# taz.de -- Adventskalender (24): Gegen die Einsamkeit | |
> Geschätzt jeder zehnte Berliner ist von Einsamkeit betroffen. | |
> Reinickendorf bekommt nun die bundesweit erste Einsamkeitsbeauftragte. | |
Bild: Einsamkeit macht krank | |
Es gibt sie noch, die nicht ganz so schlechten Dinge – auch wenn sie | |
derzeit rar gesät sind. In diesem Advent zaubern wir jeden Tag etwas | |
Meckerfreies aus unserem Kalender. Sei’s politisch, musikalisch, | |
kulinarisch oder – wie heute – engagiert. | |
Niemand da zum Reden, niemand da, der zuhört: Einsamkeit ist in der | |
Gesellschaft weit verbreitet – und wird für Betroffene häufig zur | |
Psychohölle. Das hat mittlerweile auch die Bundespolitik erkannt. Kurz vor | |
Weihnachten stellte die Ampel-Regierung jetzt stolz ihre [1][„Strategie | |
gegen Einsamkeit“] vor: 111 Maßnahmen, die das soziale Miteinander stärken | |
sollen. | |
Spricht man Reinickendorfs Bezirksbürgermeisterin Emine Demirbüken-Wegner | |
darauf an, redet sie sich rasch in Rage. „Halbherzig“ sei der Katalog, sagt | |
die CDU-Politikerin zur taz. Und dass das Aufschreiben von 111 Maßnahmen | |
noch lange keine Strategie sei. „Ich hätte mir gewünscht, dass die | |
Bundesregierung eine Stelle schafft, die sich ausschließlich mit dem Thema | |
Einsamkeit beschäftigt“, sagt Demirbüken-Wegner. | |
Reinickendorf selbst ist da im deutlicher weiter. Als bundesweit erste | |
Kommune bekommt der Bezirk im kommenden Jahr eine Einsamkeitsbeauftragte, | |
unmittelbar angedockt an das Büro von Demirbüken-Wegner. Bis Anfang Oktober | |
lief die Ausschreibung. Das Interesse an der Vollzeitstelle sei immens | |
gewesen,so die Bürgermeisterin: „Und ja, wir haben jemanden gefunden“. | |
Läuft alles nach Plan, werde die Einsamkeitsbeauftragte spätestens im | |
Februar ihren Dienst antreten. | |
Ihre Aufgabe wird es vor allem sein, vorhandene Projekte gegen Einsamkeit | |
im Bezirk zu unterstützen, die unterschiedlichen Organisationen, Vereine | |
und freien Träger an einen Tisch zu holen, deren Aktivitäten zu bündeln und | |
zu koordinieren. Und natürlich Konzepte zu erstellen und Kampagnen zu | |
organisieren. Mitarbeiter:innen stehen der Einsamkeitsbeauftragten | |
dabei nicht zur Verfügung. „Ich bin ja schon froh, dass ich diese Stelle | |
einrichten konnte“, sagt Demirbüken-Wegner. | |
## Hauptstadt der Einsamkeit | |
Das Thema Einsamkeit lässt die CDU-Politikerin seit etlichen Jahren nicht | |
los. Auslöser waren mehrere erschütternde Begegnungen mit Menschen aus | |
ihrem Wahlkreis, berichtet sie. Die tatsächliche Dimension des Problems | |
werde in diesem Zusammenhang allzu oft ignoriert. So ist nach ihren Angaben | |
jede:r zehnte Berliner:in von Einsamkeit betroffen, und zwar | |
[2][unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft]. | |
Auch deshalb hatte Emine Demirbüken-Wegner schon 2019 – damals noch als | |
Abgeordnete der CDU-Opposition im Berliner Landesparlament – mit Verve | |
dafür geworben, in der Senatskanzlei die Stelle eines | |
Einsamkeitsbeauftragten einzurichten und mit einem jährlichen Budget von | |
100.000 Euro auszustatten. Ohne Erfolg. | |
Ein entsprechender Antrag der Union wurde seinerzeit mit der Mehrheit aller | |
anderen Fraktion im Abgeordnetenhaus abgeschmettert. „Einen | |
Einsamkeitsbeauftragten, den brauchen wir nicht. Denn ein | |
Einsamkeitsbeauftragter ist selber ein Einsamer – ein Einsamer, der Einsame | |
sucht“, ätzte etwa die ebenfalls oppositionelle FDP gegen den | |
vermeintlichen Beauftragtenwildwuchs in der Verwaltung. Die Linke warf der | |
CDU und Demirbüken-Wegner „Schaufensterpolitik“ vor. | |
Alles Unsinn, damals wie heute, sagt Demirbüken-Wegner: „Ich habe doch | |
nicht gesagt: Ach, mir ist langweilig, da suche ich mir jetzt irgendein | |
Thema. Wer mich kennt, der weiß, dass ich keine Showwoman bin.“ Es sei ihr | |
hundertprozentig ernst mit dem Kampf gegen Einsamkeit. | |
## Weihnachtsessen mit der Bürgermeisterin | |
Sie wollen nicht falsch verstanden werden, sagt die Rathauschefin. | |
Ehrenamtliches Engagement gegen Einsamkeit und die Arbeit freier Träger sei | |
unverzichtbar. „Aber da macht man sich schon einen schlanken Fuß, wenn man | |
auf der politischen Ebene die Verantwortung abgibt an Vereine oder freie | |
Träger.“ Es brauche auch administrative Strukturen. Das Problem sei einfach | |
zu groß. | |
Der Sprung an die [3][Spitze des Reinickendorfer Bezirksamts] nach der | |
Wiederholungswahl im Februar gab Emine Demirbüken-Wegner die Möglichkeit, | |
ihr Projekt einer Einsamkeitsbeauftragten zur Chefinnensache zu machen und | |
wenigstens auf Bezirksebene umzusetzen. | |
Sie selbst hat für den Nachmittag des 24. Dezember – wie schon 2022 – | |
erneut einsame Reinickendorfer:innen zu einen kostenlosen gemeinsamen | |
Essen in der Seniorenfreizeitstätte Hermsdorf eingeladen, „unterm | |
Weihnachtsbaum und mit Geschenken, ein ganz besonderer Tag“. 40 Anmeldungen | |
gebe es, 30 Gäste wurden im vergangenen Jahr gezählt. „Meine Zielmarke ist | |
es, in ein paar Jahren die 100 zu erreichen“, sagt Demirbüken-Wegner. | |
24 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Rainer Rutz | |
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