# taz.de -- Straffreie Sterbehilfe: Freier Wille bei schwerer Depression? | |
> In zwei Strafprozessen um die ärztliche Suizidhilfe geht es um den | |
> „freien Willen“ bei psychischer Erkrankung. Das ist nicht einfach zu | |
> entscheiden. | |
Bild: Gibt es auch: Suizidpräventionsraum, hier in der JVA Moabit | |
Die hohen Zahlen sind schon gruselig, obwohl der Kontakt mit dem Tod zum | |
Leben eines Arztes gehört. In rund 100 Fällen hat der Berliner Ex-Hausarzt | |
und Internist Christoph Turowski Suizidhilfe geleistet. Auch der Psychiater | |
Johann Spittler aus Datteln half mehr als 100 Menschen dabei, sich das | |
Leben zu nehmen. Beide Ärzte stehen oder standen vor Gericht, weil sie auch | |
Menschen, bei denen eine psychische Erkrankung ursächlich war für den | |
Sterbewunsch, beim Suizid assistierten. | |
Im [1][Falle von Spittler], 82, urteilte das Gericht, die psychische | |
Erkrankung von Oliver H., der an paranoider Schizophrenie litt, habe dessen | |
„freie Willensbildung“ aufgehoben. Spittler hätte ihm nicht die Infusion | |
anlegen dürfen, die Oliver H. dann selbst startete. | |
[2][Turowski.], 74, steht vor Gericht, weil er einer hochdepressiven | |
Patientin zum Suizid verhalf, obwohl sie aufgrund ihrer Erkrankung „nicht | |
zu freier Willensbildung“ in der Lage war, so die Anklage. Spittler wurde | |
zu drei Jahren Haft verurteilt wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft. | |
Ein ähnliches Urteil droht Turowski. | |
Die Fälle der beiden Ärzte zeigen, in welchem rechtlichen Graubereich die | |
ärztliche Suizidhilfe agiert. Die Liberalisierung, die durch das [3][Urteil | |
des Bundesverfassungsgerichts] vom Februar 2020 eingetreten ist, stößt in | |
der Praxis an strafrechtliche Grenzen. | |
## Autonom gebildeter freier Wille | |
Das Verfassungsgericht gab vor, damit die Suizidhilfe straffrei bleiben | |
könne, müsse der Entschluss des Sterbewilligen zur Selbsttötung unter | |
anderem „auf einem autonom gebildeten freien Willen“ gründen. Eine freie | |
Entscheidung setze voraus, den Willen „frei und unbeeinflusst von einer | |
akuten psychischen Störung“ bilden zu können. | |
Wann kann ein Mensch mit einer psychischen Erkrankung einen freien Willen | |
bilden und wann nicht? Laut [4][einer Stellungnahme des Deutschen | |
Ethikrats] schließen „psychische Störungen“ die Fähigkeit zu einer | |
freiverantwortlichen Suizidentscheidung „nicht automatisch“ aus. Bei | |
Depressionen etwa sei der Ausschluss der Fähigkeit zu einer | |
freiverantwortlichen Suizidentscheidung „vom Ausprägungsgrad der | |
Erkrankung“ abhängig. Bei affektiven Störungen, darunter auch schweren | |
depressiven Episoden, liege in aller Regel eine „normativ relevante | |
Beeinträchtigung der Selbstbestimmungsfähigkeit“ vor, heißt es in der | |
Stellungnahme. | |
Oliver H., 42, litt seit 13 Jahren unter paranoiden Wahnvorstellungen. | |
Isabell R., die 37-jährige Patientin Turowskis, hatte seit 16 Jahren | |
schwere depressive Phasen und zwei Suizidversuche hinter sich. Genau wegen | |
ihrer chronischen psychischen Leiden wollten die beiden ihr Leben beenden. | |
Schließen immer wiederkehrende psychotische und schwer depressive Phasen | |
aus, dass die Patient:innen sehr wohl wissen, warum sie ihr Leiden | |
nicht mehr ertragen wollen und dass ihre Entscheidung autonom ist und ihr | |
Entschluss von Dauer? Turowski spricht nicht zu Unrecht davon, dass es eine | |
„Diskriminierung“ psychisch Kranker bedeute, wenn man ihnen im Gegensatz zu | |
schwer körperlich Erkrankten die ärztliche Suizidhilfe verweigere. | |
## Nicht ausreichend geregelt | |
In beiden Prozessen allerdings zeigt sich, dass die Verfahren der | |
Suizidhilfe nicht ausreichend geregelt sind. Sowohl Spittler als auch | |
Turowski haben keinen weiteren Arzt oder Psychiater zur Begutachtung | |
herangezogen. Auch Unterlagen aus der Krankengeschichte der beiden | |
Patient:innen wurden von den Ärzten nicht vollumfänglich gesichtet. | |
Eine solche Eigenmächtigkeit der Ärzte darf nicht sein, jedenfalls nicht, | |
wenn psychische Erkrankungen vorliegen. | |
Eine Studie des Gesundheitsreferats in München hat kürzlich ergeben, dass | |
in den dort 37 Fällen der ärztlichen Suizidassistenz in den Jahren 2020 bis | |
2022 die allermeisten Selbsttötungen von Suizidhelfern der | |
Sterbehilfeorganisationen begleitet wurden und nicht von Hausärzt:innen, | |
die die Patient:innen lange kennen. In 17 Fällen lagen die | |
Begutachtung, die Suizidassistenz und die Leichenschau sogar in der Hand | |
eines einzelnen Arztes. Davon hatten acht Fälle psychiatrische | |
Vorerkrankungen, aber es lag kein psychiatrisches Gutachten vor. Eine | |
solche Grauzone erzeugt Unbehagen. | |
In Österreich zum Beispiel ist die ärztliche Suizidhilfe auch straffrei, | |
aber der oder die Sterbewillige muss vorher von zwei Ärzt:innen, darunter | |
eineR Palliativmediziner:in, gesehen werden. Bei einer psychischen | |
Erkrankung in der Vorgeschichte muss überdies die Entscheidungsfähigkeit | |
von einer Psychiater:in oder klinischen Psycholog:in beurteilt | |
werden. | |
## AG Ethik | |
In Deutschland sind im vergangenen Jahr zwei Gesetzentwürfe zur Sterbehilfe | |
gescheitert. Die Arbeitsgemeinschaft Ethik in der Medizin arbeitet aber | |
immerhin an einer ärztlichen Leitlinie, die die Verfahren genauer regeln | |
könnte, und zwar keine endgültige juristische Verbindlichkeit besäße, aber | |
berufsethisch eine Orientierung gäbe. | |
Es wäre gut, wenn die Vorgespräche, die Suizidhilfe selbst und die | |
Leichenschau in den Händen mindestens zweier unabhängiger Ärzt:innen | |
liegen sollten. Bei diagnostizierten psychischen Störungen sollte zwingend | |
eine Psychiater:in hinzugezogen werden, der oder die die | |
Entscheidungsfähigkeit bestätigt oder nicht. | |
Eine solche Leitlinie könnte auch Hausärzte entlasten, falls ein schwerst | |
Leidender einen Suizidwunsch äußert. Es wäre eine Hilfe, wenn ihnen ein | |
zweiter Arzt oder Ärztin und gegebenenfalls eine Psychiater:in zur Seite | |
stünde, um die Freiverantwortlichkeit festzustellen. Dabei gehen | |
Psychiater:innen mit ihren Gutachten über die „Willensfreiheit“ | |
trotzdem ein Risiko ein, denn jedes Gutachten kann im Nachhinein | |
angefochten werden. | |
Die Wahrheit ist: Alles, was man in der Suizidhilfe regelt, wird immer nur | |
eine fragile Hilfskonstruktion sein. Die Tragik des Aktes, wenn ein | |
schwerst leidender Mensch seine eigenen Vitalfunktionen kappt, wird dadurch | |
nicht gemindert. | |
26 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Suizidassistenz-und-Strafrecht/!5989762/ | |
[2] /Suizidhilfe-und-Justiz/!5990548/ | |
[3] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/0… | |
[4] https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/ste… | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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