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# taz.de -- Nach Solingen-Berichterstattung: Boykottiert „Bild“!
> Das Boulevardblatt hat sich in Berichten über den Tötungsfall in Solingen
> erneut selbst unterboten. Warum bekommt es noch Politiker-Interviews?
Bild: Pressesprecher der Polizei Wuppertal im Gespräch mit einem „Bild“-Re…
Der Begriff „Witwenschütteln“ steht für niederträchtigsten
Boulevardjournalismus: Hinterbliebene werden von JournalistInnen bedrängt,
bis sie herzzerreißende Details und rührende Fotos rausrücken. Die Bild hat
es gerade geschafft, diese Praxis noch zu unterbieten. [1][In Solingen, wo
vergangene Woche eine Frau mutmaßlich fünf ihrer Kinder getötet hat] und
danach Suizid begehen wollte, haben Bild-Reporter keine Witwe, sondern ein
Kind geschüttelt.
[2][Die Redaktion veröffentlichte am Freitag private Whatsapp-Nachrichten,
die das einzig überlebende Kind einem Freund geschrieben haben soll],
nachdem es vom Tod seiner Geschwister gehört hatte. Auch RTL hat diesen
Freund interviewt – einen 12-Jährigen. Kurz nach einem Fünffachmord. Wie
verroht muss man sein, um so ein Interview zu führen? Sitzt in diesen
Redaktionen niemand mit Anstand, Empathie und Berufsehre? Welche Erkenntnis
erhoffen sich die ReporterInnen? Worin besteht das öffentliche Interesse?
Im Suhlen in Grausamkeit?
Der [3][Pressekodex] schreibt vor, dass die Identität von Opfern, besonders
von Kindern, geschützt werden soll. Dass es keine
Sensationsberichterstattung geben darf; dass bei der Recherche über
schutzbedürftige Personen besondere Zurückhaltung geboten ist; dass über
Suizide keine detaillierten Schilderungen veröffentlicht werden sollen.
Nun. Einer der Texte der Bild heißt; „Sie deckte den Frühstückstisch, dann
erstickte sie ihre Kinder“, dazu ein Hochzeitsfoto der Mutter.
Durch die Berichterstattung über Katastrophen, auch das sagt der
Pressekodex, sollen Opfer nicht zum zweiten Mal zu Opfern gemacht werden.
Was aber passiert mit einem Elfjährigen, dessen Geschwister getötet wurden,
und dessen verzweifelte Whatsapp-Nachrichten in der Bild-Zeitung stehen?
Julian Reichelt, der Bild-Chefredakteur, wird emotional, wenn er erzählt,
welch großes menschliches Leid er als Kriegsreporter gesehen hat. Es macht
ihm offenbar nichts aus, dass seine Zeitung menschliches Leid regelmäßig
vergrößert.
## Die Zeit der „Bild“ ist vorbei
Die Bild hat den Text mit den Whatsapp-Nachrichten und den Tweet dazu
mittlerweile gelöscht. Das Video „Vor der Tür stehen noch die Schuhe der
toten Kinder“ mit einem Foto vom Schuhregal ist noch online. [4][Es ist
nicht das erste Mal, dass die Bild das Schicksal von toten Kindern
ausschlachtet], und es wird nicht das letzte Mal sein. Trotz allem spielt
die Bild immer noch oben mit, bekommt exklusive Interviews mit Promis und
Politikern.
Damit muss Schluss sein. Jeder sollte dieses Blatt boykottieren:
LeserInnen, indem sie kein Geld dafür ausgeben, JournalistInnen, bei Bild
oder Springer, indem sie sich einen anderen Job suchen. Unternehmen, indem
sie dort keine Anzeigen schalten, und PolitikerInnen, indem sie dem Blatt
keine Interviews mehr geben.
Das tut noch nicht einmal weh: Die Auflage der Zeitung stürzt steil ab. Die
Zeiten, in denen PolitikerInnen die Bild zum Regieren brauchten, wie
Gerhard Schröder behauptete, sind längst vorbei. Die Zeit der Bild ist es
auch.
6 Sep 2020
## LINKS
[1] /Kindstoetungen-durch-die-Mutter/!5712466
[2] https://bildblog.de/123780/bild-zeigt-private-whatsapp-nachrichten-eines-ki…
[3] https://www.presserat.de/opferschutz-taeterschutz.html
[4] https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/fluechtlings-drama-diskussi…
## AUTOREN
Anne Fromm
## TAGS
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