Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Suizidprävention in Deutschland: Dringender Nachholbedarf
> Während über Suizidhilfe heftig debattiert wird, findet der Ruf nach mehr
> Suizidprävention kaum Gehör. Verbände fordern gesetzliche Regelungen.
Bild: Einsamkeit, gerade zur Weihnachtszeit, ist vor allem für ältere Mensche…
Hamburg taz | Alle Jahre wieder veröffentlicht das Statistische Bundesamt
eine traurige Bilanz – Zahlen zu gemeldeten Selbsttötungen. 2020 nahmen
sich 9.206 Menschen in Deutschland das Leben, 2019 wurden 9.041 Suizide
registriert; die Statistik für 2021 wird in den nächsten Wochen folgen.
Jährlich über 9.000 Suizide hierzulande seien „mehr Todesfälle als durch
Verkehrsunfälle, Mord und illegale Drogen zusammen“, erklärte Birgit
Wagner, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie in Berlin,
anlässlich des [1][Welttages der Suizidprävention] am 10. September. Wagner
gehört zum Leitungsteam des Nationalen Suizidpräventionsprogramms (NaSPro),
das 2002 auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention
(DGS) ins Leben gerufen worden war.
„Wissenschaftler*innen gehen davon aus“, schreibt die DGS auf ihrer
Webseite [2][www.suizidprophylaxe.de], „dass sehr viele Menschen, die durch
einen Suizid sterben, zu diesem Zeitpunkt an einer [3][psychischen
Erkrankung] litten“. Allerdings sei Suizidalität ein komplexes Phänomen,
für das es nicht nur eine einzige Ursache gebe. Auch Faktoren wie
Lebenskrisen oder körperliche Erkrankungen könnten dazu führen, dass
Menschen erwägen, ihr Leben zu beenden.
Die DGS benennt „typische Warnsignale“, die darauf hindeuten können, dass
es Menschen nicht gut geht und sie womöglich Suizidgedanken entwickeln –
zum Beispiel: sozialer Rückzug, Vernachlässigung von Ernährung und
Körperpflege, Schenkungen und Testamentabfassungen, auch direktes oder
indirektes Ansprechen von Suizidgedanken.
„Risikofaktoren für die Entstehung suizidalen Verhaltens“ seien neben
psychischen Erkrankungen und körperlichen Leiden wie chronischen Schmerzen
auch „stark belastende Lebensereignisse“, etwa Trennungen und Jobverlust,
ebenso Umzüge und Flucht. Auffällig ist zudem, dass rund 75 Prozent der
Menschen, die sich 2020 hierzulande selbst töteten, männlich waren; das
durchschnittliche Alter der Suizident*innen lag laut offizieller
Statistik bei 58,5 Jahren (Männer) und 59,3 Jahren (Frauen).
## Das Eckpunktepapier
Unter dem Motto „Aktiv werden und Hoffnung schaffen“ machen sich NaSPro und
DGS für eine „gesetzliche Verankerung der Suizidprävention“ stark.
Gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und dem
Deutschen Hospiz- und Palliativverband (DHPV) haben sie [4][ein
Eckpunktepapier (pdf)] entwickelt, dessen Forderungen rund 40 Verbände,
Fachgesellschaften und Institutionen unterstützen, von A wie Angehörige um
Suizid e. V. (Selbsthilfeorganisation AGUS) über B wie Bundesärztekammer
(BÄK) bis Z wie Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP).
Das an die Parlamentarier*innen des Bundestages adressierte Papier
betont, Suizidprävention sei eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe in
verschiedenen Bereichen wie Schule, Ausbildung, Arbeitsplatz, Medien,
Familien“. Notwendig sei eine „auskömmliche Finanzierung“ aller
suizidpräventiven Strukturen. Eingerichtet werden müsse eine bundesweite
Informations- und Koordinationsstelle, die Beratungen anbiete und auch alle
Hilfsangebote zur Suizidprävention in Deutschland verzeichne; zudem sei es
geboten, regionale Netzwerke zu finanzieren.
Ein rechtlicher Anspruch auf kostenfreie Beratung für Menschen, die
Suizidgedanken haben, müsse garantiert werden – auch wenn Betroffene keine
medizinische Diagnose vorweisen könnten. Notwendig seien außerdem Angebote
für Angehörige von suizidalen Menschen und für Hinterbliebene nach
Selbsttötung eines Angehörigen.
Wichtig sei, Suizidalität und Suizidprävention als „Pflichtthema“ in Aus-,
Fort- und Weiterbildung im Sozial- und Gesundheitswesen zu verankern;
wissenschaftliche Forschung zur Thematik müsse gefördert und die
Finanzierung des nationalen Suizidpräventionsprogramms sichergestellt
werden.
Ein Gesetz zur Suizidprävention müsse „noch vor einer gesetzlichen Regelung
zur Beihilfe zum Suizid verabschiedet werden“, forderte bereits im Juni die
DGS-Vorsitzende Ute Lewitzka, Fachärztin für Psychiatrie und
Psychotherapie am Universitätsklinikum Dresden; ähnlich äußerte sich auch
Professor Winfried Hardinghaus, Palliativmediziner in Berlin und
Vorsitzender des DHPV.
## Auch im Bundestag wird bald über Suizidprävention geredet
Das Thema Selbsttötungen wird bald wieder auf der Agenda des Bundestages
stehen, am 28. November veranstaltet der Rechtsausschuss eine 5-stündige
öffentliche Anhörung mit Expert*innen und Vertreter*innen von
Verbänden. Im Fokus stehen drei konkurrierende Gesetzentwürfe, die
professionelle Hilfe zur Selbsttötung regeln und legitimieren wollen –
vorausgesetzt, es werden definierte Bedingungen und Prozeduren eingehalten,
zum Beispiel der Nachweis bestimmter fachärztlicher Untersuchungen und
Beratungsgespräche für Menschen, die Suizidhilfe in Anspruch nehmen wollen.
Ein Gesetzentwurf, der Suizidprävention regeln und ausbauen will, liegt im
Parlament hingegen noch immer nicht vor. Es gibt aber einen Antrag, der
Forderungen der Fachgesellschaften berücksichtigt und in der öffentlichen
Anhörung ebenfalls erörtert wird. [5][Das fraktionsübergreifende Papier
(pdf-Datei),] federführend eingebracht von Lars Castellucci (SPD), Ansgar
Heveling (CDU) und Kirsten Kappert-Gonther (Grüne), fordert die
rot-grün-gelbe Bundesregierung auf, einen „Gesetzentwurf zur Stärkung der
Suizidprävention“ vorzulegen.
Unter anderem soll laut Antrag von Castellucci und Kolleg*innen ein
bundesweiter „Suizidpräventionsdienst“ mit geschultem Personal aufgebaut
werden, den Menschen mit Suizidgedanken und ihre Angehörigen kontaktieren
können – und zwar „rund um die Uhr online und unter einer
bundeseinheitlichen Telefonnummer“.
Das gewünschte Gesetz soll den „Schwerpunkt auf die Förderung der
seelischen Gesundheit in den Alltagswelten“ legen und „Angebote zur
Bewältigung beruflicher oder familiärer Krisen“ fördern. Beratungs- und
Unterstützungsangebote müssten ausgebaut werden, wozu auch die „Möglichkeit
der aufsuchenden Psychotherapie in Alten- und Pflegeheimen“ gehöre, heißt
es in dem Antrag. Der Zugang zu Suizidmitteln sei hingegen „zu reduzieren
und mit geeigneten Schutzkonzepten zu versehen“, notwendig sei es auch,
Empfehlungen für „suizidpräventive bauliche Maßnahmen beispielsweise an
Brücken oder auf Hochhäusern“ zu entwickeln.
Die Antragsteller*innen weisen darauf hin, dass nicht jeder
Suizidgedanke als Krankheitssymptom definiert werden könne, sondern hier
auch gesellschaftliche und psychosoziale Faktoren „eine wesentliche Rolle“
spielen. Wer Suizidalität vorbeugen wolle, müsse die Lebensbedingungen
verbessern – auch „durch Armutsbekämpfung und durch soziale Unterstützung
sowie durch Maßnahmen gegen Vereinsamung“.
Mit Blick auf die geplante Regulierung von Hilfen zur Selbsttötung betont
der Antrag: „Der assistierte Suizid darf nicht als Ausgleich anderer
Versorgungsdefizite dienen. Diesen Effekt gilt es zu verhindern.“
Angesprochen wird in der Antragsbegründung auch, dass „Staaten, in denen
Suizidassistenz seit Jahren durchgeführt wird“, namentlich die Schweiz, die
Niederlande und Belgien, höhere Suizidraten aufweisen würden als
Deutschland. Zur heiklen Frage, ob und wie Menschen durch
Suizidhilfe-Angebote angesprochen und beeinflusst werden, bestehe „weiterer
Forschungsbedarf“.
Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie
können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (0800/111 0 111
oder 0800/111 0 222) oder [6][www.telefonseelsorge.de] besuchen.
15 Nov 2022
## LINKS
[1] /Welttag-der-Suizidpraevention/!5795832
[2] https://www.suizidprophylaxe.de/
[3] /Die-Psyche-in-der-Pandemie/!5747207
[4] https://www.koordinierung-hospiz-palliativ.de/files/dokumente/220620_Eckpun…
[5] https://dserver.bundestag.de/btd/20/011/2001121.pdf
[6] https://www.telefonseelsorge.de/
## AUTOREN
Klaus-Peter Görlitzer
## TAGS
Netzwerk
psychische Gesundheit
GNS
Suizid
Selbsttötung
Depression
Prävention
Palliativmedizin
Psychische Erkrankungen
Hamburg
Datenschutz
psychische Gesundheit
psychische Gesundheit
Suizid
## ARTIKEL ZUM THEMA
Prozess wegen Tötung auf Verlangen: Er wollte sie erlösen
Ein 34-jähriger Mann half seiner Großmutter beim Sterben. Am Mittwoch wurde
er vom Amtsgericht Hamburg freigesprochen.
Datenschutz bei Suizid-Statistiken: „Problem nicht korrekt abgebildet“
Etwa 9.200 Suizide gab es 2021 in Deutschland. Fachleute kritisieren, dass
die Zahl nicht aussagekräftig sei, und fordern veränderte
Datenschutzregeln.
Psychische Gesundheit in Deutschland: Angst vor seelischem Leid
Die Sorge um psychische Gesundheit steigt seit Corona. Bei etwa 20 Prozent
der Arbeitnehmer:innen wurde schonmal eine Depression diagnostiziert.
Welttag der Suizidprävention: „So eine krasse Verzweiflung“
Gewaltige Nachfrage: Per Mail beraten junge Menschen wie Paula und
Expert*innen wie Christine Obermüller Jugendliche mit Suizidgedanken.
Welttag der Suizidprävention: Das größte Geheimnis
Wenn Menschen Suizid begehen, bleiben Familie und Freund*innen zurück.
Unsere Autorin verlor ihre Mutter und war jahrelang allein damit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.