# taz.de -- Prozess wegen Tötung auf Verlangen: Er wollte sie erlösen | |
> Ein 34-jähriger Mann half seiner Großmutter beim Sterben. Am Mittwoch | |
> wurde er vom Amtsgericht Hamburg freigesprochen. | |
Bild: Wurde freigesprochen: Der Angeklagte vor dem Amtsgericht Hamburg | |
HAMBURG taz | Zwei Jahre bevor L. seiner Großmutter dabei hilft, sich | |
selbst zu töten, zog er bei ihr zu Hause ein. Die Seniorin war zu dem | |
Zeitpunkt 70 Jahre alt, [1][unheilbar lungenkrank und konnte ihren Alltag | |
nicht mehr allein bewältigen.] Deshalb, so erzählt es ihr Enkel, habe er | |
für sie eingekauft, im Haushalt geholfen, jeden Tag mit ihr ferngesehen. | |
Immer wieder habe sie gesagt, dass sie sterben wolle, sagt L. Im | |
vergangenen Juni setzen Enkel und Großmutter den Wunsch in die Tat um. | |
Anschließend versuchte L., selbst Suizid zu begehen. | |
Am Mittwoch stand L. deshalb vor dem Amtsgericht in Hamburg-St. Georg: Die | |
Staatsanwaltschaft wirft dem 34-Jährigen Tötung auf Verlangen vor. Nach nur | |
einem Verhandlungstag wurde der Angeklagte freigesprochen. Ein Gutachter | |
hielt ihn aus besonderen Umständen nicht für schuldfähig: L. selbst sei zu | |
dem Zeitpunkt akut suizidal gewesen. Offen bleibt deshalb, ob der | |
Tatbestand überhaupt erfüllt ist. Und eine Frage, die Gerichte allein nicht | |
beantworten können: Hat L. moralisch richtig gehandelt? | |
Der Wunsch, Suizid zu begehen, sei bei seiner Großmutter über Jahre | |
gewachsen, sagt L. vor Gericht. Gesundheitlich sei es der Seniorin immer | |
schlechter gegangen. Sie habe immer ein eigener Mensch bleiben wollen. | |
Einen Pflegedienst hätte sie nicht ins Haus gelassen, auch L. habe sie | |
nicht waschen dürfen. Kurz vor ihrem Tod habe sich ihr Zustand | |
verschlimmert. Und für sie habe festgestanden, dass sie nicht mehr leben | |
wolle. Dann, einen Tag vor der Tat, habe sie 550 Euro auf den Tisch gelegt | |
und Spritzen, die sie auf Amazon bestellt hatte. | |
Anschließend, erzählt L, sei schlafen gegangen und erst am späten Morgen | |
wieder aufgewacht. Er habe seiner Großmutter angeboten, eine letzte Portion | |
Gyros zu besorgen, die sie dann doch nicht mehr habe essen wollen. | |
Stattdessen habe sie sich eine Kanüle in den Unterarm gesteckt und sei | |
selbst ins Bett gegangen. Sie habe Tabletten genommen und L. habe bei der | |
Spritze geholfen. | |
## Moralisches Dilemma | |
Vor Gericht sagt L. dazu: „Sie hat mir einfach nur leid getan. Sie wollte | |
erlöst werden und ich wollte ihr helfen.“ Für ihn hingegen sei es ein | |
weiterer Schicksalsschlag gewesen: Er selbst sei drogenabhängig wie seine | |
beiden Eltern. Sein Großvater sei verstorben, die Mutter seiner eigenen | |
Kinder soll ihm den Kontakt verboten haben. „Ich habe alles verloren“, sagt | |
er. | |
Als seine Großmutter 550 Euro auf den Couchtisch legte, entschloss sich | |
auch L., Suizid zu begehen. So erklärte es vor Gericht der Gutachter. Nach | |
dem Tod der Großmutter nahm L. Drogen, schrieb Abschiedsbriefe. Unter | |
Drogen fügte er sich Verletzungen zu, die auf einen ernsthaften Suizid | |
hindeuten – auch wenn L. sich nach eigener Aussage nicht mehr daran | |
erinnern kann. Erst als er knapp zwei Tage später aufwachte, setzte seine | |
Erinnerung wieder ein – und sein Lebenswille. L. rief sich einen | |
Rettungswagen. | |
Für das [2][Töten auf Verlangen] ist juristisch entscheidend, wer zum | |
Zeitpunkt des Todes das Geschehen beherrscht. In seinem Zustand habe L. dem | |
Wunsch seiner Oma, sterben zu wollen, nichts mehr entgegenhalten können, | |
sagt die Richterin bei der Urteilsverkündung. Er habe das Geschehen gar | |
nicht beherrschen können – ob er wollte oder nicht. Es sei ein seltenes | |
Urteil. In neun von zehn Fällen hätte es gar keinen Prozess gegeben – wenn | |
der Suizidversuch zum Tod führt. | |
Im Vordergrund des Prozesses stand also L.s eigene Suizidalität. Weder die | |
Staatsanwaltschaft noch die Richterin äußern sich am Prozesstag zu L.s | |
moralischem Dilemma: Ist es richtig, Menschen dabei zu helfen, ihr Leben zu | |
beenden? | |
## Assistierter Suizid im juristischen Graubereich | |
Dabei ist der assistierte Suizid in Deutschland kein Nischenthema: Erst | |
Anfang 2020 hat das Bundesverfassungsgericht das Verbot der | |
geschäftsmäßigen Sterbehilfe gekippt. Unabhängig von Alter und Krankheiten | |
soll es ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben geben – wobei auch | |
Dritte helfen dürfen. Verboten bleibt die aktive Sterbehilfe, bei der ein | |
Dritter das tödliche Medikament verabreicht. Zwei Initiativen für eine | |
Neureglung der Sterbehilfe sind vergangenen Juli im Bundestag gescheitert. | |
Assistierter Suizid findet deshalb [3][zurzeit im Graubereich statt.] Der | |
Verein Sterbehilfe konnte so im Jahr 2022 139 Menschen beim Suizid | |
begleiten. Im Laufe des gleichen Jahres verdoppelte sich seine | |
Mitgliederzahl auf rund 2.500. Der Verein ist der Meinung: „Die Begleitung | |
beim Suizid ist ein Akt der Mitmenschlichkeit. Sie dient der Würde und der | |
Sicherheit der Sterbewilligen.“ | |
Auch wenn der Tatbestand für das Urteil keine Rolle gespielt hat, weiß L,. | |
dass er gesetzwidrig gehandelt haben könnte. Immer wieder habe er | |
gezweifelt, ob er seiner Oma wirklich helfen kann, habe ihren Wunsch über | |
Jahre abgetan. Als sie ihm aber so entschlossen das Geld für Heroin gegeben | |
hatte, habe auch er sich entschieden. Vor Gericht sagt er: „Ich habe für | |
mich nicht das Richtige getan. Aber ich weiß, dass ich für Oma das Richtige | |
getan habe.“ Allein hätte sie keinen Suizid mehr begehen können. | |
Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie | |
können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (☎ 0800-111 01 | |
11 oder ☎ 0800-111 02 22) oder www.telefonseelsorge.de besuchen. Dort gibt | |
es auch die Möglichkeit, mit Seelsorger*innen zu chatten. | |
Anmerkung: In einer früheren Version wurde die Vorgehensweise des Suizids | |
detailliert beschrieben. Dies haben geändert, um einen Nachahmungseffekt zu | |
verhindern. Die Redaktion | |
12 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Anna Lindemann | |
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