# taz.de -- Stéphane Brizés Spielfilm „Ein Leben“: Das Helle macht das Du… | |
> Stéphane Brizé hat Guy de Maupassants Roman „Ein Leben“ in radikaler Fo… | |
> verfilmt. Dadurch bekommt er einen ganz eigenen Rhythmus. | |
Bild: Heldin mit düsterem Schicksal: Judith Chemla (links) als Jeanne in „Ei… | |
Wirst du mich immer lieben?“ – „Ich werde dich immer lieben.“ Sie sprec… | |
es, sie versprechen es einander, sie sind einander versprochen: Jeanne | |
(Judith Chemla) und Julien (Swann Arlaud). Sie versprechen es einander in | |
der Sonne, im Licht, auf einer Anhöhe über dem Meer. Küsse, die Hände | |
liebkosen einander, Fragmente einer Sprache der Liebe, dann folgt ein | |
Schnitt. | |
Jeanne und Julien sitzen drinnen, es ist dunkel, es ist Herbst, sie lässt | |
Holz ins Feuer legen. Er ist ungehalten: Wie teuer das ist, das Holz, die | |
Kerzen, sie soll sich wärmer anziehen. Auf hell folgt übergangslos dunkel. | |
Hart trifft der Traum vom Glück auf eine Wirklichkeit, die für Jeanne kaum | |
etwas anderes ist als ein einziges Unglück, wenngleich in ihrem Unglück | |
reich nuanciert. | |
Als Kind haben ihre Eltern sie mit den besten Absichten ins Kloster | |
gesteckt, und das heißt auch: im Kloster versteckt vor den Blicken, aber | |
auch vorm Blick auf die Welt. So kommt es, dass sie mit siebzehn, als ihre | |
Eltern sie auf ihre Besitzungen holen, weiß Gott was erwartet: „Und sie | |
träumte von der Liebe“, schreibt Maupassant in seinem Roman „Ein Leben“, | |
den Stéphane Brizé hier verfilmt. | |
„Die Liebe! Seit zwei Jahren erfüllte sie sie mit wachsender Angst vor | |
ihrem Nahen. Jetzt durfte sie lieben, sie braucht ihm nur zu begegnen, aber | |
wie würde er sein?“ Verführerisch wird er sein, dieser Julien, ein Bild von | |
einem Mann, ein Leichtes, in ihm einen zu sehen, der er nicht ist. Der | |
reale Julien ist ein Geizhals, kennt nur sich, seinen Komfort, seine Lust, | |
er betrügt Jeanne erst mit dem Dienstmädchen Rosalie, dann mit einer | |
Nachbarin, was er nicht überlebt. | |
Radikal ist, was Brizé mit Maupassants Roman unternimmt. Die Hochzeitsreise | |
nach Korsika: ersatzlos gestrichen, was bleibt, ist der Blick auf die Hände | |
der Liebe. Der fanatische Priester, ihn gibt es, er stachelt Jeanne gegen | |
ihren Ehemann auf, die Szene, in der dieser Priester ohne Grund einen | |
Hundewelpen zu Tode tritt, gibt es aber nicht. | |
## Eine abgrundtief traurige Figur | |
Und leider fehlt auch Jeannes Tante Lison, eine abgrundtief traurige Figur: | |
„Sie hatte nirgends einen Platz in der Welt, sie war eines jener Wesen, das | |
sogar die Menschen nicht kennen, die ihm doch nahe stehen. Ihr Tod hätte im | |
Hause keine Lücke hinterlassen. Die Worte ‚Tante Lison‘ erweckten keinen | |
freundlichen Widerhall in anderen Menschen. Es war, als wenn man die Worte | |
‚die Kaffeekanne‘ oder ‚die Zuckerdose‘ ausgesprochen hätte.“ | |
Auch das: ein Leben, aber das Leben einer Frau, die in dieser Gesellschaft | |
keinen Ort, keinen Platz hat und gar nicht erst auf die Idee kommen darf, | |
sich ihn zu nehmen; ein Leben also, das fast keines ist. Es ist schade, und | |
fast ein Unrecht, dass auch Brizé in seinem Film für sie keinen Platz | |
macht. Ich will sie darum erwähnen. | |
Andererseits sind die Räume in diesem Film ohnehin eng. Das beginnt mit dem | |
Bildformat, der Rahmen ist nur ein Drittel breiter als hoch, für heutige | |
Sehgewohnheiten fühlt sich das an, als stieße der Inhalt des Bilds immerzu | |
links und rechts an den Rand. Die Enge des Bilds hat mehr als einen Effekt: | |
Sie ermöglicht die Konzentration – wer oder was immer im Bild ist, füllt | |
dieses leicht. | |
## Von den Rändern bedrängt | |
Die Menschen verlieren sich, anders als in Breitleinwandformaten, niemals | |
im Raum – dafür sind sie von den Rändern bedrängt. Schnell gerät etwas ins | |
Off: Die Kamera stellt im Schwenk Verbindungen her, deren Abbruch dann | |
wieder droht. Und alles ist viel deutlicher als im Kino sowieso immer nur | |
Ausschnitt. | |
Brizé sperrt von Anfang an Jeanne in seine engen Bildkader ein. Man merkt | |
es nur nicht sofort. „Es schien ihr“, so ein letztes Mal Maupassant, „als | |
gäbe es nur drei Dinge in der Schöpfung, die wirklich schön waren, Licht, | |
Luft und Wasser.“ Und diese drei Dinge setzt Brizé sehr wohl in ihr Recht. | |
Erst ist Jeanne von ihnen umfangen, beim Gärtnern, bei der spielerischen | |
Jagd durch die Natur, mit Rosalie, in der Harmonie mit ihren so gütigen, | |
allzu gütigen Eltern. | |
Aber auch das Glück des Beginnens ist nicht reiner Ausdruck von Freiheit, | |
die Unbeschwertheit wird durch das Bildformat in eine ambivalente Tonart | |
gesetzt. Es ist nicht so, dass die Bilder des Glücks vom Unglück, das | |
kommt, noch nichts wissen. | |
## Das Licht, die Luft und das Wasser | |
Es sind solche Szenen, auf die der Film mit einer oft flirrend leichten | |
Handkamera und in auf Super-8 anspielendem grobkörnigem Bild das Glück im | |
Leben Jeannes konzentriert. Es gibt das Licht, die Luft und das Wasser, das | |
Grüne und Helle und Gelbe der Farben, das sind die Elemente, in denen | |
Jeanne ins Leben aufbricht. Dann wird alles düstrer. Dunkel das Bild, kühl | |
die Farben, mehr bedrückendes Innen als ins Weite gehendes Außen. | |
Nicht, dass das Helle völlig verschwindet, aber es zieht sich zurück: in | |
die Erinnerungen Jeannes, die ihren Halt in der Gegenwart zusehends | |
verlieren. Diesen Erinnerungen gibt Brizé in seiner Montage Raum. Die | |
Gegenwart, geprägt von Tod und Einsamkeit und dem geliebten, nichtsnutzigen | |
Sohn in der Ferne, und die Vergangenheit, sich immer stärker noch färbend | |
in den Elementen des Glücks, schieben sich ineinander. Aber das Helle, das | |
vorbei ist, macht das Dunkle noch dunkler. | |
Der Film streicht nicht nur, wie bei Verfilmungen üblich und notwendig, | |
einzelne Figuren und Episoden. Bestimmender ist ein Verfahren der | |
Reduktion, das dramatische Höhe- und Wendepunkte prinzipiell eher streift, | |
als sie auszumalen. Die Todesfälle sind auf ein, zwei Bilder konzentriert: | |
Da liegt plötzlich die Mutter auf dem Sterbebett. Jeannes Ehemann: blutig | |
niedergestreckt, der gehörnte Mann der Geliebten daneben. Nichts weiter | |
dazu. | |
## In Stimmungen des Bilds transformiert | |
Nichts bleibt im Film von der zu sachlicher Kühle, aber auch sachlicher | |
Zärtlichkeit fähigen Stimme des Erzählers aus dem Roman. Alles ist in | |
Stimmungen des Bilds transformiert. Die Welt, die Gesten, die Ereignisse | |
sind kleiner, weniger dramatisch auch, impressionistisch, nicht atemlos, | |
aber ohne epischen Atem. | |
Brizé setzt eine Ästhetik der Skizze gegen das Romanhafte. Der Roman wird | |
aufgelöst in einzelne, nur angedeutete Szenen, und in Kontraste, die viel | |
stärker als die narrative Kontinuität die Folge des Geschehens bestimmen. | |
Daraus zaubert der Film seinen eigenen Rhythmus; er gewinnt aus dem | |
Hingetuschten eine fließende Bewegung, in der sich Zeiten und Räume | |
aufzulösen beginnen. | |
Im eng gezogenen Rahmen, in der Lockerung der Chronologie und im | |
Ineinanderschieben der Zeiten, in der Konzentration auf den Augenblick und | |
der alles Gefühl in eine Innenspannung bannenden Judith Chemla als Jeanne, | |
deren Leben in immer statischeren Bildern gefriert: Das fügt sich zu einer | |
filmischen Form, die keines bindenden Bandes durch einen Erzähler bedarf. | |
Was dabei gelingt, ist eine Verbindung von Fragment und Essenz. Aus den | |
Elementen von Luft, Licht und Wasser destilliert der Film eine Schönheit, | |
die über das düstere Schicksal der Heldin – nein, sicher nicht triumphiert. | |
Aber es bleibt nicht nur das Dunkle. „Une vie“ besitzt eine unsentimentale | |
Genauigkeit des Mitleids, eine Empfänglichkeit für das Helle, die mit | |
Kitsch nichts zu tun hat, und ein Zartgefühl, das die Geschichte einer | |
entsetzlichen Enttäuschung erzählt und doch die Würde der Jeanne Le | |
Perthuis de Vauds wahrt. | |
24 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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