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# taz.de -- Welttag der Suizidprävention: Das größte Geheimnis
> Wenn Menschen Suizid begehen, bleiben Familie und Freund*innen zurück.
> Unsere Autorin verlor ihre Mutter und war jahrelang allein damit.
Bild: „Später zünde ich eine Kerze an, für Vincent und für meine Mutter“
Es ist April im Jahr 2020. Das Wörterbuch meines Smartphones kennt das Wort
suizidieren nicht. Es kennt das Wort Suizidant*in nicht. Und das hat
Gründe.
Es war April im Jahr 2006, als der Ex-Mann meiner Mutter, mein Vater, vor
mir stand und sagte: „Pack deine Sachen, wir müssen gehen!“ Ich stand
verwirrt in einem Geschäft, in welchem ich neben dem Fachabitur arbeitete,
zog auf dem Weg in das nächstgelegene Café Gedanken in Endlosschleife
hinter mir her. Und hier, in einer Einkaufspassage, sollte sich alles,
alles ändern. Ich setzte mich auf einen Barhocker, Menschen gingen mit
Einkaufstüten an mir vorbei. „Die Monika ist tot“, sagte mein Vater, ganz
unvermittelt, hilflos, überfordert.
„Mama!“, schrie ich, aber es blieb im Kopf. Das war das Schlimmste. Es
blieb einfach im Kopf.
Ich weiß noch, dass ich so geschockt war, so plötzlich gebrochen, dass mir
das kurze und spontane Weinen nicht unangenehm war. „Ich will jetzt gehen“,
sagte ich zu meinem Vater. Alles, was dann passierte, weiß ich noch, als
wäre es erst gestern gewesen: die Straßen, die Menschen, die Straßenbahn:
Die Monika ist tot. Es war Frühling, ich war 19 Jahre alt und plötzlich
Halbwaise. Das Wort kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
## Wer war ich ohne sie?
Mama! Ein Wort, meistens unachtsam gerufen. In meinem Fall häufig eine
fassungslose Anklage. Dennoch war auch für mich dieses Wort Teil meines
Alltags und der Beleg einer beidseitigen Beziehung. Und ausgerechnet ich
verlor an diesem Tag die Adressatin und das Wort verlor damit seinen
eigentlichen Sinn: Es war für mich nur noch eine Hülse. Mein aktiver
Wortschatz wurde beschnitten. Ich hatte eine Identität verloren. Wer war
ich ohne sie? Was ist eine Tochter ohne die Mutter? Gibt es so etwas
überhaupt?
Ich schwitze Angst, während ich diesen Text schreibe. Draußen herrscht
Covid-19, hier drinnen herrschen die Erlebnisse von mir, damals 19. Ich
erinnere mich an Fassungslosigkeit, Wut, Empörung. Aber auch:
Erleichterung. Endlich hatte sie es geschafft! Es war ja schließlich nicht
ihr erster Versuch. Und es wäre nicht das erste Mal, dass darüber so gut
wie gar nicht gesprochen, schlimmer noch, dass dem Suizid ein Vielleicht
danebengestellt wurde. Denn ihr Tod konnte mir nur Wahrscheinlichkeiten
anbieten. [1][„Der Suizid ist das größte Geheimnis“,] diesen Satz werde i…
viel später erst kennen und verstehen lernen.
Dreizehn Jahre später. Ich beginne mich als das zu begreifen, was ich in
diesem Kontext auch bin: die Hinterbliebene einer Suizidantin. Dreizehn
Jahre später sitze ich an dem Tisch von Ursula Großkreutz. [2][Sie ist seit
2013 die Gruppenleiterin von Agus e. V. in Düsseldorf,] dem Verein
Deutschlands, welcher sich um Hinterbliebene von Suizidant*innen kümmert.
Das Herz tobt, der Kopf pulsiert. Bevor es zu diesem Treffen kam,
telefonierten wir. Ich bin Journalistin, sagte ich, und meine Mutter hat
Selbstmord begangen.
„Also erst mal“, sagt Großkreutz, „heißt es nicht Selbstmord!“ „War…
will ich wissen. Großkreutz überlegt und sagt: „Der Begriff ‚Mord‘ ist …
rechtswissenschaftlicher. Ein Mord ist ein krimineller Akt“, sagt sie. „Und
das ist der Suizid nicht.“ Über Begrifflichkeiten und anderes spricht
Großkreutz auch in der Selbsthilfegruppe, zu der sie durch ihr eigenes
Schicksal gekommen ist. Ihr Sohn, Vincent, suizidierte sich 2007. Er wurde
23 Jahre alt.
Ein Hauptthema in der Selbsthilfegruppe ist Schuld. „Das ist das Erste, was
abgebaut werden muss“, so Großkreutz. Besonders vonseiten der Gesellschaft
sei das ein Problem. Und das, obwohl die Zahlen deutlich sprechen. In
Deutschland sterben jährlich mehr Menschen durch Suizid als an
Verkehrsunfällen, Drogen, AIDS und Mord zusammen.
Im Alter von 15 bis 24 ist Suizid die häufigste Todesursache. Im Jahr 2018
waren es 9.396 und damit über 25 Menschen pro Tag, im Jahr 2006 lag die
Zahl bei 9.765. „Es ist wichtig“, sagt Großkreutz, „dass wir klar über …
Suizid reden und der Gesellschaft vermitteln, dass der Hintergrund meistens
eine Krankheit, Terror im Kopf, und nicht irgendeine Laune ist. Dann ist
der Suizid manchmal der letzte selbstbestimmte Akt. Und: Er ist das größte
Geheimnis.“
## Stigmatisierung produziert Unvermögen
Auch psychische Erkrankungen in Deutschland nehmen immer mehr zu. Die
meisten meiner Freund*innen, mich eingeschlossen, sind oder waren bereits
in Therapie oder hatten einen stationären Aufenthalt in Psychiatrien oder
psychosomatischen Kliniken hinter sich. Für uns: Normalität. Für die
Gesellschaft: Stigma.
Für mich war nach dem Tod meiner Mutter die einzig möglich erscheinende
Verarbeitung Verdrängung. Dann kam die panische Angst in diversen Gewändern
daher. Es gab den einen Punkt, an dem sie sich bis zur Unaushaltbarkeit
geschraubt hatte. An diesem Tag telefonierte ich die Liste an
Therapeut*innen ab.
Stigmatisierung produziert Unvermögen, selbst in professionellem Kontext.
Ich löste mit Unterstützung von Freund*innen die Wohnung meiner Mutter auf
und fehlte in der Schule. Ich war 19 und musste mich selbst entschuldigen.
„Meine Mutter ist gestorben“, sagte ich. Eine Lehrerin fragte: „Aha, woran
denn?“ Erschrocken und plötzlich wach sagte ich: „Sie hat sich das Leben
genommen.“ Noch heute weiß ich, wie sie mich ansah und sagte: „Ich dachte,
Mütter machen so was nicht.“ „Das dachte ich auch“, sagte ich. Vielleicht
glaubte ich das wirklich, vielleicht war es auch nur Schlagfertigkeit.
Es ist heutzutage noch schwierig für mich, eine angemessene Antwort zu
finden, wenn jemand, der mich und meine Geschichte nicht kennt, nach meiner
Mutter fragt. Bei ersten Dates, auf Partys, an Spieleabenden. Ich zögere
dann, weniger aus Angst vor meiner Reaktion, mehr aus Angst vor der
Reaktion der anderen. Meine Mutter hat sich suizidiert. Oft sind die
Gesprächspartner*innen geschockt und ratlos, teils auch peinlich
berührt, sodass ich automatisch beginne zu relativieren. Beispielsweise
indem ich hinzufüge, dass sie ihrer Mutterrolle bereits sehr früh nicht
gerecht wurde. Das Sprechen über ihren Suizid an sich, wenn er einmal mit
im Raum ist, finde ich oft sogar heilsam. Besonders dann, wenn Menschen
bedachte Fragen stellen, beispielsweise, wie es für mich heute ist, darüber
zu sprechen, oder wie ich es damals erlebt habe.
## Keine Privatsache
„Ich wünsche mir, dass sich die Menschen so weit öffnen, dass sie
individuell nachfragen und wirklich Interesse haben, bevor sie ein
schnelles Urteil fällen“, sagt Großkreutz. „Dass wir so einen Dialog füh…
können, wie wir ihn jetzt führen, das wünsche ich mir!“ Woran liegt das,
frage ich mich? Das ähnliche Schicksal? Sicher nicht. So ein Gespräch habe
ich in meiner Familie nicht geführt.
Später zünde ich eine Kerze an, für Vincent und für meine Mutter. Für zwei
von etwa 10.000 Menschen, die sich jährlich suizidieren. Und dann denke ich
an Ursula Großkreutz, an mich und all jene, die jemanden kennen, der_die
sich suizidierte. Ich denke an diese Gesellschaft und an ihre
Verantwortung. Psychische Erkrankung und Suizid sind keine Privatsache,
auch wenn sie als Themen in der heutigen Leistungsgesellschaft wenig Platz
finden. Ich wehre mich gegen ihre Privatisierung.
Nach dem Tod meiner Mutter wurde sehr schnell so getan, als hätte es sie
und den Suizid nie gegeben. Aber: Es gab sie. Ich bin der lebende Beweis.
Sprechen wir darüber.
10 Sep 2020
## LINKS
[1] /Isabel-Bogdan-ueber-ihren-Roman-Laufen/!5704874
[2] https://www.agus-selbsthilfe.de/aktuelles/news/who-suizidpraeventionstag/ne…
## AUTOREN
Nina Höhne
## TAGS
Suizid
Trauma
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