# taz.de -- Medizinethiker über Sterbehilfe: „Der Bundestag ist eingeknickt�… | |
> Menschen in ausweglosen Leidenszuständen werden allein gelassen, | |
> kritisiert der Medizinethiker Ralf Jox. Das gelte auch für Sterbehelfer | |
> und hilfswillige Ärzte. | |
Bild: Selbsternannte Lebensschützer protestieren gegen neue Regelungen in der … | |
taz: Herr Jox, warum hadern viele so mit dem Thema Suizidhilfe? | |
Ralf Jox: Umfragen zeigen immer relativ stabil, dass 70 bis 80 Prozent der | |
Menschen dafür sind, die Möglichkeit des assistierten Suizids am | |
Lebensende zu haben. Zugleich spricht das Thema natürlich die Emotionen an | |
und weckt auch Ängste – insbesondere, wenn man noch nie mit Menschen | |
konfrontiert war, die diese Option für sich ernsthaft in Betracht gezogen | |
haben. Daraus erklärt sich eine diffuse Angst, allein schon die Möglichkeit | |
könnte ansteckend wirken und plötzlich könnten sich viele das Leben nehmen | |
wollen. | |
Anliegen des [1][Gesetzentwurfs unter Federführung des SPD-Abgeordneten | |
Lars Castellucci] war, eine „Normalisierung der Selbsttötung“ zu | |
verhindern. Die Gefahr sehen Sie also nicht? | |
Nein, überhaupt nicht. Das zeigen Daten aus Oregon in den USA, wo es seit | |
25 Jahren erlaubt ist, und Erfahrungen aus über 30 Jahren in der Schweiz. | |
Der assistierte Suizid bleibt etwas, das manche Menschen in ganz bestimmten | |
Situationen in Betracht ziehen und dann sehr ernsthaft erwägen. Vor allem | |
wenn sie eine schwere, unheilbare Erkrankung haben, die absehbar zum Tode | |
führt. Wir wissen zudem, dass manche Betroffene diese „Notfalltür“ des | |
assistierten Suizids dann gar nicht nutzen. In diesen Fällen reicht es | |
ihnen, zu wissen, dass es die Option gäbe. | |
Eine Sorge im Entwurf war, alte oder kranke Menschen könnten sich zum | |
Suizid gedrängt fühlen. | |
Ich sehe überhaupt nicht, dass ein Druck ausgeübt würde auf besonders | |
verletzliche Menschen. Diejenigen, die sich für diesen Weg entscheiden, | |
sind durch die Bank sehr kontrolliert und selbstbestimmt, haben häufig | |
einen hohen Bildungsgrad und waren es immer gewohnt, über ihr Leben selbst | |
zu bestimmen. | |
Der Entwurf wollte die sogenannte geschäftsmäßige Suizidhilfe wieder | |
strafbar machen. | |
Dieser Entwurf war das alte Gesetz, das [2][vom Bundesverfassungsgericht | |
als grundgesetzwidrig verworfen] wurde, im neuen Gewand. Er war im Grunde | |
unehrlich: Er tat so, als würde er den Zugang zur Suizidhilfe regeln, doch | |
eigentlich wollte er diese unmöglich machen. Man türmte zu hohe Hürden auf. | |
Was meinen Sie damit? | |
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine unheilbare Krebserkrankung und noch | |
wenige Monate zu leben. Sie haben alles geregelt, mit ihrem Leben | |
abgeschlossen und wollen das ihnen bevorstehende Leiden abkürzen. Nach | |
diesem Entwurf hätten Sie zunächst zu einem Psychiater gemusst, dann drei | |
Monate warten, erneut beim Psychiater vorsprechen, dann noch zu einer | |
Beratungsstelle und erneut zwei Wochen warten. Danach haben Sie womöglich | |
schon die Fähigkeit verloren, selbst über ihr Ende zu entscheiden. Ein | |
solcher Spießrutenlauf wäre unzumutbar gewesen. Psychiater sind zudem | |
bekanntermaßen die Arztgruppe mit der stärksten Ablehnung des assistierten | |
Suizids. Nicht wenige halten jeden Todeswunsch für grundsätzlich krankhaft | |
und unfreiwillig. | |
Der [3][zweite Gesetzentwurf, unter Federführung von FDP-Politikerin Katrin | |
Helling-Plahr], betonte, dass [4][nicht jede psychische Erkrankung] die | |
Entscheidungsfähigkeit einschränkt. Wäre das ein Fortschritt gewesen? | |
Eindeutig ja! Psychische Erkrankungen sind relativ häufig, und es gibt | |
viele Formen, die die freie Urteilsfähigkeit nicht beeinträchtigen. Stellen | |
Sie sich vor, jemand hat eine schwerste Multiple Sklerose und hat | |
zusätzlich irgendwann eine Angststörung als Diagnose bekommen. Und dann | |
stellt man die entscheidenden Fragen: Sind Sie zur freien Willensbildung | |
fähig? Haben Sie sich das gut überlegt, es gut erwogen? Kennen sie die | |
Alternativen? Wenn das alles bejaht wird, wäre das für mich eine Form von | |
Diskriminierung psychisch Kranker, den Zugang zum assistierten Suizid zu | |
verwehren. | |
Nun hat der Bundestag für keinen der beiden Entwürfe gestimmt. Die | |
Suizidhilfe bleibt also weiter ungeregelt. Wie bewerten Sie das? | |
Der Bundestag hat sich davor gedrückt, die Sterbehilfe endlich | |
verfassungskonform zu regeln. Er ist eingeknickt vor dem Chor der Stimmen | |
aus der Fundamentalopposition, die auf Zeit spielen wollen. Man rechnet | |
damit, dass die Ärzteschaft weiterhin restriktiv mit dem Thema Suizidhilfe | |
umgeht. Das Problem dabei: Es gibt immer mehr Menschen, die in ausweglosen | |
Leidenszuständen diese Art der Sterbehilfe ernsthaft ins Auge fassen. Sie | |
werden alleingelassen, ebenso wie die vereinsmäßigen Sterbehelfer und | |
hilfswilligen Ärzte in ihrer Rechtsunsicherheit. | |
Was bedeutet das in der Praxis? | |
Gegenwärtig ist die Hilfe zur freiverantwortlichen Selbsttötung zwar | |
erlaubt, aber das Betäubungsmittelgesetz macht es beinahe unmöglich, die | |
dafür geeigneten Mittel auf legale und angemessene Weise zu erhalten. Und | |
es ist nicht zu erwarten, dass die Ärztekammern aktiv werden und | |
berufsrechtliche Regelungen aufstellen, wie das in der Schweiz der Fall | |
ist. Die Sterbehilfe-Vereine schalten und walten nach Gutdünken, aber es | |
gibt kaum Transparenz und Einheitlichkeit. Fazit: Der Bundestag nimmt seine | |
gesetzgeberische Aufgabe nicht wahr, während um uns herum ein Land nach dem | |
anderen Gesetze erlässt – erst Spanien, dann Österreich, nun auch Portugal. | |
Eine Regelung wäre nicht übereilt gewesen, sie ist überfällig. | |
Der Entwurf von Helling-Plahr und anderen hätte das geändert? | |
Dieser Entwurf wäre eine vernünftige Regelung gewesen. Man konnte erkennen, | |
dass hier Sachverstand und Realitätsnähe im Spiel waren. Der Gesetzentwurf | |
begann nicht mit Strafen und Sanktionen, sondern mit der Formulierung von | |
Rechten: dem Recht des Bürgers auf Hilfe zur Selbsttötung und dem Recht des | |
anderen, diese Hilfe zu gewähren. Sorgfältig wurden Regeln eingeführt, um | |
eine freie, selbstbestimmte, wohlerwogene Entscheidung sicherzustellen. | |
Beratung wurde nicht als ideologische Hürde, sondern als ergebnisoffene | |
Unterstützung verstanden. | |
Sie hätten hier gar keine Kritik gehabt? | |
Nun, der Entwurf sah auch die Bürokratie staatlicher Beratungsstellen vor, | |
die ich etwas übertrieben fand. Doch die meisten Menschen wären hier unter | |
die sogenannte Härtefallregelung gefallen: Wo jemand existentiell leidet, | |
insbesondere durch eine unheilbare, fortgeschrittene Erkrankung, da hätte | |
es nicht die Beratungsstelle gebraucht, da hätten zwei Ärzte unabhängig | |
voneinander die Situation bewerten, den Betroffenen beraten und ihm den | |
Zugang zum assistierten Suizid ermöglichen können. | |
Sie erwähnten die Gegner in der Ärzteschaft: Versuchen Sie, Kolleg*innen | |
von Ihrer Haltung zu überzeugen? | |
Ich versuche zu begründen, aber akzeptiere die vorhandene | |
Meinungspluralität. Das ist ein ganz wichtiger Grundsatz, auch in jeder | |
Regelung in anderen Ländern, dass es Ärzten freigestellt wird, ob sie dies | |
aus Gewissensgründen ablehnen. Das hat auch das Verfassungsgericht gesagt: | |
Diese Freiheit muss genauso gewährleistet sein wie die der Ärzte, die sich | |
vorstellen könnten, in bestimmten Situationen einen Suizid zu begleiten. | |
6 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Aerztliche-Suizidhilfe/!5942785 | |
[2] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/0… | |
[3] https://www.renate-kuenast.de/images/Suizidhilfegesetz_12.06.23.pdf | |
[4] /Assistierter-Suizid-bei-Depressionen/!5932350 | |
## AUTOREN | |
Anne Diekhoff | |
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