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# taz.de -- Suizidassistenz und Strafrecht: Drei Jahre Haft wegen Suizidhilfe
> Das Landgericht Essen hat einen Arzt zu drei Jahren Haft verurteilt, weil
> er einem psychisch Kranken beim Sterben half. Es ist ein Präzedenzfall.
Bild: Der Arzt Johann Friedrich Spittler bei einem früheren Gerichtstermin weg…
Berlin taz | Das Landgericht Essen hat einen Neurologen und Psychiater aus
Datteln wegen der Suizidhilfe an einem psychisch kranken Mann am Donnerstag
zu drei Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt. Der Fall könnte ein
Präzedenzfall zur Frage werden, inwieweit die Suizidhlfe bei psychisch
kranken Menschen zulässig ist oder nicht.
Das Gericht kam zu dem Schluss, dass es sich bei der Suizidhilfe um einen
Totschlag in mittelbarer Täterschaft in einem minderschweren Fall handele,
sagte Gerichtssprecher Thomas Kliegel der taz. Die psychische Erkrankung
des Suizidenten hätte dessen „freie Willensbildung aufgehoben“, so das
Gericht. Der Mann habe an einer akuten psychischen Störung, einer
„paranoiden Schizophrenie“ gelitten. Der Angeklagte habe mit seiner
Suizidhilfe die Grenze zum Strafbaren „sehenden Auges“ überschritten.
Das Bundesverfassungsgericht hatte in einem Urteil im Februar 2020 zwar die
ärztliche Suizidhilfe grundsätzlich erlaubt, aber betont, dass die
„Freiverantwortlichkeit“ des Sterbewilligen bei seiner Entscheidung gegeben
sein muss. Diese Freiverantwortlichkeit wurde vom Landgericht im
vorliegenden Fall verneint.
Der Verurteilte ist der Neurologe und Psychiater Johann Spittler, 81, in
der Suizidhilfe als Sterbehelfer bekannt. Er hat in mehreren hundert Fällen
psychiatrische Gutachten für Sterbewillige angefertigt und auch bei vielen
Suiziden ärztlich assistiert. Der 42jährige Oliver H. aus Dorsten, um
dessen Fall es ging, hatte eine langjährige Psychiatriegeschichte hinter
sich und Spittler 2020 kontaktiert und um ärztliche Hilfe zur Selbsttötung
gebeten. Der Mann hatte bereits drei Suizidversuche ohne Hilfe durch Dritte
hinter sich.
## „Krankheitsbedingte Entscheidung“
Spittler untersuchte Oliver H. psychiatrisch und erstellte nach Auswertung
ärztlicher Unterlagen ein Gutachten. Er kam zu dem Ergebnis, dass der
Sterbewillige unter einer „Residualsymptomatik nach mehrfachen
paranoid-schizophrenen Erkrankungen, einer depressiven Störung sowie einer
Sehminderung leide“, zitierte die Anklage. Besserungsmöglichkeiten sah der
Psychiater nicht. Spittler war aber der Ansicht, dass die Einsichts- und
Urteilsfähigkeit und damit auch die Freiverantwortlichkeit seines Klienten
trotz der psychischen Erkrankung erhalten war.
Am 31.August 2020 legte Spittler Oliver H. im Beisein von dessen Mutter
eine Infusion mit Thiopental, die der Suizidwillige selbst in Gang setzte
und daran verstarb.
Zum Verfahren vor dem Landgericht waren mehrere Gutachter,
Psychiater:innen und auch ein Augenarzt zugezogen worden. Das Gericht
kam zu dem Schluss, der Suizidwunsch beruhte nicht auf einer freien
Willensentscheidung, sondern auf einer „erkrankungsbedingt und nicht
realistisch begründeten Annahme, dass es für seine psychische Symptomatik
und die Augenerkrankung keine Besserungsaussichten gegeben habe“, sagte
Kliegel. Das Gericht warf Spittler unter anderem vor, dass er die
augenärztlichen Befunde nicht eingesehen hatte.
## Mildernde Umstände
Totschlag in einem „minderschweren Fall“ mit strafmildernden Umständen
erkannte das Gericht, weil der Psychiater „aus Mitleid heraus“ gehandelt
habe und nicht vorbestraft sei. Spittler hat auch aufgrund seines hohen
Alters derzeit Haftverschonung. Er will in Revision gehen. (Az 32 Ks 5/23)
Das Urteil könnte Präzedenzwirkung entfalten, denn das
[1][Bundesverfassungsgericht hatte im Februar 2020] in einem
aufsehenerregenden Urteil die ärztliche Suizidhilfe zwar grundsätzlich
erlaubt. Aber eine „freie Suizidentscheidung“ setze voraus, seinen Willen
„frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung bilden zu
können.“
Über die Frage, ob und wann man Menschen mit einer psychischen Erkrankung
die Freiverantwortlichkeit attestieren könne oder nicht, [2][streiten
seither] die Jurist:innen, Psychiater:innen, Ethiker:innen und
Politiker:innen. In Berlin ist ebenfalls ein Arzt wegen Totschlags in
mittelbarer Täterschaft [3][angeklagt,] der Suizidhilfe bei einer schwer
Depressiven leistete. Diese hätte laut Staatsanwaltschaft aber aufgrund
einer akuten Phase der Depression keinen „freien Willen“ bilden können.
Dieser Prozess beginnt Ende Februar.
1 Feb 2024
## LINKS
[1] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/0…
[2] /Gescheiterte-Suizidhilfe-Gesetze/!5942090/
[3] /Assistierter-Suizid-bei-Depressionen/!5932350
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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