| # taz.de -- Familienfilm von François Ozon: Niemand hier bereut ein schwierige… | |
| > François Ozon spielt in „Wenn der Herbst naht“ mit leichter Bosheit | |
| > Formen der Wahlverwandtschaft durch. Mit neuen Rollenmodellen für ältere | |
| > Frauenfiguren. | |
| Bild: Mit Liebe gesammelte Pilze: Michelle (Hélène Vincent) beim Kochen in �… | |
| Zu älteren Damen kennt das Kino allerlei Klischees. Geht es um „Omas“, dann | |
| haben sie eine Schwäche für niedliche Enkel, die sie in altmodischen Küchen | |
| mit selbst zubereiteten Speisen verwöhnen. Aus dem Partnerinnenalter sind | |
| sie meist (aufgrund von Verwitwung) heraus, stattdessen sitzen sie allein, | |
| manchmal einsam zu Hause; zuweilen tun sie sich mit anderen | |
| übriggebliebenen Damen zusammen, um Ältere-Damen-Dinge zu unternehmen | |
| (Gesellschaftsspiele, Spaziergänge, Handarbeiten). | |
| Selten, aber legendär sind sie als scharfsinnige Kriminalistinnen („Miss | |
| Marple“), als spleenige Mörderinnen (Frank Capras „Arsen und | |
| Spitzenhäubchen“, 1944) oder als schrullige Vermieterinnen für Gangster | |
| und/oder Detektive (Alexander Mackendricks „Ladykillers“, 1955, Mrs. | |
| Hudson in „Sherlock Holmes“). | |
| Für den traditionellen Prototyp der älteren Dame in der Erzählung zeichnen | |
| über die Grenzen Deutschlands hinaus die Brüder Grimm verantwortlich – sie | |
| waren es, die Waldhäuschen, Einsamkeit und Suppentopf mit fragwürdigem | |
| Inhalt in der klassischen Märchenhexe zusammenbrachten. | |
| Die Figur, die der [1][Regisseur und Drehbuchautor] François Ozon sich für | |
| seinen Film „Wenn der Herbst naht“ erdacht hat, scheint einige der | |
| genannten Boxen zu ticken: Michelle (Hélène Vincent) lebt allein in ihrem | |
| von saftigen Wäldern umgebenen, pittoresken Häuschen im malerischen | |
| Burgund. | |
| ## Zwei Freundinnen beim Pilzesuchen | |
| Wenn sie sich mit ihrer langjährigen Freundin Marie-Claude (Josiane | |
| Balasko), einer gleichaltrigen Frau aus dem Dorf, zum Pilzesuchen trifft, | |
| steckt sie ihr ergrauendes Haar sorgsam zu einer praktisch-eleganten | |
| Hochfrisur zusammen, wickelt sich in eine Weste, und nimmt vorsichtshalber | |
| ein Pilzbestimmungsbuch mit. | |
| Das Schönste für Michelle sind jedoch die Besuche ihres geliebten Enkels | |
| Lucas (Garlan Erlos), mit dem Michelles Tochter Valérie (Ludivine Sagnier) | |
| viel zu selten aus Paris kommt. Sind die beiden vor Ort, dann gibt es gutes | |
| Essen im Wohnzimmer, in dem jedes Schondeckchen am richtigem Platz liegt; | |
| und Waldspaziergänge in rührender Oma-Enkel-Harmonie. | |
| Dass etwas an der Idylle nicht ganz stimmt, darauf versteckt Ozon schon | |
| früh in seinem Film Hinweise, die man suchen muss wie Pilze. Einige davon | |
| wachsen an der Oberfläche, andere kann man (wie den Speisemorchel) im | |
| Verborgenen finden: Michelles Vergangenheit ist ungewöhnlich – sie und | |
| Marie-Claude haben einst als Prostituierte in Paris gearbeitet, ihre Kinder | |
| brachten sie während dieser Zeit allein durch. | |
| ## Vergiftetes Pilzgericht | |
| Aber ist es das, was das Verhältnis zwischen der missmutigen Valérie und | |
| ihrer Mutter permanent trübt? Wofür saß Vincent (Pierre Lottin), der | |
| erwachsene, finanziell stets klamme Sohn von Marie-Claude, im Gefängnis? | |
| Wieso vertraut ihm Michelle so sehr, dass sie ihn bei sich als Gärtner | |
| arbeiten lässt? Und wie kann es sein, dass sich trotz Michelles Vorsicht | |
| anscheinend doch ein falscher Pfifferling oder ein Gallenröhrling oder | |
| vielleicht ein giftiger Kartoffelbovist in das liebevoll zubereitete und | |
| sorgfältig geprüfte Pilzgericht verirrt haben muss!? | |
| Valérie wird nach einem gemeinsamen Essen nämlich mit einer Vergiftung ins | |
| Krankenhaus eingeliefert und wirft ihrer Mutter danach Tötungsabsichten | |
| vor. Zu Michelles Entsetzen droht sie sogar, Lucas von seiner Oma | |
| fernzuhalten. Doch das Schicksal in Form von Michelle, Vincent und | |
| vielleicht auch Marie-Claude scheint es anders zu meinen. Denn kurz darauf | |
| geschehen Dinge, die das Leben aller Beteiligten verändern – zum Teil sogar | |
| beenden. | |
| Im Verlauf der Geschichte lockern sich Familienverbunde, während sich | |
| andere festigen. Eine glückliche Familie, so ließe sich Ozons moderne und | |
| furios unethische Botschaft interpretieren, besteht jedenfalls nicht | |
| unbedingt aus einer Gruppe von biologisch miteinander Verwandten. Sondern | |
| aus Menschen, die das tolerante Miteinander aktiv gewählt haben. Und diese | |
| Wahlbeziehungen dürfen auch über Leichen gehen. Denn wer sagt denn, dass | |
| Eltern-Kind-Beziehungen immer das Nonplusultra sein müssen?! | |
| ## Märchenhaft-herbstliche Bilder | |
| Zu viel über die Story von Ozons Tragikomödie zu verraten, würde ihren | |
| Genuss schmälern. Jener Genuss entsteht neben der doppeldeutigen Botschaft | |
| und märchenhaft-herbstlichen Bildern vor allem aus der Spielfreude der | |
| Schauspieler:innen: Die fast 82-jährige Hélène Vincent interpretiert ihre | |
| Figur Michelle mit [2][nonchalanter Genauigkeit] und stellt deren | |
| Älterwerden (der Film erzählt einen Zeitraum von einem Jahrzehnt) mit | |
| überzeugendem Selbstbewusstsein dar. Irgendwann ist Michelles Schopf | |
| komplett weiß, fast unmerklich verändert sich auch ihr Gang – ihr Glaube an | |
| Selbstbestimmung dagegen ist ungebrochen. | |
| Pierre Lottin als undurchschaubarer, in seiner vermeintlichen Kälte bewusst | |
| einfältig angelegter Vincent balanciert an der Grenze zwischen Retter und | |
| Schurke, Ludivine Sagnier als bockige Tochter führt sämtliche Bewegungen | |
| mit einer unterschwelligen Wut aus, die neugierig macht. | |
| Und wenn Josiane Balasko alias Marie-Claude in ihrer praktischen Steppjacke | |
| durch die Brille lugt, dann konterkariert das mit einem Bild die | |
| Vorstellung zu Ex-Prostituierten, die bei vielen Menschen vorherrschen | |
| mögen: Hier bereut niemand ein schwieriges Leben, hier ist man einfach | |
| stolz darauf, sich durchgekämpft zu haben. | |
| Dass die Toleranz Ozons [3][gegenüber Beziehungsmöglichkeiten] | |
| Heteroklischees sprengt, versteht sich. Ältere Damen im Film haben eben | |
| einiges zu bieten. Auch wenn man bei ihrem Pilzragout aufpassen sollte. | |
| 28 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jenni Zylka | |
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