# taz.de -- Über Sprache und Sterbehilfe: Einmal Jenseits und zurück | |
> Unsere Gesellschaft forciert eine Enttabuisierung des Todes. Zugleich | |
> will sie ihn durch sprachliche Verharmlosung unter Kontrolle bringen. | |
Bild: Gehen, das ist Sterben 2.0 | |
Es gibt einen neuen Euphemismus fürs Sterben. „Der sich treu Gebliebene ist | |
gegangen“, hat n-tv seinen Nachruf für [1][Christian Ströbele] betitelt. | |
„Wieder ist ein Guter gegangen“, schreibt ein User unter den Text zum Tod | |
von Michail Gorbatschow im österreichischen Standard. „Er wollte gehen“, so | |
hat mir kürzlich jemand vom Tod seines über 90-jährigen Vaters erzählt. | |
Nun ist es nichts Neues, dass man den Tod sprachlich mit Rüschengardinen | |
verhängt. Das Unheimliche ist, wenn eine Formulierung das Sterben zum | |
persönlichen Entschluss macht und so gut zum [2][Konzept des assistierten | |
Suizids] passt, als hätte der Marktschreier der Sterbehilfe, Roger Kusch, | |
sie sich persönlich ausgedacht. | |
„Er ist gegangen“, das klingt so freundlich und mir wird kalt, wenn ich es | |
höre. | |
Gehen, das ist Sterben 2.0. Wer geht, kann umkehren. Wer geht, hat | |
umfassende Kontrolle über den eigenen Körper. Nichts davon ist der Fall, | |
wenn wir eines natürlichen Todes sterben. Tatsächlich ist Sterben ein | |
Prozess, in dem unsere Kräfte schwinden. Kein Wunder, dass es da Unbehagen | |
gibt in einer Gesellschaft, die Zeugung und Geburt, die andere große | |
Unwägbarkeit, weitgehend unter Kontrolle gebracht hat. | |
Die Sterbehilfeorganisationen gehen dabei einen interessanten Mittelweg. | |
„Wir zögern nicht, das Wort Sterben zu verwenden“, schreibt der | |
Geschäftsführer des von Kusch gegründeten „Vereins Sterbehilfe“, Jakub | |
Jaros, als ich ihn frage, ob er davor zurückschrecke. Schließlich trage man | |
das Sterben ja sogar im Namen, schreibt Jaros und dass das Wort „keine | |
tiefere emotionale Bewertung verdiene“. Man versuche, „ein Gleichgewicht | |
zwischen menschlicher Sensibilität und juristischer Rationalität zu | |
finden“. | |
Als ich anrufe, und frage, was das bedeutet, sagt Jaros, dass es darum | |
gehe, etwas zu finden, „was nicht Pathos verbreitet, aber doch eine gewisse | |
Sensibilität ausdrückt“. | |
## Wie an einer Verkehrsampel | |
Das ist es: kein Pathos, es geht ja nur ums Gehen. Der Sammelband über die | |
bislang 470 „Suizidbegleitungen“ des Vereins trägt den Titel „Ausklang. … | |
Glück des grünen Lichts“, als ginge es um die Überquerung einer Kreuzung. | |
Tatsächlich soll das grüne Licht verweisen auf die Zusage des Vereins, wenn | |
alle Voraussetzungen für den Vertragsabschluss zum assistierten Suizid | |
erfüllt sind. | |
Dies ist kein Pamphlet gegen Sterbehilfe, es ist eines gegen ein Konzept | |
kontrollierten und kontrollierbaren Sterbens, das schleichend normativ | |
wird. „Warum so panisch?“, könnte man fragen. „Sie ist von uns gegangen�… | |
steht doch seit Jahrhunderten in den Traueranzeigen. Aber nun sickert das, | |
was einmal Baustein für eine ganz bestimmte Textform war, in das | |
alltägliche Sprechen: „Er wollte gehen.“ Aber gehen tut man, solange man | |
autark ist. Schwäche ist da nicht vorgesehen, Bettlägerigkeit, auf andere | |
angewiesen zu sein. | |
Es gibt einen Science-Fiction-Film, „Logan’s Run – Flucht ins 23. | |
Jahrhundert“, über eine Gesellschaft, in der die Menschen kurz vor ihrem | |
30. Geburtstag getötet werden. Es ist eine Welt, die Krankheit und Verfall | |
ausschließt und dafür einen absurden Preis zahlt. Was bedeutet es, wenn | |
Sterben zu einem persönlichen Entschluss gemacht wird, den man zum | |
richtigen Zeitpunkt treffen sollte? Selbst schuld, wenn man den Absprung | |
nicht vor der Demenz geschafft hat. Selbst schuld, wenn man das | |
Gesundheitswesen mit den Kosten für die Versorgung eines bettlägerigen | |
Menschen belastet. | |
„Logan’s Run“ ist 1976 erschienen. Heute streitet man in den Niederlanden, | |
ob das Nein einer Dementen Grund genug ist, einen assistierten Suizid | |
abzubrechen. In England hat gerade ein Gericht gegen den Willen der Eltern | |
bestimmt, dass die lebenserhaltenden Apparate, an denen ihr Sohn hängt, | |
[3][abgestellt werden], und ein Kommentator hat das in Zusammenhang | |
gebracht mit den angespannten Finanzen des britischen Gesundheitssystems. | |
„Er geht“, das klingt wie eine individuelle Entscheidung im luftleeren | |
Raum. Tatsächlich werden die Voraussetzungen dafür in Gerichten und | |
Behörden geschaffen. Im Gesundheitswesen der DDR wurde ein | |
Schwangerschaftsabbruch als Schwangerschaftsunterbrechung bezeichnet, als | |
ließe sich die Schwangerschaft zum gewünschten Zeitpunkt fortsetzen. | |
## Gefallen und gegangen | |
[4][Für den Duden] sind auch die Gefallenen der Bundeswehr ein Euphemismus. | |
Fragt man bei der Pressestelle des Verteidigungsministeriums nach, dann ist | |
dies keine Verharmlosung, sondern eine sachliche Unterscheidung: „Gefallen“ | |
ist jemand, der „durch gegnerische Feindeinwirkung zu Tode gekommen ist“, | |
„Getötete“ sind „durch sonstige Umstände verstorbene Soldatinnen und | |
Soldaten“. | |
Es gebe da keine Wertung, fügt der Pressesprecher noch hinzu. Zu fallen ist | |
nicht besser oder schlechter als getötet zu werden, aber es klingt so | |
harmlos wie das Gehen, auch wenn gefallene Helden schon in der Bibel | |
vorkommen. | |
Mit Nachdruck versucht eine Gesellschaft, die in Sonntagsreden eine | |
Enttabuisierung des Todes fordert, ihn durch Verharmlosung unter Kontrolle | |
zu bringen. Wie in den Pflegeheimen und Krankenhäusern tatsächlich | |
gestorben wird und ob sich an der Trostlosigkeit, mit der es stattfindet, | |
etwas ändern lässt, ist dann keine Frage. Wir sind mal eben gegangen, zum | |
Ausklang, bei Grün. Und wenn es uns da nicht gefällt, kommen wir eben | |
zurück. | |
3 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Christian-Stroebele/!t5878527 | |
[2] /Suizid-Assistenz-in-Deutschland/!5815551 | |
[3] https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/fall-archie-aerzte-wollen… | |
[4] https://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/Euphemismus | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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