# taz.de -- Tagestreffs für obdachlose Menschen: Eine Bleibe nur nachts reicht… | |
> Viele Notunterkünfte sind nur nachts geöffnet, für ganztägige | |
> Einrichtungen gibt es kein Geld. Gleichzeitig lässt der Bezirk | |
> Obdachlosencamps räumen. | |
Bild: Wären vermutlich lieber im Warmen: Menschen ohne Obdach am Alexanderplatz | |
Berlin taz | „Weil er kein Handy hat, können wir ihn nicht mehr erreichen“, | |
sagt Tino Kretschmann über einen obdachlosen Menschen, der verschwunden | |
ist. | |
Kretschmann arbeitet als Straßen-Sozialarbeiter für d[1][en Träger | |
Gangway.] „Anderthalb Jahre hatten wir mit ihm gearbeitet, Beziehungsarbeit | |
geleistet, ihm das Leben auf der Straße leichter gemacht, er war | |
offensichtlich psychisch erkrankt“, sagt Kretschmann. Dann ließ der Bezirk | |
Mitte Plätze von obdachlosen Menschen spontan räumen. „Jetzt wissen wir | |
nichts mehr von ihm“, sagt Kretschmann. | |
Gangway prangert daher den Umgang mit obdachlosen Menschen in Berlin an. | |
Gemeinsam mit dem Zusammenschluss AG Straße fordert der Träger deshalb | |
einen zentralen Tagestreff für Obdachlose am Alexanderplatz. Dort sollen | |
sie tagsüber unterkommen, essen, duschen und sich aufwärmen können. Das | |
könne Räumungen vorbeugen und die Arbeit mit den Menschen erleichtern. | |
„Alternative Aufenthaltsmöglichkeiten“ für „adäquate Unterstützung“… | |
die AG Straße. | |
Laut Senatsverwaltung für Soziales gab es im Jahr 2023 zwölf | |
Wohnungslosentagesstätten. Zu wenig, findet Tino Kretschmann. „Die | |
Angebote, die es aktuell gibt, können den großen Bedarf nicht mal | |
ansatzweise decken“, sagt er. Es gebe insgesamt zu wenige und zu kleine | |
Tagestreffs in Berlin. „Die Politik muss aufwachen und einsehen, dass | |
diesen Menschen wenigstens ein geschützter Tagesaufenthalt geboten werden | |
muss“, fordert Kretschmann. „Das gesellschaftliche Klima gegen prekäre und | |
vulnerable Gruppen wird immer schlimmer. Es geht hier um die Ärmsten und | |
oft ums reine Überleben. Wer sich dafür nicht interessiert, riskiert | |
Menschenleben.“ | |
## Weniger Obdachlosigkeit, weniger Gewalt | |
Tatsächlich steigt die Gewalt: Im Jahr 2024 registrierte der Senat 506 | |
Gewalttaten gegen obdachlose Menschen. Darunter fallen drei in die | |
Kategorie Mord und Totschlag. Das geht aus einer Anfrage der Abgeordneten | |
Niklas Schrader und Anne Helm (Linke) hervor. Mit 132 wurde die Mehrheit | |
der Gewalttaten im Bezirk Mitte begangen. | |
Um die Menschen zu schützen, setzt der Senat auf Gewaltprävention. Er will | |
nach eigenen Angaben Wohnraumverlust verhindern, Hilfen bei der | |
Wohnungssuche bereitstellen und so die Vulnerabilität verringern. | |
„Alles, was Obdachlosigkeit reduziert, wird auch die Gewalt an obdachlosen | |
Menschen reduzieren“, sagt Niklas Schrader der taz. „Notunterkünfte, | |
Tagestreffs, mobile Angebote. Aber mit der Kürzungspolitik des Senats sieht | |
das schwierig aus. Im Moment sind viele Angebote von der Schließung | |
bedroht“, kritisiert er. | |
Auch aus Sicht der AG Straße bräuchte es viel mehr Angebote, um die | |
Menschen zu schützen. Notunterkünfte, in denen obdachlose Menschen | |
übernachten können, sind grundsätzlich nur nachts geöffnet. Die Zeit | |
zwischen ihren Öffnungszeiten sollte aus Sicht von Kretschmann deswegen von | |
den Tagestreffs abgedeckt werden. Er findet: „Solche Angebote braucht man | |
in jedem Stadtteil.“ Auf ganz Berlin gerechnet wären das 96 Stück. | |
## Modell Hofbräuhaus | |
Auch Katina Schubert, Sprecherin für Soziales der Linksfraktion, sagt: | |
„Wichtig ist, dass Menschen auf der Straße Anlaufpunkte haben, wo sie sich | |
aufhalten können, sich hygienisch versorgen und verpflegen können und | |
Zugang zu Beratung und Coaching bekommen, um ihre persönliche | |
Lebenssituation ändern zu können.“ Sie findet es ebenfalls wichtig, dass | |
jeder Bezirk ausreichend soziokulturelle Infrastruktur hat, „damit Menschen | |
jeden Alters sich treffen können“. | |
Auf Anfrage der taz sagt Carsten Spallek, CDU-Bezirksstadtrat für Soziales | |
und Bürgerdienste in Mitte: „Mir und dem gesamten Amt für Soziales ist die | |
Bedeutung eines zentralen Tagestreffs am Alexanderplatz beziehungsweise in | |
dessen unmittelbarer Nähe bewusst.“ Trotzdem: „Die Einrichtung des | |
geforderten Tagestreffpunktes ist im Bezirkshaushalt nicht abbildbar.“ Im | |
Klartext bedeutet das: Dem Bezirksamt Mitte fehlt das Geld dafür. | |
[2][Dabei hat das Hofbräuhaus am Alexanderplatz vorgemacht, wie wichtig und | |
sinnvoll ein Tagestreff dort ist.] Bis April 2023 hat das Gasthaus warme | |
Mahlzeiten, Kleidung und Beratung für obdachlose Menschen angeboten. „Das | |
wurde extrem gut angenommen. 360 Menschen haben diese Angebote täglich | |
genutzt“, sagt Kretschmann. Der Tagestreff wurde durch den Senat und die EU | |
finanziert. Allerdings wurde die Finanzierung 2023 eingestellt. | |
„Es braucht Orte im öffentlichen Raum, in denen es akzeptiert ist, dass | |
sich obdachlose Menschen dort aufhalten“, fordert Schrader. Er kritisiert | |
dabei auch das konkrete Vorgehen der Bezirke. „Die absolut konzeptlosen | |
Räumungen führen nur zu Vertreibung. Sie bringen nichts.“ | |
## Rabiate Räumungen | |
Der Bezirk Mitte begründet [3][die spontanen Räumungen] mit | |
„Gefährdungslagen“: „Insbesondere in der Nähe kritischer Infrastruktur … | |
Brücken oder Bahntrassen geht von Obdachlosen-Camps eine nicht unerhebliche | |
Gefährdungslage aus“, so Carsten Spallek zur taz. Die Räumung erfolge in | |
Einzelfällen auch zeitnah und „unabhängig von einer vorherigen Betreuung | |
durch die mobile Sozialarbeit“. | |
Katina Schubert kritisiert die „rabiate Räumungspraxis“ des Bezirks: „Das | |
führt nur zu Verdrängung, aber zu keiner einzigen Lösung.“ | |
2 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Leonore Kogler | |
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