| # taz.de -- Debatte um Sterbehilfe: Nicht das Leben vergessen | |
| > Der Bundestag hat sich nicht auf eine Regelung zur Sterbehilfe einigen | |
| > können. Können wir jetzt erst mal über ein Leben in Würde für alle | |
| > sprechen? | |
| Bild: Essensausgabe der „Tafel“ in Offenbach | |
| Nicht jeder kann es sich leisten, gesund zu sein. Arme Menschen ernähren | |
| sich schlechter, rauchen mehr und leben meist in solch prekären | |
| Verhältnissen, dass sie unter großem Stress stehen. [1][Schwere physische | |
| und psychische Schäden können die Folge sein.] | |
| Wenn über Sterbehilfe diskutiert wird, ist immer von Würde die Rede. Oder | |
| von Selbstbestimmung. Oder würdevoller Selbstbestimmung und | |
| selbstbestimmender Würde. Dabei ist es interessant, sich anzusehen, wovon | |
| nicht die Rede ist und warum. Denn die Debatte über die Sterbehilfe lenkt | |
| ungemein davon ab, dass der Leidensweg, der zum Wunsch nach dem Tod führt, | |
| meist ein würdeloser ist. Darüber, dass der Zugang zu Gesundheit ungerecht | |
| ist, wird geschwiegen. | |
| Das Ziel, grundlegende Bedürfnisse wie Ernährung zu sichern, ist in | |
| Deutschland schon fast utopisch. [2][So rufen beispielsweise die Tafeln | |
| diese Woche den Ausnahmezustand aus.] Die Lebensmittelpreise werden höher, | |
| die Spenden rarer und die Kundschaft vervielfacht sich. | |
| Nicht nur hat der Staat seine Verantwortung, das menschliche | |
| Existenzminimum zu sichern, durch die Tafel ausgelagert, er hat diese dann | |
| auch noch finanziell aushungern lassen. Andere Grundbedürfnisse, die für | |
| die Gesundheit essenziell sind, bleiben ebenfalls unerfüllt. | |
| ## Keine Wohnung, kein Leben | |
| In einigen Ländern, in denen Sterbehilfe legalisiert ist, lässt sich | |
| erkennen, dass es meistens arme Menschen sind, die den Antrag darauf | |
| stellen. | |
| In Kanada gab es bereits einige [3][Fälle von Kranken], die sich für die | |
| Sterbehilfe anmeldeten, nachdem sie keine geeignete Wohnung finden und | |
| nicht von der Behindertenhilfe (Disability Payments) leben konnten. Nur | |
| wenige bekommen den Antrag letztlich genehmigt und erhalten das Recht zu | |
| sterben. Trotzdem: Es zeichnet sich ein tiefgehendes Problem ab. | |
| In Deutschland ist die häufigste Ursache für Suizid immer noch psychische | |
| Krankheit. Auch die Sterbehilfe wird von Leuten mit schweren psychischen | |
| Krankheiten wahrgenommen, [4][auch wenn das hierzulande noch umstritten | |
| ist.] Die Betroffenen meinen oft, ihren Angehörigen zur Last zu fallen oder | |
| sich in einer ausweglosen Situation zu befinden. Ein Kriterium, um in | |
| diesem Fall Sterbehilfe zu bekommen, ist, dass die betroffene Person | |
| austherapiert ist. | |
| Eigentlich sollte viel früher angesetzt werden: Es hat sich gezeigt, dass | |
| die Früherkennung einer psychischen Erkrankung für deren Verlauf von | |
| Vorteil ist. [5][Hierzulande sieht die Realität aber so aus, dass man | |
| monatelang auf Therapieplätze warten muss,] insbesondere dann, wenn man sie | |
| nicht aus eigener Tasche zahlt. Auswege sind also vorhanden, doch | |
| denjenigen, die nicht die finanziellen Möglichkeiten haben, bleiben sie | |
| versperrt. | |
| Die Sterbehilfe deswegen zu kriminalisieren, ist dennoch keine Lösung. Im | |
| Notfall nehmen Kranke die Sache nämlich selbst in die Hand. Zudem ist es | |
| absurd, dass eine Person, die ein Leben in Armut lebt, bei dem Wunsch zu | |
| sterben mit weiterer Ungerechtigkeit konfrontiert ist. Menschen, die es | |
| sich leisten können, reisen, wenn es hart auf hart kommt, ins Ausland, um | |
| den Service dort wahrzunehmen. Diese finanziellen Mittel hat eine arme | |
| Person nicht. | |
| Wenn ein kranker Mensch, der von Armut betroffen ist, keine Sterbehilfe | |
| bekommt, ist er durch ein miserables Leben gestraft und muss dann qualvoll | |
| aus diesem miserablen Leben scheiden. | |
| Sind das Leben und der Tod von Problemen belastet, reicht es nicht aus, nur | |
| den Tod einfacher zu gestalten. Wir dürfen in dieser Debatte nicht aus den | |
| Augen verlieren, dass die Ungerechtigkeit schon viel früher beginnt: Wir | |
| dürfen bei all dem Reden über den Tod nicht das Leben vergessen. | |
| 6 Jul 2023 | |
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| [1] /Folgen-von-Inflation-und-Krieg/!5867753 | |
| [2] /Ausnahmezustand-durch-Inflation/!5945577 | |
| [3] https://www.theguardian.com/world/2022/may/11/canada-cases-right-to-die-laws | |
| [4] /Assistierter-Suizid-bei-Depressionen/!5932350 | |
| [5] /Hilfe-bei-psychischen-Erkrankungen/!5932886 | |
| ## AUTOREN | |
| Valérie Catil | |
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