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# taz.de -- Neuer Film von François Ozon: Der Zwilling und die Katze
> Verwirren kann er gut: In seinem Film „Der andere Liebhaber“ entfacht
> François Ozon einen Exzess der Motive und Figuren.
Bild: In sich gespiegelt: Jérémie Renier und Marine Vacth
Chloé (Marina Vacth) hat Schmerzen im Unterleib, aber das Problem, davon
ist sie überzeugt, sitzt woanders. So besucht sie den Psychoanalytiker Paul
(Jérémier Renier). Im Wartezimmer prüft sie die Erde der Pflanze auf dem
Schrank vor dem sehr schönen Wandblau. Überhaupt alles sehr elegant hier.
Paul steht in der Tür, der Mann hat Geschmack, er ruft sie in die Praxis:
verspiegelte, ansonsten in einem wüstenfarbenen Ocker gestrichene Wand.
In der ersten Einstellung, in der man ihn sieht, bleibt Paul als etwas
Blondes mit Brille im Bildhintergrund unscharf. Dann sitzen sie, Chloé und
Paul, sich – es ist nicht die klassische freudianische Couchvariante – von
braunem Sessel zu braunem Sessel gegenüber, und mit der Unschärfe ist es
sehr schnell vorbei. Chloé geht, sie kommt wieder, und hast du nicht
gesehen, macht François Ozon aus der Analytiker-Patienten-Begegnung ein
montagegestütztes Spektakel.
Sie kommen sich näher, Gesicht an Gesicht, mit den Mitteln des Schnitts.
Darauf Verdopplung im Spiegel, Hinterköpfe und Vorderansichten raffiniert
über Kreuz. Schärfeverlagerung, Seitenansicht, Chloé von vorne und der
Seite doppelt im Bild. Etwas führt Ozon hier im Schilde. Zurückhaltend ist
er nicht. Eher ist von Anfang an alles zu viel.
## Frau über Abgrund?
Aus dem Montagespektakel wird rasch eine Liebesgeschichte. Paul und Chloé
sind ein Paar, damit ist die Analysebeziehung beendet. Sie geht über eine
leitmotivisch wiederkehrende Brücke, bei der man sich, wie so oft in diesem
Film, fragt, ob Ozon einfach das Bildmotiv mochte, oder ob er eine
symbolische Bedeutung hineinlegen oder zusätzlich auftragen wollte: Frau
über Abgrund?
Chloé arbeitet als Aufseherin in superzeitgenössischen Kunstinstallationen.
Sie sind sehr slick, weiß und steril in der Regel, eine ist zugleich
schlierig, eine andere fleischig und klumpig, eine ein gewaltiges, wie im
Bersten eingefrorenes Holzwurzelwerk.
Einmal fährt Chloé im Bus und glaubt aus den Augenwinkeln Paul zu sehen, im
Gespräch mit einer Fremden. Sie geht der Sache nach, da gibt es noch eine
psychoanalytische Praxis. Sie klingelt, „Louis Delord“ steht auf dem
Schild. Spiegel im Flur, raffiniert fragmentiert. Der Analytiker bittet
Chloé in die Praxis – und er gleicht Paul wie ein Ei dem anderen.
Auch hier sitzt man sich von Sessel zu Sessel gegenüber, auch hier ein
Spiegel an der Wand, aber die Sessel sind weiß. Die Farben sind kühl. Und
während Paul eher der schluffige Pullovertyp ist, der die Haare in die
Stirn gekämmt hat, trägt Louis teure Anzüge und ist mehr der Typ Christian
Lindner. Keine Frage, dass die beiden Zwillinge sind. Das dunkle Geheimnis
dahinter wird später enthüllt.
## Brutale Sex-Therapie
Chloé stellt sich vor als Eva, diesmal macht Ozon kein großes
Montagespektakel aus der Begegnung, Schuss-Gegenschuss, immer frontal,
Hinterkopf des Gegenübers unscharf im Bild. Die Beziehung entwickelt sich
nichtsdestoweniger stürmisch. Louis Delord diagnostiziert Frigidität,
schreitet zur Tat, einer Art brutaler Sex-Therapie. Bald darauf kommt es
zum tricktechnisch als mehr oder minder halluziniert vorgestellten Dreier
bis Vierer: Chloé und Eva, Paul und Louis zusammen im Bett. Aber hier und
grundsätzlich ist, was real ist, in diesem Film immer wieder die Frage.
Damit wären wir bei den Katzen. Chloé hat einen grauen Kurzhaarkater namens
Milo. Paul mag ihn nicht, er kommt zur Nachbarin, deren Tochter im Koma ist
oder tot. Louis wiederum hat einen vielfarbigen langhaarigen Kater, das
Ergebnis einer chromosomalen Zwillingsverschlingung, ein ganz seltener
Fall.
Auch sonst: wieder und wieder Katzenmotive. Wiederholt, und in der
Wiederholung verschoben, wird in diesem Erzählarrangement, das auf einer
Geschichte von Joyce Carol Oates beruht, so manches, wenn nicht sogar,
denkt man im vom Film entwickelten Beziehungswahn irgendwann: alles, Katze
wie Mensch.
## Ist etwas unter der slicken Oberfläche?
Ozon zeigt das einerseits mit viel bildtechnischem Aufwand und pfropft auch
mal imaginäre Bilder von zwei Zwillingsjungs aufs Reale. Es fragt sich nur:
Wie steht der Film zu seinen Oberflächen, an denen alles zugleich
derangiert und sehr slick ist? Ist etwas darunter, oder ist die schiere
Oberfläche der Punkt? Ist das selbst ein psychoanalytischer Film oder geht
es ihm um die Ausbeutung von Motiven, die ihm zu nichts weiter als
Bildanlässen werden? Und kann man das überhaupt unterscheiden?
Denn zeigeverrückt, vernarrt ins Vorführen des bereits Gesagten, ins
Explizieren des Impliziten, das ist „Der andere Liebhaber“ immer wieder.
Oder scheint es. Erst ganz am Ende erfährt man, was sich hinter dem ganzen
– aber immer kühlen – Exzess, dem Wuchern der Motive und Figuren verbirgt.
Dabei lag, was sich verbirgt, von Anfang an offen zutage. Alles war schon
gezeigt und gesagt. Der ganze Aufwand, die ganze große
Zwillingsverschlingung, diente nur dazu zu verbergen, dass dieser Film
nichts, wirklich gar nichts verbirgt.
18 Jan 2018
## AUTOREN
Ekkehard Knörer
## TAGS
Francois Ozon
Psychoanalyse
Komödie
Zwillinge
Spielfilm
Literatur
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes
Francois Ozon
Transgender
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