| # taz.de -- Film „Alles ist gut gegangen“ im Kino: Komm, guter Tod | |
| > In seinem Spielfilm „Alles ist gut gegangen“ erzählt François Ozon von | |
| > Sterbehilfe. Der Gefahr des Pathos weicht er geschickt aus. | |
| Bild: Widerstand zwecklos: Emmanuèle (Sophie Marceau) und ihr Vater André Ber… | |
| Es ist paradox: Menschen wollen gut leben, doch sterben meistens schlecht. | |
| Meistens da, wo sie geboren werden, an einem unpersönlichen, funktionalen | |
| Ort: im Krankenhaus. Dort kommt es nicht selten zu Szenen wie dieser: Ein | |
| Mann liegt nachts im Krankenbett. Die Augen aufgerissen, die Unterlippe | |
| nach außen gestülpt, ein Augenlid hängt runter. Er schreit, windet sich, | |
| reißt die Schläuche heraus, die in der Nase steckten. Ein Gerät fiept. | |
| Krankenpflegerinnen eilen herbei, geben ihm eine Spritze, er verstummt. | |
| Es ist eine Szene, wie sie so ähnlich oft wiederkehrt in [1][François | |
| Ozons] „Alles ist gut gegangen“, und sie ist immer wieder schwer | |
| erträglich. Nicht, weil sie schockiert, sondern weil sie so alltäglich ist | |
| – geht es doch im Moment des Verfassens dieses Texts Millionen Menschen so | |
| wie dem 84-jährigen André Bernheim ([2][André Dussollier]). Er hatte einen | |
| Schlaganfall, kann nicht mehr richtig sprechen oder gehen, nicht alleine | |
| essen oder trinken, ist desorientiert und unkoordiniert, kurzum: komplett | |
| abhängig. | |
| Seine Töchter Emmanuèle (Sophie Marceau) und Pascale (Géraldine Pailhas) | |
| kommen ihn regelmäßig besuchen. Emmanuèle, die ältere, ist täglich bei | |
| ihrem Vater, füttert und unterhält ihn, verbringt Nächte auf einem Stuhl | |
| vor seinem Bett oder hört sich im Arztzimmer stoisch die schwer | |
| auszusprechenden Namen der Medikamente an, die ihrem Vater in hohen Dosen | |
| verabreicht werden. | |
| Eines Tages bittet André sie darum, „es zu beenden“. Emmanuèle ist | |
| schockiert. Verweigert erst, doch merkt, dass es vergeblich wäre, den | |
| sturen Vater vom Sterbewunsch abzubringen. Sie kontaktiert einen Schweizer | |
| Verein für Sterbehilfe. Ihr Vater müsse selbst nach Bern kommen, um den | |
| Gifttrunk eigenhändig zu trinken. Emmanuèle vereinbart einen Termin, der | |
| weitere Verlauf des Films ist geprägt vom Gefühl eines Countdowns zum Tag | |
| X. | |
| ## Sich freiwillig töten lassen | |
| Dem französischen Regisseur gelingt es, die traurige Geschichte aus dem | |
| gleichnamigen Buch Emmanuèle Bernheims von 2014 weitgehend unsentimental zu | |
| erzählen. Seinen Protagonisten André inszeniert er als, wenn auch nicht | |
| unsympathischen, Kotzbrocken, der etwa befiehlt, nicht neben den | |
| „schrecklichen Schwiegereltern“ begraben zu werden. | |
| Zudem retten harte Schnitte den Film immer dann vor zu viel Pathos, wenn | |
| er, großzügig gepfeffert mit Brahms’ melancholischer Klaviermusik, | |
| überzukochen droht: wenn André seiner Tochter den Löffel aus der Hand | |
| schlägt, mit dem sie ihn füttert, und sie eine Sekunde später im Mittelmeer | |
| schwimmt. Oder als die Schwestern im Restaurant gemeinsam weinen und kurz | |
| darauf blutige Szenen eines Splatterfilms zu sehen sind, den Emmanuèle | |
| danach auf dem heimischen Sofa schaut. | |
| Die filmische Atmosphäre folgt dem Gemüt Andrés – und bleibt zu dem seiner | |
| Familie auf Distanz. Während André angesichts seines Endes auflebt und | |
| seine Töchter um einen Besuch im Lieblingsrestaurant bittet, leiden seine | |
| Töchter unter ihrer Mitverantwortung, auch wenn sie es inzwischen | |
| akzeptiert haben – ganz im Gegensatz zu Andrés Cousine, die aus New York | |
| einfliegt, um ihren Cousin davon abzuhalten. Wie könne er sich, fragt sie | |
| ihn als jüdische Holocaust-Überlebende, freiwillig töten lassen? Ein | |
| moralisches Dilemma, das jedoch nur kurz gestreift wird. | |
| Vielmehr kehrt Ozon das Paradox vom guten Leben, das den Tod ignoriert, | |
| genüsslich um: Andrés scheinbar neue Lebenslust ist eine Todeslust. Ein | |
| Affekt, der gern unterdrückt wird – ist die Schulmedizin doch verpflichtet, | |
| auch todkranke Menschen am Leben zu halten, die das nicht wollen. Aktive | |
| Sterbehilfe, wird suggeriert, bedeutet Rückgewinnung von Autonomie. | |
| Dass sie oft zu kurz kommt, zeigt Ozon gern beiläufig, per Kameraschwenk | |
| auf Andrés Handgelenk, das ein Armband mit Strichcode trägt. Kranke sind | |
| immer auch Kunden, Nummern, die verwaltet werden. Dass die Ethik von | |
| Sterbehilfe in solchen handwerklichen Kniffen statt langer Dialoge | |
| behandelt wird, ist typisch für Ozon, der von sich selbst in Interviews | |
| sagt, er kümmere sich nicht um Diskurse, sondern um das Filmemachen selbst. | |
| Mit dem Realismus der Bilder sowie dem authentischen Spiel von Dussollier | |
| und Marceau stellt der Regisseur Fragen, die wehtun: Wie lässt sich gut | |
| sterben in einer Gesellschaft, die den Tod tabuisiert? „Das Bild, das eine | |
| Gesellschaft vom Tod hat, bestimmt die herrschenden Vorstellungen von | |
| Gesundheit“, heißt es in [3][„Nemesis der Medizin“ des Philosophen Ivan | |
| Illich]. Das Bild, das der Film zeichnet, ist ambivalent. Sein Titel ist | |
| gut gewählt. Am Ende ist nicht klar, was eigentlich gut gegangen ist. Das | |
| Leben? Das Sterben? Oder die kurze Zeit dazwischen? | |
| 14 Apr 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Philipp Rhensius | |
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