# taz.de -- Ärztliche Suizidhilfe: Im Grenzbereich des Lebens | |
> Am Donnerstag stimmt der Bundestag über Suizidhilfe ab. Schafft es keiner | |
> der Entwürfe, brauchen Sterbewillige weiterhin Vereinsmitgliedschaften. | |
Bild: In einer Gesellschaft der Hochaltrigen wächst der Wunsch nach Selbstbest… | |
BERLIN taz | Zum Beispiel ist da Teresa Sch., 88 Jahre alt, ehemalige | |
Sekretärin, verwitwet. Eine Augenerkrankung raubt ihr die Sehkraft, sie | |
wird von Arthrose in den Gelenken geplagt. Sie musste das geliebte | |
Klavierspiel aufgeben, ist zunehmend eingeschränkt und fürchtet, in | |
absehbarer Zeit zum Pflegefall zu werden. Sie trat vor Jahren der Deutschen | |
Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) bei und nimmt ärztliche Hilfe zum | |
Suizid in ihrer Wohnung in Anspruch. | |
Oder das Ehepaar Ingeborg, 83, Hausfrau, und Sigurd Sch., 87, Buchdrucker. | |
Sigurd Sch. ist nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und hat eine | |
schwere Darmerkrankung. Seine Ehefrau leidet unter urologischen Problemen | |
und Gleichgewichtsstörungen. Sigurd Sch. möchte sterben, seine Frau will | |
mit ihm gehen. Ein Arzt leistet die Doppelbegleitung. | |
Die Fälle finden sich in einer Dokumentation der DGHS. Soll jeder ein Recht | |
haben, sich Hilfe, auch ärztliche Hilfe, zur Selbsttötung holen zu können? | |
Das Bundesverfassungsgericht hat das in seinem [1][aufsehenerregenden | |
Urteil] vom Februar 2020 bejaht. „Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, | |
umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, | |
soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen“, heißt es in dem Urteil. | |
Das Gericht hatte dem Gesetzgeber aber die Möglichkeit eingeräumt, | |
„prozedurale Sicherungsmechanismen“ zum „Schutz der Selbstbestimmung“ zu | |
schaffen. | |
Der Bundestag stimmt am Donnerstag über genau solche | |
„Sicherungsmechanismen“ ab. Zwei konkurrierende Gesetzentwürfe zur | |
Ausgestaltung der ärztlichen Suizidhilfe liegen vor. Wenn keiner der | |
Entwürfe bei der Abstimmung durchkommt und alles so bleibt wie bisher, wird | |
auch das die Praxis der Suizidhilfe prägen. | |
## Im Zentrum steht, den freien Willen festzustellen | |
Die Gesetzentwürfe kommen aus Gruppen von Abgeordneten verschiedener | |
Fraktionen. Beispielsweise finden sich grüne Abgeordnete sowohl im ersten | |
als auch im zweiten Entwurf. Die Abstimmung erfolgt namentlich. Was beide | |
Entwürfe gemeinsam haben, ist die Pflicht zur Beratung. Allerdings in sehr | |
unterschiedlicher Ausprägung. | |
Der [2][Gesetzentwurf einer Abgeordnetengruppe um den SPD-Politiker Lars | |
Castellucci will] die „geschäftsmäßige“ Suizidhilfe, worunter man auch d… | |
wiederholte Suizidassistenz durch Ärzt:innen versteht, wieder unter | |
Strafe stellen. Nicht strafbar ist die Suizidhilfe nur dann, wenn die | |
Ärzt:innen bestimmte Regularien beachten. | |
Zu den Regularien gehört, dass sich jede und jeder Sterbewillige vorab | |
zweimal einer „Untersuchung“ durch eine Psychiaterin oder einen | |
Psychotherapeuten stellen muss, um auszuschließen, dass „keine die autonome | |
Entscheidungsfindung beeinträchtigende psychische Erkrankung vorliegt“ und | |
nach „fachlicher Überzeugung das Sterbeverlangen freiwilliger, ernsthafter | |
und dauerhafter Natur“ ist, wie es im Gesetzentwurf heißt. | |
Im Zentrum dieser fachärztlichen Untersuchung stehe, den freien Willen | |
festzustellen, und keineswegs gebe die Psychiater:in „eine Bewertung des | |
Sterbewunsches ab“, sagt Kirsten Kappert-Gonther (Grüne), die an dem | |
Castellucci-Entwurf beteiligt ist, der taz. Mit der Verpflichtung zu zwei | |
solchen Untersuchungen in einem Mindestabstand von drei Monaten wolle man | |
vielmehr „einen sicheren Raum schaffen, in dem die suizidale Person mit | |
einer unabhängigen dritten Person über ihre suizidalen Gedanken und die | |
Lebensumstände, die zu diesen führen, sprechen kann“, erklärt | |
Kappert-Gonther, „Suizidimpulse sind in der Regel volatil“. | |
Weil die ärztliche Suizidhilfe so wieder grundsätzlich unter Strafe | |
gestellt wird, steht der Castellucci-Entwurf in der Kritik. Genau diese | |
Strafbarkeit hatte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2020 für | |
rechtswidrig erklärt. | |
Der zweite, liberalere Gesetzentwurf einer Abgeordneten-Gruppe um | |
[3][Renate Künast (Grüne) und Katrin Helling-Plahr (FDP)] will die | |
ärztliche Suizidhilfe nicht wieder grundsätzlich strafbar machen. Er | |
beinhaltet aber ebenfalls eine Beratungspflicht, bevor ein Arzt ein | |
Medikament zur Selbsttötung verschreiben darf. Die Sterbewilligen sollen | |
bei unabhängigen „staatlich anerkannten“ Beratungsstellen, die auch bei | |
freien Trägern eingerichtet werden können, vorstellig werden. Deren | |
Mitarbeiter:innen können die Klient:innen auch zu Hause aufsuchen, | |
falls diese nicht mehr mobil sind. | |
Klient:innen erhalten dann lediglich eine Bescheinigung, dass die | |
Beratung stattgefunden hat. Die Stellen geben keine Bewertung oder | |
Empfehlung ab. Nur wenn „begründete Zweifel“ daran bestehen, „dass die | |
beratene Person ihre Suizidentscheidung aus autonom gebildetem, freien | |
Willen“ treffen wird, hat die Beratungsstelle diese Zweifel auf der | |
Bescheinigung zu vermerken, heißt es bei Künast/Helling-Plahr. | |
Zur Qualifikation der Mitarbeiter:innen der Beratungsstellen steht | |
nichts Konkretes im Entwurf. „Zwar verlangt der Gesetzentwurf fachliche | |
Qualifikationen der Mitarbeiter:innen in den Beratungsstellen. Deren | |
genaue Ausgestaltung sowie die Einrichtung der Beratungsstellen obliegt | |
jedoch den Ländern. Diese müssen auch die Zuverlässigkeit der Stellen | |
überprüfen“, sagt Lukas Benner (Die Grünen), der an dem Entwurf beteiligt | |
war. | |
Ärzt:innen dürften das tödliche Arznei- oder Betäubungsmittel laut | |
Gesetzentwurf erst dann verschreiben, wenn nachgewiesen ist, dass | |
Klient:innen zuvor bei einem Beratungsgespräch waren – sie also eine | |
Bescheinigung vorgelegt haben. | |
Sowohl die Künast/Helling-Plahr- als auch die Castellucci-Pläne drängen auf | |
eine Änderung im Betäubungsmittelgesetz. Konkret geht es um die Freigabe | |
von [4][Pentobarbital]. Das Mittel gilt in der Suizidhilfe als relativ | |
sicher und darf in der Schweiz regelmäßig von Ärzt:innen dafür | |
verschrieben werden. | |
Der Künast/Helling-Plahr-Entwurf sieht außerdem Unterstützung für | |
Suizidwillige vor, die vergeblich nach einem Arzt suchen. So heißt es, | |
die Bundesländer sollen nicht nur staatlich anerkannte Beratungsstellen, | |
sondern zusätzlich eine „nach Landesrecht zuständige Stelle“ einrichten, | |
die eine einer „ärztlichen Verschreibung gleichstehende Erlaubnis“ zum | |
Erwerb eines tödlichen Medikaments erteilen kann. | |
„Dies greift in Fällen, in denen Suizidwillige sonst keinen Arzt finden, | |
der die Suizidassistenz leistet“, sagt Benner. Fraglich ist, ob die Länder | |
bei diesen Plänen mitspielen. Das Gesetz ist zustimmungspflichtig im | |
Bundesrat. | |
Der Künast/Helling-Plahr-Entwurf will eine Übergangsfrist von zwei Jahren | |
für den Aufbau der Beratungsstellen. In dieser Zeit können Ärztinnen und | |
Ärzte, die nicht direkt an der Suizidhilfe beteiligt sind, die Beratungen | |
übernehmen. | |
Die Vereine, die bisher ärztliche Suizidhilfe vermitteln – also die DGHS, | |
der Verein Sterbehilfe und Dignitas – befürchten nicht, dass die | |
Beratungspflicht ihre Arbeit einschränken würde, käme der | |
Künast/Helling-Plahr-Entwurf durch. „Sollte der vorliegende liberale | |
Gesetzentwurf bei der Abstimmung im Bundestag am 6. Juli die Mehrheit der | |
abgegebenen Stimmen erhalten, wovon ich ausgehe, so tangiert dieses Gesetz | |
nach meiner Rechtsauffassung nicht die derzeitige Praxis der DGHS“, sagt | |
DGHS-Präsident Robert Roßbruch. | |
Die mit dem Verein kooperierenden Ärzt:innen verwenden für die | |
Suizidassistenz ein Narkosemittel, das in Deutschland nicht verboten ist. | |
Die Beratungspflicht dürfte bei dieser Praxis entfallen, da es sich ja | |
nicht um eine Verschreibung handelt, sondern um eine Anwendung vor Ort im | |
Beisein des Arztes. | |
Doch am liebsten wäre es den Vereinen, die ärztliche Suizidhilfe | |
vermitteln, wenn keiner der Gesetzentwürfe im Bundestag eine Mehrheit | |
fände. Dann würde alles so bleiben wie bisher. | |
Menschen ohne Mitgliedschaft in einem Verein oder persönlichen Kontakten zu | |
Mediziner:innen, die Suizidhilfe leisten, hätten in dem Fall jedoch | |
weiterhin Schwierigkeiten, bereitwillige Ärzt:innen zu finden, die auch | |
noch über die nötigen Kenntnisse verfügen. Und: Mediziner:innen | |
agieren keineswegs in einem rechtsfreien Raum. In Berlin ist ein Arzt wegen | |
Totschlags [5][angeklagt], weil er Suizidhilfe bei einer psychisch kranken | |
Frau leistete. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft habe die ihre | |
Entscheidung nicht freiverantwortlich treffen können. | |
## Ein Fünftel gibt „Lebenssattheit“ als Motiv an | |
Die Vereine haben in der Regel eigene Absicherungssysteme, um die freie | |
Entscheidungsfähigkeit ihrer Klient:innen festzustellen. Sie lassen sich | |
Krankenakten kommen und führen diverse Vorgespräche mit den Suizidwilligen, | |
um sich über deren Motive wirklich sicher zu sein. Eine längere | |
Mitgliedschaft in den Organisationen ist Voraussetzung, die Suizidhilfe | |
kostet ab 4.000 Euro aufwärts. | |
In einer Gesellschaft der Langlebigen und Hochaltrigen nimmt der Wunsch zu, | |
sich für den Fall einer Krankheit oder Gebrechlichkeit einen Notausgang zu | |
sichern. „Unsere Mitgliederzahl liegt derzeit bei knapp 29.000“, sagt | |
Roßbruch, „aber nur ein kleiner Bruchteil unserer Mitglieder stellt | |
tatsächlich einen Antrag auf Vermittlung einer Freitodbegleitung.“ | |
Für fast ein Fünftel der Suizidenten wird in der DGHS-Statistik das Motiv | |
der „Lebenssattheit“ angegeben, das vor allem auf sehr alte Menschen | |
zutrifft und etwa aus einer Kombination aus Partnerverlust, wachsenden | |
Einschränkungen, mehreren Krankheiten und Angst vor zunehmender | |
Pflegebedürftigkeit besteht. | |
Von dem befürchteten „Dammbruch“ nach dem Verfassungsgerichts-Urteil vor | |
drei Jahren kann aber keine Rede sein. Die DGHS und der Verein Sterbehilfe | |
vermittelten im Jahr 2022 in insgesamt 366 Fällen eine Suizidhilfe mit | |
Medikamenten. Die Zahlen steigen zwar, bleiben aber im Vergleich zu den | |
sogenannten „harten“ Suiziden sehr niedrig: Im Jahr 2021 haben sich mehr | |
als 9.000 Menschen in Deutschland ohne ärztliche Hilfe das Leben genommen, | |
meist auf gewaltsame Art. | |
Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie von | |
Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. | |
Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, | |
anonym. Rufnummern: (0800)1110111 und (0800) 1110222. | |
5 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/0… | |
[2] https://lars-castellucci.de/medien/2022/02/Gesetzentwurf-assisstierter-Suiz… | |
[3] https://www.renate-kuenast.de/images/Suizidhilfegesetz_12.06.23.pdf | |
[4] /Debatte-um-Sterbehilfe/!5724744 | |
[5] /Assistierter-Suizid-bei-Depressionen/!5932350 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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