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# taz.de -- Medien in der Wien-Nacht: Live um jeden Preis
> Bei bedrohlichen Ereignissen wollen Medien rasch informieren und
> missachten dabei oft ethische Grenzen. Auch wieder in der Wien-Nacht.
Bild: Polizei vor der Staatsoper in Wien in der Nacht zum Dienstag
Berlin taz | Zwar kommen nicht zum ersten Mal medienethische Fragen nach
der Berichterstattung über Terroranschläge auf. Die Grenzüberschreitungen
des österreichischen Boulevards scheinen aber nach der [1][Wien-Nacht] neue
Qualitäten erreicht zu haben. Die österreichischen Nachrichtenportale
Oe24.at und krone.at haben in der Nacht auf Dienstag Videoaufnahmen
gezeigt, auf denen zu sehen war, wie auf Menschen geschossen wird. Beide
Medien stehen seitdem in der Kritik. Der österreichische Presserat
vermeldet am Dienstagmittag schon über 1.000 Beschwerden.
Der Presserat hatte bereits in der Nacht, eineinhalb Stunden nach den
ersten Meldungen, via Twitter auf den Persönlichkeitsschutz der Opfer
hingewiesen. Die Selbstkontrolleinrichtung der österreichischen Medien hat
einen journalistischen Ehrenkodex formuliert, dessen Anerkennung allerdings
freiwillig ist. Laut Angaben des Presserats hat sich Oe24.at zur Einhaltung
des Kodex verpflichtet, krone.at hingegen nicht. Die über 1.000 Beschwerden
nennt Alexander Warzilek, Geschäftsführer des Österreichischen Presserats,
gegenüber der taz einen „Rekord“.
Laut Warzilek beklagen die Beschwerden verletzte Persönlichkeitsrechte und
medienethische Grundsätze, aber auch Pietätlosigkeit. „Eine Rolle spielt
natürlich auch, dass die Terroristen damit rechnen, dass das Material
verbreitet wird. Deshalb müssen klassische Medien auf ihre Filterfunktion
achten und überlegen, ob das Gezeigte von öffentlichem Interesse ist“, sagt
Warzilek. Einer der drei unabhängigen Senate des Presserates werde sich nun
im Dezember mit dem Fall beschäftigen, und im Januar 2021 entscheiden.
Am Dienstagvormittag sagten Krone-Chefredakteur Klaus Herrmann sowie Oe24-
und Österreich-Herausgeber Wolfgang Fellner gegenüber der Tageszeitung
Standard, sie hätten die Videos von den Websites genommen. Herrmann
erklärte dabei, dass eine interne Diskussion in der Nacht ergeben habe,
dass sein Medium die „Tatvideos nach bestmöglicher technischer
Entschärfung“ veröffentlichte, „um die Bedrohungslage zu unterstreichen.�…
Fellner verwies gegenüber dem Standard auf andere Medien, die die Videos
auch gezeigt hätten. Zu den ethischen Einwänden sagte er: „Das ist ein
Terroranschlag. Ich glaube schon, dass es zum Verständnis des
Terroranschlags dazugehört, wie der Todesschütze agiert hat.“ Zudem habe
sein Medium „primär den Schützen“ gezeigt.
Eine Entscheidung des Presserats hat derweil nur Mahncharakter, Strafen
kann das Organ nicht erteilen. „Unser schärfstes Mittel ist das
Publikmachen eines Ethikverstoßes. So können wir einen Diskurs in der
Branche anregen. Das kann weh tun und ist nicht zu unterschätzen“, sagt
Warzilek. Der Österreichische Presserat fordert, dass die Mitgliedschaft im
Presserat zum Qualitätskriterium für die öffentliche Presseförderung wird.
Über den aktuellen Fall sagt Warzilek: „Das kann ein Bruch sein. Es ist
schon bemerkenswert, dass die größten Supermarktketten in Österreich bei
diesen Medien keine Anzeigen mehr schalten wollen.“ Tatsächlich reagierte
die Supermarktkette Billa am Dienstagvormittag auf einen Boykottaufruf auf
Twitter, der sich an Unternehmen richtete, die Anzeigen in der
Fellner-Zeitung Österreich schalten. Das Unternehmen erklärte ebenso auf
Twitter, dass es Werbeschaltungen bei beiden Medien einstellen werde. Dem
folgte Spar mit der Erklärung, dass das Unternehmen alle Werbeanzeigen bei
Oe24.at stoppen werde.
## Medienethik in Großlagen
In einer Großnachrichtenlage wie Montagnacht in Wien müssen sich
Redaktionen schnell entscheiden. Die Situation ist von höchstmöglicher
Relevanz, aber gleichzeitig unklar. Während Journalist*innen
Rechercheansätze abwägen, verbreiten sich längst Gerüchte im Netz. Sollten
Medien also möglichst früh berichten, auch wenn sie kaum etwas wissen?
Sollten TV-Sender ihr laufendes Programm unterbrechen? Wer sofort auf
Sendung geht, läuft Gefahr, stundenlang sagen zu müssen, dass man nichts
weiß. Oder schlimmer: Spekulationen und Fakes zu verbreiten. Wer hingegen
abwartet, riskiert, sein Publikum an die Gerüchteküche der sozialen
Netzwerke zu verlieren.
Spätestens seit einigen entscheidenden Ereignissen im Jahr 2016 gibt es
eine medienethische Debatte über die Rolle von journalistischen Medien in
Gefährdungssituationen im digitalen Zeitalter. [2][Der Anschlag von Nizza],
der Amoklauf in München, der Angriff auf den Berliner Weihnachtsmarkt
zeigten: Redaktionen wetteifern mit den sozialen Netzwerken. Entweder, weil
ihnen an sorgfältig recherchierten Informationen gelegen ist – [3][oder
einfach aus Sensationsgier].
Trotzdem gelten Sorgfaltspflichten und medienethische Regeln. Was nicht aus
zwei unabhängigen Quellen bekannt ist, gilt nicht als Fakt. Auch nicht,
wenn es die Polizei oder ein Ministerium meldet. Bei Bildern und
Namensnennungen ist das öffentliche Interesse gegen den
Persönlichkeitsschutz der Opfer abzuwägen. Die Bevölkerung vor Ort muss
schnell informiert werden, damit sie weiß, wie sie sich sicher verhalten
kann. Das ist hier vorwiegend für österreichische Medien relevant, weniger
für die deutschen. Aufnahmen von konkreten Gewalttaten und unverpixelte
Bilder von Opfern können für die Zuschauenden traumatisierend sein und sind
in der Regel nicht entscheidend für die öffentliche Sicherheit, weshalb
hier gilt: [4][Opfer sind nicht sensationalistisch auszustellen]. Was
relativ neu ist: der Versuch, die Täter möglichst wenig in den Mittelpunkt
zu stellen, [5][weil vieles dafür spricht, dass dies Nachahmer motiviert].
## Wie verhielten sich die deutschen Medien?
Die Bild-Zeitung ignorierte die Aufforderung der Wiener Polizei, keine
Videos von der Tat oder den mutmaßlichen Tätern zu teilen. Die Redaktion
veröffentlichte auf seinem Nachrichtenportal Bild.de einen Beitrag, der
vermutlich eine liegende Person in einer Blutlache vor einem Restaurant
zeigt, unterlegt mit roter Schrift: „Erste Videos aus der Terror-Nacht in
Wien“. Ein Beitrag im Videokanal Bild Live war zeitweise sogar mit falschem
Bildmaterial unterlegt. Dort war eine Szene mit Polizisten auf Motorrädern
zu sehen, die von Vermummten angegriffen werden. Das Bildmaterial trägt bei
zur bedrohlichen Stimmung des Beitrags – es stammt aber nicht aus Wien,
sondern zeigt Ausschreitungen in Barcelona.
In anderen Beiträgen wurde spekuliert. „Angriff auf Synagoge in Wien“,
urteilte die Bild-Zeitung. Noch bis zum Redaktionsschluss dieses Textes am
Dienstagnachmittag war unklar, ob die Synagoge bei dem Ereignis überhaupt
eine Rolle spielt. Die österreichischen Behörden wollte einen solchen
Angriff nicht bestätigen. Auch ein von der Bild-Zeitung identifizierter
angeblicher Sprengstoffgürtel erwies sich im Nachhinein als Attrappe.
Aber auch das „heute journal“ um 21.45 Uhr im ZDF verhielt sich fragwürdig.
Weniger als eine Stunde nach den ersten Meldungen war dort ein Video von
einer der Schießereien zu sehen, wacklig und von oben gefilmt. Zu diesem
Zeitpunkt war der Polizeieinsatz noch in vollem Gange.
Die Wiener Polizei hatte deutlich darum gebeten, Videos während des
laufenden Einsatzes nicht zu verbreiten, sondern in einem Upload-Portal den
Ermittler:innen zu Verfügung zu stellen. Auch das „heute journal“ hatte
darauf hingewiesen. Es kann zwar davon ausgegangen werden, dass eine
Redaktion wie die des „heute journals“ zumindest die Echtheit des Videos
zuvor geprüft hatte. Dennoch ist zweifelhaft, inwieweit solche Videos,
mehrfach wiederholt, der Information dienen – oder ob sie nicht genau das
tun, wovor auch der ZDF-Terrorismusexperte warnt: Angst schüren.
Merklich vorsichtiger dagegen waren Montagnacht Zeit Online und Spiegel.de.
Diese Redaktionen verzichteten auf Videos und zählten nüchtern und
transparent Fakten auf. Beide bedienten sich des etablierten Formats „Was
wir wissen / Was wir nicht wissen“, das 2016 aufkam. Textmedien haben
gegenüber dem Rundfunk ohnehin den Vorteil, dass sie nicht unter Druck
stehen, Bewegtbilder vom Geschehen liefern zu müssen.
## Und die Nutzer:innen im Netz?
Dass die Wiener Polizei dazu aufrief, keine Videos und Bilder ihrer
Einsätze in sozialen Medien zu teilen, hat vor allem mit der Sicherheit der
Wiener:innen zu tun. In erster Linie ging es darum, die polizeilichen
Maßnahmen und damit den Schutz der Bürger:innen nicht zu gefährden. Die
Bitte wurde von vielen Nutzer:innen geteilt. Und dennoch waren die
sozialen Netzwerke in der Nacht auf Dienstag voll mit privatem Bildmaterial
mit teils gewaltvollen und expliziten Szenen. Darunter waren Einsätze der
Polizei, Opfer, die in Blutlachen liegen, und auch explizite Bilder, wie
ein Täter auf Passant:innen schießt.
Ein Beispiel ist hierbei das Crisis Response Tool bei Facebook, auf dem
Bewohner:innen Wiens sich in Sicherheit markieren können. Auf der
dazugehörigen Seite fanden sich Infos zur aktuellen Lage, Angebote für
sichere Unterkünfte, aber auch Dutzende gewaltvolle Videos. Einige als
„sensible Inhalte“ markiert, andere waren jedoch auch ohne Warnhinweis
ansehbar.
Obwohl Terrorpropaganda und solch explizite Gewaltinhalte gegen die
jeweiligen Nutzungsbedingungen der Plattformen verstoßen, waren auch am
Dienstag noch zig Videos bei Youtube, Twitter, Facebook und Tiktok zu
finden.
Um diese Videos zu erkennen und zu löschen, setzen die Plattformen auf
[6][Uploadfilter]. Clips werden dabei auf spezifische Inhalte hin
analysiert, also „gehasht“. Diese Hashs werden dann mit neuen Uploads
verglichen und bei Übereinstimmung automatisch gesperrt. Doch es gibt
zahlreiche Möglichkeiten, diese Filter zu umgehen – etwa, indem man Videos
spiegelt oder abfilmt. Deshalb – und auch um die Gefahr der Zensur zu
umgehen, setzen Facebook und Co Mitarbeiter:innen ein, die diese Videos
einzeln sichten und löschen. Sprecher:innen von Facebook und TikTok sagten
auf Anfrage der taz, Moderationsteams seien seit Montagabend mit dieser
Arbeit beschäftigt. Wie viele Videos konkret gelöscht wurden, konnten oder
wollten die Plattformen noch nicht mitteilen.
Es ist bekannt, dass soziale Medien eine elementare Rolle in der
Verbreitung von Terror spielen. Die bisherige Arbeit der Plattformen und
das Appellieren an die Vernunft von Nutzer:innen scheint offenbar nicht
auszureichen, wenn mehr als 12 Stunden später noch immer Videos online
stehen. Uploadfilter könnten technisch verbessert und Moderationsteams
ausgebaut werden, aber das ist ebenfalls umstritten, etwa wegen
Overblocking-Gefahr.
3 Nov 2020
## LINKS
[1] /Terroranschlag-in-Wien/!5725986/
[2] /Medienethik-Debatte-nach-Nizza/!5323665/
[3] /Nach-Solingen-Berichterstattung/!5708395/
[4] /Gewaltdarstellung-im-Journalismus/!5704426
[5] /Amoklaeufer-als-popkulturelle-Figuren/!5321658
[6] /Uploadfilter/!t5519041/
## AUTOREN
Volkan Ağar
Xenia Balzereit
Denis Giessler
Carolina Schwarz
Peter Weissenburger
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