklung der | |
letzten Jahre. „Das Regelsystem zieht sich immer mehr zurück.“ | |
Diese Leerstelle füllen Angebote wie die „Straßenvisite“. Nicht staatliche | |
Helfer*innen geben Medikamente aus, versorgen die Wunden von obdachlosen | |
Menschen und geben Windeln aus, weil viele schon alt und eigentlich | |
pflegebedürftig sind. | |
All das sei nur Arbeit an der Oberfläche. Eigentlich, sagt Peters, brauche | |
es spezialisierte Wohneinrichtungen. „Wir können lindern und Symptome | |
behandeln, aber Zugang zu Therapie, Ärzten und zu entspannten Settings | |
haben wir nicht.“ Das führe dazu, dass manche obdachlose Menschen gar nicht | |
wissen wollten, welche Krankheiten sie hätten: „Bei HIV gibt es oft auf | |
beiden Seiten das Einverständnis, dass sich die Leute nicht testen lassen | |
wollen. Denn dann können auch wir den Zugang zu Medikamenten nicht | |
garantieren. Sie sagen dann eher, dass sie nie wieder Geschlechtsverkehr | |
haben werden.“ | |
Wer permanent mit der Bewältigung des Alltags, Sucht und Krankheit zu | |
kämpfen habe, könne nicht auch noch eine Wohnung oder einen Job suchen. | |
„Warum verlangen wir von denen mit den wenigstens Ressourcen am | |
allermeisten?“ | |
20 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.aerzteblatt.de/archiv/228829/Psychische-und-somatische-Gesundhe… | |
[2] /Ausstellung-Whos-next-in-Hamburg/!5901818 | |
[3] /Obdachlose-in-Winter/!5899297 | |
[4] /Menschen-ohne-Krankenversicherung/!5885024 | |
[5] https://www.caritas-hamburg.de/hilfe-und-beratung/arme-und-obdachlose/aufsu… | |
## AUTOREN | |
Lisa Bullerdiek | |
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