# taz.de -- Assistierter Suizid bei Depressionen: Wie frei entscheiden psychisc… | |
> Nach einer Suizidbeihilfe für eine hochdepressive Frau steht ein Berliner | |
> Arzt wegen Totschlag unter Anklage. Es könnte ein Präzedenzfall werden. | |
Bild: „Man kann psychisch Kranken die Entscheidungsfähigkeit nicht einfach s… | |
Es ist ein umstrittenes Thema beim ärztlich assistierten Suizid: Sollen | |
Ärzt:innen auch depressiven Menschen zur Selbsttötung verhelfen können? | |
Ein Berliner Hausarzt im Ruhestand, Herr T., soll [1][laut Anklage] der | |
Staatsanwaltschaft Berlin einer „an schweren Depressionen leidenden | |
Studentin“ zweimal Medikamente zur Selbsttötung überlassen haben. Beim | |
zweiten Mal verstarb die 37-Jährige. | |
Gegen den Arzt wurde Anklage erhoben wegen „Totschlags in mittelbarer | |
Täterschaft in zwei Fällen, einmal wegen Versuchs in Tateinheit mit | |
gefährlicher Körperverletzung“, so die Mitteilung der Berliner | |
Staatsanwaltschaft. Die Frau soll bereits seit 2005 an einer schweren | |
Depression erkrankt gewesen sein. | |
Am 24. Juni 2021 hatte der heute 73-jährige Arzt der Studentin tödlich | |
wirkende Tabletten zur Verfügung gestellt. Die Frau erbrach jedoch die | |
Medikamente und überlebte. Zweieinhalb Wochen später legte T. ihr dann eine | |
Infusion, die die Suizidwillige selbst auslöste. Daran verstarb sie. | |
Laut Anklage soll es der Frau aufgrund einer akuten Phase der Depression | |
„nicht mehr möglich gewesen sein, einen freien Willen zu bilden“. Der | |
Sterbewunsch sei „Teil des Krankheitsbildes einer Depression“, erklärte die | |
Staatsanwaltschaft. Laut dem [2][Urteil des Bundesverfassungsgerichts] vom | |
Februar 2020 ist die ärztliche Beihilfe zum Suizid nur dann straffrei, wenn | |
die Entscheidung zur Selbsttötung „freiverantwortlich“ gefallen ist. | |
## 16 Jahre Depression | |
Dass der Sterbewunsch Teil des Krankheitsbildes einer Depression sei, sei | |
dem Arzt bewusst gewesen, so die Anklage. Dennoch soll T. die Frau in ihrer | |
Ansicht bestärkt haben, dass es keine weiteren zielführenden | |
Therapiemöglichkeiten und damit keine Hoffnung auf eine langfristige | |
Besserung ihrer gesundheitlichen Situation mehr gebe. | |
Im Gespräch mit der wochentaz stellt T., der nicht mit seinem vollen Namen | |
in der Zeitung stehen möchte, den Fall anders dar. Die Frau, eine Studentin | |
der Tiermedizin, habe eine lange Geschichte der Depression hinter sich | |
gehabt, mit ständiger Behandlung seit 16 Jahren ohne Erfolg durch | |
Medikamente oder Psychotherapie. Sie habe sich an ihn gewandt, um | |
Suizidbeihilfe gebeten und in einem langen Gespräch erklärt, „die | |
Depressionen kommen immer wieder, ich kann nicht mehr“, berichtet T. Zu | |
jedem Zeitpunkt habe die Frau voll entscheidungsfähig und nicht in ihrer | |
Freiverantwortlichkeit eingeschränkt gewirkt. | |
Die Studentin hatte in jungen Jahren bereits einen Suizidversuch | |
unternommen und die Operation eines gutartigen Hirntumors hinter sich, die | |
eine Störung der Feinmotorik einer Hand hinterließ. T. berichtet, sie habe | |
in jüngeren Jahren nach Drogenkonsum auch einmal eine manische Episode | |
gehabt, die sich aber nicht wiederholte. | |
## Gutachter, der die Freiverantwortlichkeit attestiert | |
Vom ersten Gespräch bis zum vollendeten assistierten Suizid hat der Kontakt | |
laut T. 30 Tage lang gedauert. Er gab seine Hausarztpraxis vor acht Jahren | |
auf und hat bislang in rund 70 Fällen einen assistierten Suizid | |
durchgeführt, meist über die Vermittlung durch die Deutsche Gesellschaft | |
für Humanes Sterben (DGHS). In diesem Fall war die DGHS allerdings nicht | |
beteiligt, erklärt T. | |
Der Präsident der DGHS, Robert Roßbruch, sagte der wochentaz, in Fällen von | |
psychiatrischen Diagnosen würden Suizidbeihilfen über die DGHS in der Regel | |
„ausscheiden“. Im Zweifelsfall würden psychiatrische Gutachter | |
hinzugezogen, um die „freie Entscheidungsfähigkeit“ des Suizidwilligen zu | |
attestieren. Diese freie Entscheidungsfähigkeit sei eine Voraussetzung für | |
die ärztliche Beihilfe. | |
T. sagt, er habe erwogen, einen psychiatrischen Gutachter hinzuzuziehen, um | |
die Freiverantwortlichkeit attestieren zu lassen. Aber dies sei erstens | |
eine Geldfrage gewesen, die Studentin habe über sehr wenig Mittel verfügt. | |
Ein privates Gutachten, um die Freiverantwortlichkeit festzustellen, hätte | |
sie selbst bezahlen müssen. Außerdem „war der Leidensdruck extrem, sodass | |
eine zeitliche Verzögerung durch ein Gutachten für die zum gewaltsamen | |
Suizid entschlossene Frau nicht akzeptabel war“, erklärt T. Die Studentin | |
habe angekündigt, sich unmittelbar zu Hause zu erhängen, wenn er ihr nicht | |
helfe. Er nahm von der Frau kein Honorar für die Beihilfe. | |
Der erste Versuch | |
Nach dem ersten Versuch des assistierten Suizides hatten Bekannte einen | |
Notarzt gerufen, die Studentin wurde in die Psychiatrie eingewiesen. | |
Zweieinhalb Wochen später wurde sie entlassen. Direkt am Entlassungstag | |
ließ sie sich in ein von ihr gebuchtes Hotelzimmer in Berlin-Lichterfelde | |
fahren und rief T. zu sich. Er legte die tödlich wirkende Infusion, die sie | |
selbst in Gang setzte. | |
Danach rief er die Kriminalpolizei, wie es bei assistierten Suiziden üblich | |
ist. Alle Dokumente wie die sogenannte Freitoderklärung, die Entbindung von | |
der Garantenpflicht (der Hilfeleistungspflicht durch den Arzt), die | |
Patientenverfügung, lagen vor, sagt T. Nachdem die Staatsanwaltschaft die | |
Unterlagen zu dem Fall gesichtet hatte, ließ sie den Leichnam obduzieren | |
und fing an, eingehender zu ermitteln. | |
Im Februar 2022 fand bei T. eine Hausdurchsuchung statt, iPad und Handy | |
wurden konfisziert. Im Umfeld der Verstorbenen wurden von der | |
Kriminalpolizei mehr als ein Dutzend Zeugen befragt, darunter Freundinnen, | |
Angehörige und Behandler. Wie aus den Vernehmungsprotokollen in der | |
Ermittlungsakte hervorgeht, über die T. verfügt und die von der wochentaz | |
teilweise eingesehen werden konnte, hat der behandelnde Psychotherapeut der | |
Frau geäußert, seine Patientin sei aufgrund ihrer Erkrankung „sehr | |
eingeengt in ihrer Sicht“ gewesen. | |
## Sterbewunsch als Ausdruck der Depression | |
Der Sterbewunsch sei Ausdruck der Depression gewesen. Da die Studentin in | |
der Vergangenheit eine manische Episode erlebt hatte, stand zudem die | |
Diagnose einer bipolaren Störung in ihrer Krankenakte. „Bei einer bipolaren | |
Störung sind Suizidgedanken ein Symptom, das verschwindet, wenn sich die | |
Krankheit bessert“, erklärte der Psychotherapeut. Auch die langjährige | |
Psychiaterin der Verstorbenen hielt den Sterbewunsch für die Folge einer | |
Depression. | |
Auf Grundlage der Vernehmungsprotokolle der Zeug:innen wurde ein | |
Gutachten angefertigt, auf das sich die Anklage jetzt stützt. In diesem | |
Gutachten, das Teil der Akte ist, heißt es: „Die Kognitionen von Frau R. | |
waren […] durch die Depression verzerrt und unterlagen nicht mehr der | |
Willensbildung, zu der sie außerhalb der Depression fähig war“. | |
Diese Einschätzung ist der springende Punkt. Inwieweit eine Depression | |
bedeutet, dass diesem Menschen keine freiverantwortliche Entscheidung mehr | |
zugestanden werden sollte, ist nicht eindeutig geklärt. Der Bochumer | |
Psychiater Johann Friedrich Spittler etwa verweist auf eine | |
[3][Untersuchung] an Menschen mit einem „Suizid-Behilfe-Ansinnen“, die sich | |
an Sterbehilfevereine gewandt hatten. Er kam zu dem Schluss, dass die | |
Urteilsfähigkeit auch bei Personen mit psychischer Störung, die ein solches | |
Ansinnen hatten, „überwiegend hinreichend klar“ war. | |
## Man kann Entscheidungsfähigkeit nicht einfach absprechen | |
„Man kann psychisch Kranken die Entscheidungsfähigkeit nicht einfach so | |
absprechen“, sagt T., „das ist auch eine Diskriminierung psychisch Kranker. | |
Nur weil ich die Diagnose einer psychischen Störung habe, kann ich doch | |
trotzdem freiverantwortlich handeln.“ T. sieht seinen Fall als | |
Präzedenzfall. „Ich bin entschlossen, das durchzustehen, auch über mehrere | |
Instanzen“, sagt er, „wahrscheinlich muss in höheren Instanzen geklärt | |
werden, inwieweit man Menschen mit psychischen Diagnosen eine freie | |
Willensbildung zugesteht oder nicht.“ | |
T. ist vor Gericht kein Unbekannter. Der [4][Bundesgerichtshof hatte im | |
Jahre 2019] einen Freispruch des Landgerichts Berlin für ihn bestätigt. T. | |
stand damals in Berlin wegen unterlassener Hilfeleistung vor Gericht. Nach | |
der Einnahme eines tödlichen Medikaments war eine Sterbewillige ins Koma | |
gefallen und erst nach zwei Tagen verstorben. T. hatte wie abgesprochen | |
jeden Rettungsversuch unterlassen. | |
Der Deutsche Ethikrat hat im September 2022 [5][eine Stellungnahme zur | |
Freiverantwortlichkeit] beim ärztlich assistierten Suizid veröffentlicht. | |
Danach schließen „psychische Störungen“ die Fähigkeit zu einer | |
freiverantwortlichen Suizidentscheidung „nicht automatisch“ aus. Bei | |
Depressionen sei der Ausschluss der Fähigkeit zu einer freiverantwortlichen | |
Suizidentscheidung „vom Ausprägungsgrad der Erkrankung abhängig.“ Bei | |
affektiven Störungen, darunter auch schweren depressiven Episoden, liege in | |
aller Regel eine „normativ relevante Beeinträchtigung der | |
Selbstbestimmungsfähigkeit“ vor, heißt es in der Stellungnahme. | |
## Menschen mit schweren, jahrelangen Depressionen | |
Folgt man dieser Logik des Ethikrates, würde ein Mensch, der unter einer | |
leichten Depression leidet und vielleicht aufgrund vieler | |
Alterseinschränkungen ärztliche Hilfe zum Suizid erbittet, diese legal | |
bekommen können, weil seine Selbstbestimmungsfähigkeit als nicht | |
eingeschränkt gilt. Wer aber eine sehr schwere, jahrelange, | |
behandlungsresistente Depression hat, dem würde die | |
Selbstbestimmungsfähigkeit abgesprochen. Es bliebe dann nur die | |
Selbsttötung ohne ärztliche Hilfe durch oft gewaltsame Methoden. | |
Wird T. wegen Totschlags verurteilt, drohen dem Arzt, der derzeit | |
Haftverschonung hat, mindestens fünf Jahre Gefängnis. | |
Die Anklage könnte auch die parlamentarische Diskussion um die | |
Gesetzentwürfe zur Suizidbeihilfe beeinflussen. Noch vor der Sommerpause | |
soll ein neuer Gesetzentwurf kommen. Dieser soll zwei der bereits | |
vorgelegten Entwürfe zusammenführen. Diese beiden Entwürfe kommen von einer | |
Gruppe um die Abgeordnete Kathrin Helling-Plahr (FDP) und einer Gruppe um | |
Renate Künast (Grüne). Beide Entwürfe sehen eine Pflicht zur Beratung, | |
ähnlich wie bei Schwangerschaftsabbrüchen, vor. Es gibt aber keine Pflicht | |
zu einer psychiatrischen Begutachtung der Sterbewilligen als Voraussetzung | |
für einen ärztlich assistierten Suizid. | |
Zur Diskussion steht auch der dritte Entwurf einer Gruppe um den | |
Abgeordneten Lars Castellucci (SPD), der deutlich rigider ist. Danach | |
sollen Sterbewillige zweimal von Psychiater:innen untersucht werden | |
müssen, um die „Freiverantwortlichkeit“ festzustellen. Der Entwurf will den | |
ärztlich assistierten Suizid ansonsten wieder unter Strafe stellen. Der | |
Prozesstermin für T. ist für November angesetzt. | |
Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie von | |
Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. | |
Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, auch | |
anonym. Rufnummern: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. | |
21 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.berlin.de/generalstaatsanwaltschaft/presse/pressemitteilungen/2… | |
[2] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/20… | |
[3] https://saez.ch/journalfile/view/article/ezm_saez/de/saez.2016.01967/a240b8… | |
[4] https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/2019… | |
[5] https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/ste… | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
## TAGS | |
Ärztlich assistierter Suizid | |
Depressionen | |
wochentaz | |
Sterbehilfe | |
psychische Gesundheit | |
Psychische Erkrankungen | |
Suizidhilfe | |
Beihilfe zum Suizid | |
Suizid | |
GNS | |
Suizidhilfe | |
Hamburg | |
Krankheit | |
Sterbehilfe Deutschland | |
Sterbehilfe | |
Gesundheit | |
Mediennutzung | |
Schizophrenie | |
Verfassungsgericht | |
Sterbehilfe | |
Sterbehilfe | |
Interview | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Suizidhilfe und Justiz: Arzt wegen Sterbehilfe angeklagt | |
Dürfen Mediziner psychisch Kranken beim Suizid helfen? Dafür steht jetzt in | |
Berlin ein ehemaliger Hausarzt vor dem Landgericht. | |
Prozess wegen Tötung auf Verlangen: Er wollte sie erlösen | |
Ein 34-jähriger Mann half seiner Großmutter beim Sterben. Am Mittwoch wurde | |
er vom Amtsgericht Hamburg freigesprochen. | |
Debatte um Sterbehilfe: Nicht das Leben vergessen | |
Der Bundestag hat sich nicht auf eine Regelung zur Sterbehilfe einigen | |
können. Können wir jetzt erst mal über ein Leben in Würde für alle | |
sprechen? | |
Entscheidung über Sterbehilfe: Am Ende überwogen die Nein-Stimmen | |
Zwei Gesetzentwürfe zur ärztlichen Suizidhilfe sind im Bundestag | |
gescheitert. So fehlt weiter Rechtssicherheit für Sterbewillige, -helfer | |
und Ärzte. | |
Medizinethiker über Sterbehilfe: „Der Bundestag ist eingeknickt“ | |
Menschen in ausweglosen Leidenszuständen werden allein gelassen, | |
kritisiert der Medizinethiker Ralf Jox. Das gelte auch für Sterbehelfer und | |
hilfswillige Ärzte. | |
Gesetzentwurf zur Sterbehilfe: Hilfe zum Suizid wäre erlaubt | |
Vor der Sommerpause soll der Bundestag zur Sterbehilfe entscheiden. Nun | |
haben sich zwei überparteiliche Gruppen auf einen Entwurf geeinigt. | |
Expertin über Medien und Suizid: „Nachahmungseffekte verhindern“ | |
Der Verein „Freunde fürs Leben“ informiert auf sämtlichen Medienkanälen | |
über mentale Gesundheit. Warum sie das aber nicht auf Tiktok tun. | |
Demo vor dem Brandenburger Tor: Gegen das Stigma | |
Am Tag der Schizophrenie kommt in Berlin die Community zusammen. Sie will | |
für Entstigmatisierung der Krankheit kämpfen und Aufmerksamkeit schaffen. | |
Recht auf freiverantwortliches Sterben: Respekt bis zum Tod | |
Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft setzt voraus, den Menschen auch und | |
gerade die Vorstellung vom eigenen Lebensende selbst zuzugestehen. | |
Portugal legalisiert Sterbehilfe: Wozu weiter quälen lassen? | |
Es brauchte fünf Entwürfe, doch nun steht Portugals Gesetz zur Sterbehilfe. | |
Was das für Betroffene bedeutet und wer sich dagegen positioniert. | |
Über Sprache und Sterbehilfe: Einmal Jenseits und zurück | |
Unsere Gesellschaft forciert eine Enttabuisierung des Todes. Zugleich will | |
sie ihn durch sprachliche Verharmlosung unter Kontrolle bringen. | |
DGHS-Präsident über Sterbehilfe: „Lebenssattheit akzeptieren“ | |
Der Bundestag debattiert am Freitag über die Sterbehilfe. Robert Roßbruch, | |
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), berichtet | |
aus der Praxis. |