Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Terroranschlag in Österreich: Wien am Tag danach
> Die österreichische Hauptstadt wurde von einem Terroranschlag mit bisher
> vier Toten erschüttert. Es steckt ein dschihadistischer Täter dahinter.
Bild: Polizei und Kränze an einem der Orte des Geschehens in Wien, 3. November…
Wien taz | Eine gespenstische Stille liegt über Wiens nördlicher
Innenstadt. Am Morgen nach den jihadistischen Anschlägen vom Montagabend
sind die Tatorte abgesperrt. Die allgegenwärtigen Polizisten lassen nur
Anwohner durch. Am Tag eins des zweiten Corona-Lockdowns haben nicht nur
die Gaststätten, sondern auch die meisten Läden und alle Banken
geschlossen. Die Schulen öffneten nur für Kinder, für die die Eltern
kurzfristig keine Betreuung organisieren konnten. Die meisten Menschen
folgten dem Appell der Behörden, zu Hause zu bleiben und vor allem die
Innenstadt zu meiden. Bis Dienstagnachmittag war nicht klar, ob ein
radikalisierter Einzeltäter oder eine organisierte Gruppe für das Blutbad
verantwortlich ist.
Hundertschaften von Polizei-Einheiten setzten die Fahndung nach möglichen
Mittätern fort. Ein Attentäter war nur neun Minuten nach dem ersten Notruf
gestellt und erschossen worden. Er hatte offenbar wahllos auf Passanten und
Menschen im Außenbereich von Gaststätten geschossen. Ein junger und ein
älterer Mann sind tot. Eine Passantin und eine Kellnerin starben im
Krankenhaus an ihren Verletzungen. Von 17 Verletzten sollen sich sieben in
lebensbedrohlichem Zustand befinden. Ein angeschossener Polizist ist nach
Auskunft der Ärzte „kritisch stabil“.
Dienstagvormittag waren Polizisten noch damit beschäftigt,
Zeit-Weg-Diagramme zu erstellen. Es geht darum zu ermitteln, ob ein Täter
überhaupt in so kurzer Zeit an sechs möglichen Tatorten gewesen sein kann.
Vielleicht waren es aber auch nur vier Tatorte. Am Nachmittag gab das
österreichische Innenministerium bekannt, dass es keine Hinweise auf
weitere Täter gebe. Alle Tatorte befinden sich jedenfalls innerhalb weniger
Häuserblöcke im ältesten Teil Wiens.
Zwischen Graben und Donaukanal lag das römische Militärlager Vindobona,
dessen Grundriss in den eng verwinkelten Gassen teilweise noch heute zu
erkennen ist. Hier liegt auch das legendäre [1][Bermuda-Dreieck nahe dem
Schwedenplatz], wo es viele Lokale gibt, wo man lange Nächte verbringt.
Neben hochpreisigen Gaststätten, wo die Betuchteren dinieren, finden auch
klamme aber feierlustige Jugendliche hier ihren Lebensraum. Sie hängen mit
Vorliebe am Franz-Josefs-Kai ab und lassen sich dort mit Alko-Pops und Bier
volllaufen. Einen besseren Platz für ein Attentat, das möglichst viele
lebensfrohe Menschen treffen soll, kann man schwer finden. Am lauen Abend
vor einem vierwöchigen Lockdown herrschte das pralle Leben.
## Gratis Getränke und Gerüchte
Die sozialen Medien feiern einen Mann, der dem Attentäter von seinem
Fenster ein „Schleich di, du Oaschloch“ oder auch nur „Du Oaschloch“
entgegengeschleudert hat. Eine typisch wienerische Reaktion auf
unerwünschte Handlungen. Auch auf der Straße zeigte sich die Solidarität
der Wienerinnen und Wiener. So hielt ein Straßenbahnfahrer außerhalb einer
Station, um Menschen aus der Gefahrenzone zu bringen und mehrere Hotels
ließen gestrandete Menschen, die sich nicht nach Hause wagten, kostenlos
übernachten.
In mehreren Lokalen wurden festsitzende Gäste mit gratis Getränken
beruhigt. Zeugen luden mehr als 20.000 Videos auf eine Plattform der
Polizei hoch, um die Ermittlungen zu unterstützen. Zu den Helden der Nacht
wurden zwei türkischstämmige Kampfsportler, die zuerst einer älteren Frau
halfen, sich in Sicherheit zu bringen und dann einen verwundeten Polizisten
zum Rettungswagen trugen. Einer von ihnen wurde dabei selbst am Bein
angeschossen.
In den sozialen Medien überschlugen sich aber auch Gerüchte. Berichte von
„Geistertatorten“, die nur der Phantasie entsprangen, rechtsextreme
Postings und islamistische Aufrufe, die angesichts ihrer Inhaltsleere eher
dem Geltungsbedürfnis von Trittbrettfahrern entsprungen sein dürften, als
dem Täterwissen einer Verschwörergruppe.
Unter den Medien fiel vor allem der [2][reißerische Privatsender oe24.tv
auf,] der praktisch in Endlosschleife die Aufnahme einer Videokamera
zeigte, auf der man sieht, wie ein Passant vom Attentäter niedergeschossen
wird. Mehr als 700 Beschwerden langten deswegen in der Tatnacht beim
Presserat ein. Einige davon richteten sich auch gegen das Boulevardblatt
Kronen Zeitung, das in seiner Onlineausgabe vorschnell einen 30jährigen
Flüchtling als Täter festmachte.
## Der Täter war den Behörden bekannt
Inzwischen hat das Innenministerium auch erste Details über den
erschossenen Attentäter bekannt gegeben. Nach Durchsuchung seiner Wohnung,
in die sich die Einsatzkräfte mit Sprengstoff Zugang verschafften,
bestätigte sich der Verdacht auf seinen dschihadistischen Hintergrund. Es
handelt sich um den 20-jährigen Kujtim F. mit
nordmazedonisch-österreichischer Doppelstaatsbürgerschaft, er gehört zur
albanischen Minderheit der Nordmazedonier.
Als Jugendlicher hatte er versucht, sich in Syrien dem soganannten
Islamischen Staat anzuschließen, war aber nach vier Monaten in einer
türkischen Grenzstadt von der dortigen Polizei festgenommen und nach
mehrwöchiger Haft nach Österreich abgeschoben worden. In Wien wurde er im
April 2019 zu 22 Monaten Haft wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen
Vereinigung verurteilt, aber schon im vergangenen Dezember wieder
entlassen. Er hatte sich im Prozess als reumütiges Opfer von Hasspredigern
gegeben und galt als deradikalisiert.
Thomas Schmidinger, Professor für Orientalistik und Dschihadismus-Experte
in Wien neigt zur Einzeltäterthese: „Ich glaube definitiv, dass der
Anschlag in Wien geplant worden ist und nicht in der Zentrale des IS in
Syrien oder im Irak“, sagt er gegenüber der taz. Das Attentat sei in Wien
verübt worden, „weil er hier sozialisiert und wohnhaft ist“. Eine
mazedonisch-albanische Islamistenszene gebe es in Österreich nicht: „Die
IS-Anhängerschaft in Wien ist sehr multiethnisch“, so die Einschätzung von
Schmidinger.
Der Attentäter war mit einer automatischen Waffe, einer Pistole und einer
Machete bewaffnet. Er hätte also eine Enthauptung geplant haben können.
Zusammenhänge mit den Anschlägen in Frankreich und der Ermordung des
Lehrers Samuel Paty hält Schmidinger für wahrscheinlich. Er glaubt, dass
die hetzerische antiwestliche Rhetorik des türkischen Präsidenten Recep
Tayyip Erdoğan als weiterer Treiber fungiert haben könnte. Auch in den von
der Türkei besetzten Kurdengebieten in Syrien seien bei antifranzösischen
Demonstrationen IS-Symbole geschwenkt worden, so der Professor.
## Solidaritätsbekundungen und Staatstrauer
Die Polizei konzentrierte ihre Nachforschungen auf das Umfeld des einzigen
bisher bekannten Attentäters, [3][durchsuchte mehrere Wohnungen und nahm
mehr als ein Dutzend Verdächtige fest]. Auch in Niederösterreichs
Landeshauptstadt St. Pölten und in Linz wurden Wohnungen gefilzt und
mutmaßliche Islamisten festgenommen.
Schon davor hatte sich Van der Bellen an die Bevölkerung gewandt. Er sprach
von einer „dunklen Nacht, die wir hinter uns haben“, es sei „ein feiges
terroristisches Attentat auf das Herz unserer Gesellschaft“ gewesen. Der
Hass könne aber niemals so stark sein „wie unsere Gemeinschaft in Freiheit,
in Demokratie, in Toleranz und Liebe“. Auch Kanzler Kurz sieht den Anschlag
motiviert durch „Hass auf unsere Grundwerte, Hass auf unser Lebensmodell“.
Neben Solidaritätsadressen aus aller Welt blieben auch klare Stellungnahmen
aller Religionsgemeinschaften nicht aus. Ümit Vural, Präsident der
Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ), verurteilte die
Anschläge als eine „feige, abscheuliche Tat“. Über den oder die Täter wi…
man auch nicht mehr, als das Innenministerium am Dienstag bekannt gegeben
habe, so eine IGGÖ-Sprecherin. Man biete aber uneingeschränkte Kooperation
mit den Sicherheitsbehörden an.
Die Regierung verhängte eine dreitägige Staatstrauer. Die Fahnen vor
öffentlichen Gebäuden wehen auf Halbmast. Am frühen Nachmittag marschierten
die Spitzen der Republik in der Judengasse auf, gleich bei der Synagoge, wo
die ersten tödlichen Schüsse gefallen waren. Bundespräsident Alexander Van
der Bellen, Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Vizekanzler Werner Kogler
(Grüne), flankiert vom gesamten Kabinett, den Oppositionsführern und dem
Wiener Bürgermeister legten Kränze mit roten und weißen Rosen nieder.
3 Nov 2020
## LINKS
[1] /Terroranschlag-in-Wien/!5726039
[2] /Medien-in-der-Wien-Nacht/!5722554
[3] /Terroranschlag-in-Wien/!5725986
## AUTOREN
Ralf Leonhard
## TAGS
Wien
Schwerpunkt Islamistischer Terror
Österreich
Islamismus
Schwerpunkt Islamistischer Terror
Österreich
Schwerpunkt Emmanuel Macron
Schwerpunkt Islamistischer Terror
Nordmazedonien
Österreich
Google
Schwerpunkt Islamistischer Terror
Österreich
Rechtsextremismus
Wien
Islamismus
Wien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Urteile zu Attentaten in Wien: Hohe Haftstrafen für Terrorhelfer
Zweimal lebenslang, einmal 20, einmal 19 Jahre: Die Freiheitsstrafen im
Prozess um das Attentat in der Wiener Innenstadt 2020 fallen besonders hart
aus.
Gesetzespläne in Österreich: Ein Ablenkungsspiel
Österreichs Kanzler Kurz will den Straftatbestand „politischer Islam“
einführen – und damit vor allem das eigene eklatante Versagen überspielen.
EU-Minigipfel zu Terrorabwehr: Macron will durchgreifen
Frankreichs Präsident versucht die Mitgliedstaaten auf eine härtere Gangart
einzuschwören. Die Außengrenzen müssten besser geschützt werden.
Nach dem Attentat in Wien: Die Suche nach Schuldigen
Im Vorfeld des Attentats lief in Österreichs Behörden einiges schief. Die
Politiker schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu.
Balkan und Terror in Wien: Scham und Bestürzung
Muslimische Würdenträger verurteilen den Anschlag scharf. Im
nordmazedonischen Heimatdorf des Täters betonen die Bewohner ihre
Friedfertigkeit.
Terroranschlag in Wien: Bewährungshelfer getäuscht
In Österreich rätselt man, warum der Täter einst vorzeitig aus der Haft
entlassen wurde. Seinen Bewährungshelfer hatte er gekonnt getäuscht.
Plug-in zu Anschlag in Österreich: Das O-Loch von Wien
Eine inoffizielle Erweiterung für Googles Browser Chrome ersetzt den Namen
des Attentäters von Wien mit „Oaschloch“. Gibts das auch für Präsidenten?
Verbindungen von Wien-Attentäter: Alles wird geprüft
Innenminister Seehofer sieht nach dem Wien-Anschlag auch in Deutschland
eine „hohe Gefährdungslage“. Deutsche hätten den Attentäter nicht
unterstützt.
Nach dem Terroranschlag in Wien: Österreich sucht nach Erklärungen
Am Tag zwei nach dem Anschlag wird weiter gerätselt, ob der Täter allein
handelte – und warum er einst vorzeitig aus der Haft entlassen wurde.
Türkeistämmige Rechtsextreme: Ein erster Schritt
Frankreichs Regierung kündigt an, die rechtsextremen türkischen Grauen
Wölfe zu verbieten. Wird Zeit, dass auch Deutschland nachzieht.
Terror in Zeiten von Corona: Schleich di, du Oaschloch!
Viel besser als mit dieser Wendung kann man den unverwüstlich-sturen Geist
von Wien schwerlich einfangen. Terror UND Corona – es ist alles zu viel.
Terrorismusexperte über Wiener Attentat: „Ähnlich wie in Halle“
Die dschihadistische Szene ist in Österreich schon lange aktiv, sagt Guido
Steinberg. Zu deren Ideologie gehört auch Antisemitismus.
Medien in der Wien-Nacht: Live um jeden Preis
Bei bedrohlichen Ereignissen wollen Medien rasch informieren und missachten
dabei oft ethische Grenzen. Auch wieder in der Wien-Nacht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.