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# taz.de -- Hartz IV als Dauerzustand: Nicht vermittelbar
> Der deutsche Arbeitsmarkt boomt, doch für Langzeitarbeitslose stehen die
> Chancen weiter schlecht. Drei Betroffene erzählen, warum.
Bild: Simona Heidinger hat „multiplen Vermittlungshemmnisse“. Eines davon: …
Berlin/Gadebusch/Braunschweig taz | Eigentlich müsste der Arbeitsmarkt
offen stehen für Thomas Freising. Der Mann, drahtig, Brille, feines
Gesicht, ist Krankenpfleger. Zwölf Jahre lang war er in diesem Beruf tätig,
in einer Klinik, im Hospiz, in der Hauskrankenpflege. Eloquent ist er,
zugewandt, man redet gerne mit ihm. Examinierter Pfleger – solche Leute
werden händeringend gesucht.
Doch Freising, 50 Jahre alt, ist seit zehn Jahren Hartz-IV-Empfänger.
Er gehört zu den Langzeitarbeitslosen, denen es nicht mehr gelingt, aus der
Statistik der Arbeitsagentur zu verschwinden, auch wenn die Wirtschaft
boomt und allenthalben Fachkräftemangel herrscht. Fast 850.000 Menschen
sind es, die in Deutschland schon länger als ein Jahr ohne Job sind. Über
200.000 haben sogar seit mehr als vier Jahren keine Stelle.
Woran das liegt? Manchmal passt der Mensch nicht mehr zum Arbeitsmarkt. Und
umgekehrt. „Mismatch“ – „Nichtübereinstimmung“ nennt man das
Auseinanderklaffen von Arbeitskräfteangebot und Nachfrage. Die Gründe dafür
können in der Person der Arbeitslosen liegen, einerseits. Oder in den
Anforderungen der Arbeitgeber, andererseits. Oder manchmal auch in beidem.
Man trifft Freising im „Kommrum“ in Berlin, einem Treff für psychisch
Erkrankte. Heute gibt es hier ein Frühstück für alle BesucherInnen.
Freising hilft mit, es ist ein kleiner Hinzuverdienst. Er kocht Tee und
Eier, legt Scheibenkäse auf die Platten, räumt Geschirr ab, setzt sich zu
den Gästen. Man spürt, dass Freising eine soziale Ader hat.
Was ist passiert?
„Ich bin ja schon aus einer Lebenskrise heraus in meine Ausbildung
gegangen“, erzählt Freising, der in Wirklichkeit anders heißt. Er hatte
nach einem Zusammenbruch einige Wochen in einer psychiatrischen Klinik
verbracht. 23 Jahre war er da alt. Schon seit seiner Jugend litt er unter
Ängsten, konnte manchmal nicht vor die Tür gehen, sich nicht in Gruppen
aufhalten. In der Klinik fiel den Pflegern auf, dass er sich viel um
Mitpatienten kümmerte. „Man schlug mir vor, doch eine Ausbildung zum
Krankenpfleger zu machen“, sagte Freising. Ein krisenfester Job.
Aber auch ein harter Job für jemanden, bei dem eine Angststörung
diagnostiziert wurde. Freising schaffte das Examen, fing in einem
Krankenhaus an, auf der Station für Innere Medizin und wechselte dann in
die Onkologie. Er reduzierte seine Arbeitszeit auf 30 Wochenstunden, wegen
der Belastung. Noch hielt er die Balance zwischen Job und Seele.
An Energie mangelte es ihm nicht. Er machte während des Klinikjobs den
Heilpraktikerschein. Nahm Sonderurlaub, um das Fachabitur nachzuholen.
Notendurchschnitt 1,4. Er begann schließlich ein Studium der
Pflegewissenschaften. Es klappte nicht. Ein Referat zu halten vor 40
Menschen, das sei bei seinen Phobien „einfach nicht möglich gewesen“,
erzählt Freising.
Dabei unternahm er einiges gegen seine Ängste, übte Tai Chi, fuhr Rennrad,
ging zum Atemtherapeuten, machte ein Redetraining, eine Psychotherapie.
Aber der Kampf mit den inneren Dämonen kostet viel Energie. Die dann für
den Job nicht mehr zur Verfügung stehen.
Freising ging in die Hauskrankenpflege, erhoffte sich davon Entlastung.
Doch auch in der ambulanten Krankenpflege ist das Tempo hoch, Freising
hetzte von PatientIn zu PatientIn. „Man ist ziemlich allein in der
Hauskrankenpflege“, erzählt er. Es war nicht das Richtige.
Er fing im Lazarus-Hospiz in Berlin an. Dort wohnen Menschen in
Grenzbereichen, zuerst gefiel es ihm. Aber irgendwann stellte er fest,
„dass ich wuschig wurde“, schildert er die Veränderung. Sein Ordnungssinn
ließ zu wünschen übrig. Es kam zu Nachlässigkeiten. Sein Zeitvertrag wurde
nicht verlängert. Im nächsten Job, wieder eine Hauskrankenpflege, machte er
Fehler, vergaß Patienten. Man kündigte ihm. Ein Hörsturz folgte, dann der
Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik. Arbeitslosengeld. Dann Hartz
IV.
Sein Leben stand an einem Wendepunkt. „Ich wollte nicht mehr in die
Krankenpflege“, sagt Freising. Er hielt sich selbst nicht mehr für
zuverlässig genug. Die Sachbearbeiterin im Jobcenter bemühte sich. Es
folgten Berufsorientierungskurse, ein Umschulungsversuch zum
Fahrradmechaniker, ein Orientierungspraktikum für den Beruf als Erzieher.
Die Maßnahmen kamen und gingen, Hartz IV blieb.
Freising mit seiner zerbrechlichen Seele passte nicht mehr in den ersten
Arbeitsmarkt, zu den Jobs, die ihm noch offen gestanden hätten. Es war, als
wäre eine Verbindung gekappt. Irgendwann kam er ins Kommrum. Da waren
Gemeinschaft, Ansprache, ein bisschen Hinzuverdienst. „Hier fühle ich mich
zu Hause“, sagt Freising. Es war eine Befreiung, es ist ein Schutzraum,
einerseits. Aber man kann es auch als Einbahnstraße betrachten,
andererseits. „Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen können es
einfach nicht mehr in den ersten Arbeitsmarkt schaffen“, sagt Franka
Kretteck, Leiterin der Beschäftigungsprojekte im Kommrum.
Wer mit den BesucherInnen im Treff spricht, dem wird klar, dass man diese
Hartz-IV-EmpfängerInnen mit „mehr Druck“, wie es manche Politiker fordern,
nicht mehr in die Wirtschaft bringt. Denn der Druck war es ja, warum die
Leute rausgefallen sind aus ihren Jobs.
## Simona Heidinger aus Mecklenburg
Simona Heidinger, 53 Jahre alt, rot gefärbte Haare, schlanke Statur,
gesunde Hautfarbe, hat aus ganz anderen Gründen ihre Arbeit verloren. Auch
sie bezieht seit vielen Jahren Hartz IV.
Man trifft sie in der Kleiderkammer in Gadebusch, einer Kleinstadt in
Mecklenburg-Vorpommern. Sie hat in der sozialen Einrichtung einen
Ein-Euro-Job, sortiert gespendete Kleidung, stapelt T-Shirts, beschriftet
die Regale. An vier Tagen in der Woche arbeitet sie dort jeweils sieben
Stunden lang, freitags außerdem einige Stunden in einer kleinen Wäscherei
in der Nähe. Obwohl sie langzeitarbeitslos ist, ist sie also etwa 32
Stunden in der Woche beschäftigt. Mit diesen Hinzuverdiensten und dem
Hartz-Regelsatz kommt sie auf 636 Euro plus ihre Warmmiete, Strom muss sie
selbst zahlen.
„Es ist traurig, dass man auf Ein-Euro-Jobs zurückgreifen muss“, sagt
Heidinger. Ihre Stimme ist rau, manchmal muss sie husten „wegen meiner
kaputten Bronchien“, sagt sie. Bei der Frage, wie sie die Beschäftigung in
der Kleiderkammer findet, ist sie hin- und hergerissen. Einerseits sei das
Miteinander mit den Kollegen gut. Andererseits sagt sie über ihre
Tätigkeit: „Man fühlt sich zwischen nutzlos und ausgenutzt.“ Nutzlos, weil
sie nichts anderes, keine richtige Arbeit findet. Ausgenutzt, weil sie für
jede Stunde Arbeit nur einen Euro erhält. „Obwohl man ja noch den
Harz-IV-Satz vom Jobcenter bekommt, bleibt dieses blöde Gefühl während der
Arbeit doch immer im Hinterkopf,“ sagt sie.
Heidinger verbrachte ihre Kindheit in einem Dorf in der Nähe, zwei
Kilometer entfernt von der deutsch-deutschen Grenze. Als sie 15 Jahre alt
war, zog die Familie nach Gadebusch. Nach der Polytechnischen Oberschule
machte Heidinger eine Lehre zur Facharbeiterin für Lederwaren. Nach der
Lehre bekam sie einen Sohn und nahm eine Stelle in einer örtlichen
Schuhfabrik an. Später leitete sie eine Mitarbeiterkantine in einem
Asphaltmischwerk.
Nach der Wende war damit Schluss: Das Mischwerk wurde 1991 geschlossen,
ähnlich erging es der Schuhfabrik. Ihre Ausbildung als Facharbeiterin für
Lederwaren war nicht mehr gefragt.
Das Arbeitsamt organisierte damals eine Umschulung zur Industriekauffrau,
die Heidinger erfolgreich absolvierte. „Aber die war für die Katz“, sagt
sie. Erstens, weil es in Mecklenburg-Vorpommern seit der Wende noch weniger
Industrie gibt. Und zweitens, weil die Arbeitgeber keine frisch Umgeschulte
wollten. „Es hieß immer: nur mit Erfahrung“, sagt Heidinger dazu. „Wie s…
ich denn Erfahrung sammeln, wenn ich nirgendwo anfangen darf?“
Also folgten weitere Maßnahmen: Fortbildungen,
Arbeitsbeschaffungsprogramme, Ein-Euro-Jobs, gelegentliche befristete
Arbeiten von sechs Monaten oder einem Jahr, nie länger. Fragt man sie nach
ihrem Wunschberuf, sagt sie: „Verkauf wäre ganz gut.“ Als Industriekauffrau
finde sie heute eh nichts mehr, glaubt sie.
Heidinger hat eine resolute Art, sie tritt selbstbewusst und pragmatisch
auf. Depressionen sind unter Menschen, die schon so lange arbeitslos sind,
weit verbreitet. Heidinger hat es geschafft, stabil zu bleiben.
Warum zieht sie nicht weg aus der Kleinstadt mit ihren 6.000 Einwohnern, in
eine Stadt mit mehr Jobs? Beim Interview in der Bäckerei des Ortes geht die
Tür auf. Heidinger grüßt die blonde Frau, die hereinkommt, freundlich. „Das
ist eine, die beim Jobcenter arbeitet“, erklärt sie. Obwohl sie vor einer
halben Stunde zugegeben hat, dass sie den Jobcentermitarbeiterinnen in
verzweifelten Momenten manchmal „den Teufel an den Hals wünsche“, sagt sie
nun: „Sehr nette Person.“ Dass man sich über den Weg läuft, die Intimität
der Kleinstadt, gefällt ihr. „Gadebusch ist noch ein Ort, da grüßt man
sich. Man hält auch mal einen kleinen Schwatz“, sagt sie. In einer anonymen
Großstadt würde sie es nicht aushalten.
Ihre Verwurzelung in Gadebusch ist aber auch einer der Gründe, warum
Heidinger arbeitslos geblieben ist. In Mecklenburg-Vorpommern ist die
Arbeitslosenquote drei Prozentpunkte höher als im Bundesdurchschnitt.
Gadebusch gehört nicht zu den besonders abgeschlagenen Regionen, aber für
einen Verkaufsjob für Heidinger reicht es trotzdem nicht.
Das liegt auch daran, dass Heidinger in der Sprache des Jobcenters eine
„Person mit multiplen Vermittlungshemmnissen“ ist. Ihr Alter von 53 Jahren
zählt zu diesen Vermittlungshemmnissen, der Umstand, dass sie aufgrund
kranker Bronchien körperlich nur eingeschränkt belastbar ist, und
schließlich die Tatsache, dass sie schon seit der Wende ohne Job ist.
„Wenn ich innerhalb eines Jahres vom Jobcenter drei Stellen vorgeschlagen
kriege, ist das schon viel“, konstatiert sie. Zuletzt hat sie sich in
Eigeninitiative vor vier Wochen beworben, aber wie meist hat sie nicht
einmal eine Absage erhalten. „Hier in der Region habe ich alles durch“, ist
ihr Fazit.
Für eine Arbeit den Wohnort zu wechseln, kommt für Heidinger aber nicht in
Frage. Einmal habe das Jobcenter ihr das vorgeschlagen. Damals war sie noch
mit ihrem Partner zusammen, ihr Sohn war klein. Sie hat abgelehnt. Und
jetzt, wo sie älter ist, wolle sie erst recht nicht wegziehen. Ihre Eltern
wohnen noch im Ort, ihr Sohn und zwei Enkel ebenso.
Und ihren Radius ausweiten, in der weiteren Umgebung suchen? Der
Vorsitzende des Jobcenters Nordwestmecklenburg, Martin Greiner, findet, das
könne man von jedem erwarten. Hamburg oder Lübeck seien schließlich nicht
weit. „Menschen, die mobil sind, sollten derzeit eigentlich keine Probleme
haben, etwas zu finden“, sagt er.
Zweieinhalb Stunden Pendelzeit, inklusive Hin- und Rückfahrt, sieht das
Jobcenter als „zumutbar“ an. Von Gadebusch nach Hamburg braucht man mit dem
Auto 80 Minuten, nach Lübeck 45. Mit dem Zug sind es in beide Orte zwei
Stunden. Heidinger hat ein Auto, es ist 16 Jahre alt. Es gibt Leute, die
fahren nach Hamburg zum Arbeiten, sagt Greiner, sogar für einen schlecht
bezahlten Job. Heidinger würde sich nicht darauf einlassen. „Wenn die
jungen Leute das machen wollen, bitte sehr.“
## Tülay Canlan aus Braunschweig
Tülay Canlan aus Braunschweig hat weder ein Auto noch einen Ein-Euro-Job.
Aber viel Zeit. Die 44-Jährige fährt jeden Morgen mit dem Fahrrad von ihrer
Wohnung in den Tagestreff „Iglu“.
Der Tagestreff, der an einer lauten Straße in der Nähe des Busbahnhofs
liegt, verfügt über eine große Fensterfront, Licht flutet herein. Die
Stimmung ist gelöst. An zwei großen Holztischen sitzen zehn Personen und
unterhalten sich, einige ältere Männer spielen Karten. Neben den meisten
stehen große Plastiktragetaschen: Dienstags ist Tafel im Iglu, es gibt
gespendete Lebensmittel. Canlan kommt für die Tafel und die Gesellschaft in
den Treff. Sie begrüßt eine Bekannte mit Küsschen, aber ihre Augen sind
müde und gerötet. Sie hat, wie in vielen Nächten, schlecht geschlafen.
Ihren letzten Vollzeitjob hatte sie vor etwa 20 Jahren. Canlan stammt aus
Braunschweig und hat dort einen Hauptschulabschluss gemacht. Nachdem sie in
ihrer ersten Lehre zur Damenschneiderin die Abschlussprüfung zweimal nicht
bestand, fing sie im örtlichen Hotel Mercur eine Lehre zur Hotelkauffrau
an, die sie erfolgreich abschloss. Danach wurde sie übernommen. Etwa acht
Jahre arbeitete Canlan in dem Hotel. „Ich war fest und sicher und habe mich
wohl gefühlt“, sagt sie über diese Zeit.
Dass sie ihren festen Job verlor, hing mit ihrer Ehe zusammen. Ihr Ehemann
habe sie geschlagen und vergewaltigt, sagt Canlan. Anzeige bei der Polizei
hat sie deshalb bis heute nicht erstattet, aber nach zwei Jahren Ehe
brachte sie sich vor ihm in Sicherheit. Sie ging in ein Frauenhaus nach
Hannover um „mich vor ihm zu verstecken“, wie sie sagt. In ihren Zwanzigern
war sie da, mit den Erinnerungen von damals hat sie heute noch zu kämpfen.
Nach dem Scheidung kam sie nach Braunschweig zurück. „Den Sprung“, wie
Canlan es nennt, in ein Leben ohne Hartz IV oder Aufstockung vom Arbeitsamt
hat sie nicht mehr geschafft. Ihren Vollzeitjob im Hotel Mercur bekam sie
nicht wieder. Kurz vor ihrem Weggang nach Hannover waren ihr Asthma und
Rückenprobleme attestiert worden. Sie durfte nicht mehr schwer heben – eine
große Einschränkung bei der körperlichen Arbeit im Gastgewerbe.
Später bekam Canlan Diabetes und erlitt zwei Schlaganfälle. Sie kommt
manchmal durcheinander beim Erzählen, nennt zum gleichen Ereignis zwei
unterschiedliche Jahreszahlen. Seit einem halben Jahr hat sie einen
amtlichen Betreuer, der einen Teil ihrer Formalien regelt. Im Moment geht
es Canlan psychisch nicht gut. Sie fühlt sich depressiv, ein Psychologe
bestätigte dies.
Nach ihrer Rückkehr nach Braunschweig arbeitete sie zumindest am Wochenende
einige Stunden als Aushilfe weiter im Mercur, bis sie es wegen ihres
Asthmas nicht mehr in der Küche aushielt. Danach folgten Ein-Euro-Jobs, zu
Weihnachten Saisonarbeit in einem Kaufhaus. Zwischendurch hat sie als
Reinigungskraft in Teilzeit gearbeitet – beim Putzen müsse man wenigstens
nicht heben. Lange bleiben konnte sie nirgends.
Damals hatte Canlan Vorstellungen entwickelt, um auf dem Arbeitsmarkt
besser dazustehen: Sie wollte den Realschulabschluss an der Abendschule
nachholen, eine Ausbildung zur Kosmetikerin oder als Pflegeassistentin
machen. Das Jobcenter hat mit Verweis auf ihren Gesundheitszustand und ihre
gescheiterte erste Lehre in allen Fällen eine Finanzierung abgelehnt. „Mit
dem Jobcenter habe ich immer Probleme“, sagt sie. Mit einigen Arbeitgebern
auch. Wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt, schaffe sie es nicht „den
Mund zu halten“.
Auf ihrer letzten Teilzeitstelle als Reinigungskraft in einem Altenheim
wurde sie fristlos gekündigt. Canlan sagt, der Arbeitgeber habe ihr Gehalt
nicht bezahlt, auch nachdem sie mehrmals darauf hingewiesen hatte. Weil sie
vom Jobcenter nur noch die Aufstockung kam, reichte das Geld nicht mehr.
„Aus Protest“ ist sie einen Tag zu Hause geblieben, am nächsten Tag sei sie
entlassen worden. Das Gehalt wurde später nachgezahlt.
Vor zwei Wochen bekam Canlan von einem Arzt eine neue „sozialmedizinische
gutachtliche Stellungnahme“. Im letzten Gutachten hatte noch gestanden,
dass sie „vollschichtig“ arbeitsfähig sei. In diesem heißt es nun, dass s…
nur weniger als drei Stunden am Tag arbeiten sollte. Canlan kann nicht
nachvollziehen, warum die Ergebnisse der beiden Atteste so weit auseinander
liegen. Sie hadert mit ihren Krankheiten und damit, dass ihre Fortbildung
deshalb vom Arbeitsamt abgelehnt worden ist.
Wer nicht einmal mehr drei Stunden am Tag arbeiten kann, erhält kein Hartz
IV mehr, sondern nur noch die Grundsicherung „bei voller Erwerbsminderung“,
wie es heißt. Vermutlich wird Canlan aufgrund ihrer schlechten
Gesundheitszustands also demnächst frühverrentet werden. Finanziell würde
es keinen wesentlichen Unterschied bedeuten. Aber es würde heißen, dass das
Jobcenter nicht mehr für Canlan zuständig ist, eine Schulung irgendeiner
Art wäre ausgeschlossen.
In der Statistik der Langzeitarbeitslosen käme Tülay Canlan dann nicht mehr
vor.
3 Jun 2018
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
Hannah Bley
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