# taz.de -- Medienethik-Debatte nach Nizza: Drei, zwei, eins – live | |
> Welche Videos und Bilder dürfen nach Anschlägen gezeigt werden? Eine | |
> moralische Frage, die längst nicht mehr nur JournalistInnen betrifft. | |
Bild: Die Strandpromenade von Nizza | |
[1][Darf man das zeigen?] Nach dem Anschlag in Nizza, wird erneut die immer | |
und immer wiederkehrende medienethische Frage nach Terroranschlägen | |
aufgeworfen. Schon 2001, bei den Angriffen auf die Twin Towers in New York, | |
soll das Ziel danach ausgesucht worden sein, das garantiert sei, dass die | |
Bilder davon um die Welt gehen würden: sehr viele Touristen gleich viele | |
Kameras. | |
Außerdem waren die großen Fernsehsender und Agenturen gleich um die Ecke. | |
Sie hatten damals quasi ein Monopol auf die reichweitenstarke Verbreitung | |
von Bewegtbildern. Wie gesagt: 2001, eine Zeit vor Smartphones und | |
massenhaft Videocontent im Netz, als man fast jede Bestellung noch mit | |
einem unterschriebenen Fax bestätigen musste. | |
Heute hat niemand mehr ein Monopol darauf. Die Journalisten sind als | |
Gatekeeper ausgeschaltet. Wer Bilder, Texte und vor allem Videos, die | |
emotional wohl wirksamste Darstellungsart, verbreiten will, kann es. | |
Einfach so: Smartphone, Twitter, Facebook, du bist live in drei, zwei, | |
eins. | |
Die zynische Rechnung ist aus Sicht der Attentäter noch simpler geworden: | |
Sehr viele Menschen gleich sehr viele Kameras gleich sehr viel | |
Öffentlichkeit. Das ist übrigens die gleiche Logik, nach der auch jede | |
Werbeagentur oder Organisation versucht, mit geringem Mitteleinsatz aus | |
einem lokalen Ereignis zumindest ein überregionales wenn nicht gar globales | |
zu machen. | |
## Ethische Frage – ohne „medien“ | |
Und so ist aus der einst medienethischen Frage längst eine ethische Frage | |
geworden, eine moralische. Wenn man mal annimmt, dass das „medien-“ | |
einstmals für die großen Massenverbreiter galt: fürs Radio, fürs Fernsehen, | |
fürs Zeitungen, für deren Macherinnen und Macher, die sich besser ein, zwei | |
Gedanken machen sollten, bevor sie etwas in die Welt hinausbliesen. | |
Das nimmt Journalisten nicht aus der Pflicht, zu denken. France 2 zeigte | |
Todesopfer und Verletzte in Nahaufnahme. Eine ziemlich eindeutige | |
Grenzüberschreitung. [2][Der Sender entschuldigte sich später dafür]. | |
Auch der [3][ARD-Kollege Richard Gutjahr] war in Nizza, als der Fahrer mit | |
seinem LKW die Menschen an der Promenade überrollte. Er schrieb darüber bei | |
[4][Twitter]. Er filmte. Aber: Er sendete nichts live. Er stellte nichts | |
von sich aus in die sozialen Netzwerke. Er schickte sein Material an die | |
Redaktionen von WDR und Bayerischem Rundfunk und an ARD-aktuell. Die | |
sollten sichten, entscheiden. | |
Teile davon wurden zu den ersten Videobildern, die die ARD in der Nacht | |
sendete. Darauf zu sehen: Ein weißer LKW, fliehende Menschen, in einiger | |
Entfernung auch Opfer, die auf dem Asphalt liegen. Sie sind nicht | |
identifizierbar. Zu hören: Schreie und Schüsse. Gutjahr wurde via | |
Liveschalte von der Moderatorin befragt. Die klassische Arbeit des | |
Fernsehreporters. | |
## Wichtige Auseinandersetzung – für jedeN | |
Gutjahr hat nachgedacht. Das war gut. Dennoch musste er sich kurz darauf | |
den Fragen einiger Nutzer stellen, ob diesen seine Bilder gezeigt werden | |
sollten. | |
Es ist völlig okay, solche Fragen zu stellen. Es ist sogar wichtig, solche | |
Fragen zu stellen. Doch sie gingen wohl an den Falschen: „Leute, geht jetzt | |
schon die Ethik-Diskussion los? Habe KEINEN Livestream gemacht. Footage an | |
BR/WDR/ARD geschickt. Dort sitzen Profis“, [5][antworte Gutjahr bei | |
Twitter] kurz nach seiner Schalte im „Nachtmagazin“. | |
Die Auseinandersetzung damit, ob man das oder das oder das zeigen darf, ist | |
eben längst keine mehr, der sich ausschließlich ebenjene Profis stellen | |
müssen. Heute muss sich jede/r selbst fragen, ob das, was er oder sie da | |
verbreitet, dieses Bild oder Video, tatsächlich verbreitet werden sollte. | |
Ob man solche Aufnahmen vom Tod seiner Angehörigen sehen wollen würde? Ob | |
es nicht Besseres zu tun gebe, als sich das Handy zu schnappen und Opfer zu | |
filmen? Niemand kann sich sicher sein (es sei denn, man verbietet es | |
explizit), dass der kleine Videoschnipsel, den man gerade hochgeladen hat, | |
über Teilen, Likes und Retweets mehr Menschen erreicht als es jedes | |
Fernsehnetzwerk kann. Jede/r kann live sein – in drei, zwei, eins. | |
16 Jul 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-199633.html | |
[2] http://www.lemonde.fr/actualite-medias/article/2016/07/15/attentat-de-nice-… | |
[3] https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-199543.html | |
[4] https://twitter.com/gutjahr?lang=de | |
[5] https://twitter.com/gutjahr/status/753721819610378241 | |
## AUTOREN | |
Jürn Kruse | |
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