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# taz.de -- Sozialdrama von Stéphane Brizé: Die Regeln des Marktes
> Im Kinofilm „Der Wert des Menschen“ gibt Vincent Lindon mit heroischer
> Gelassenheit einen schwer vermittelbaren Langzeitarbeitslosen.
Bild: Sorgenfalten, die von innerer Erschöpfung erzählen: Vincent Lindon als …
20 Monate Arbeitslosigkeit sind eine kleine Ewigkeit für einen Menschen,
der die Hälfte seines Lebens berufstätig war. Nun sitzt der 51-jährige
Maschinenbauer Thierry im Büro des Jobcenters und muss einem Sachbearbeiter
erklären, dass seine Umschulung zum Kranführer umsonst war, weil niemand
ohne berufliche Erfahrung auf einer Baustelle als Kranführer angestellt
wird. Eine Fehlleistung der Behörde, die ihm die Weiterbildung vermittelt
hat. Thierry hat dadurch wertvolle Monate bei seiner Jobsuche verloren.
„So behandelt man die Leute nicht“, wirft er seinem Gegenüber vor. Der
Sachbearbeiter ist hilfsbereit, aber unverbindlich. Er könne ihm eine neue
Fortbildung anbieten. Aber Thierry ist mit den Strukturen dieses sich
selbst erhaltenden Systems bestens vertraut: „Alle verdienen an den
Umschulungen.“ Die Vermittlungsbranche schafft gut bezahlte Stellen – nur
eben nicht für die, die sie am nötigsten haben.
Ein paar Szenen später sitzt Thierry mit anderen Arbeitssuchenden in einem
solchen Fortbildungsseminar und muss eine „Performance-Review“ über sich
ergehen lassen. Bewertet werden nicht seine beruflichen Erfahrungen,
sondern seine Fähigkeiten, sich auf einem Arbeitsmarkt, der systematisch in
den Niedriglohnsektor verlagert wird, zu verkaufen. Sein Hemd sei zu offen,
seine Körperhaltung zu schlaff, sein Blick ausweichend, seine Antwort nicht
überlegt, die Stimme zu leise.
Die anderen Teilnehmer demontieren Thierry, der in seinem erlernten Beruf
nie wissen musste, wie man sich einem Arbeitgeber richtig präsentiert. Nun
lässt er die Kritik an seiner „Professionalität“ über sich ergehen und m…
jedem Kommentar fühlt er sich sichtlich unwohler in seiner Haut. Diese
entwürdigende Situation ist in einer fortlaufenden Einstellung gefilmt, die
Thierry im Zentrum fixiert.
## Bewusst gewählte Perspektivierung
Die Handkamera bewegt sich nur geringfügig nach links und rechts und
schneidet dabei kurz seine Platznachbarn an. Wie bewusst diese
Perspektivierung gewählt ist, wird erst am Ende des Films deutlich, wenn
sich die Machtverhältnisse verkehrt haben.
Regisseur Stéphane Brizés Sozialdrama „Der Wert des Menschen“, das in
Cannes letztes Jahr mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet wurde, dreht sich
um die moralische Frage, zu welchem Preis ein Mensch bereit ist, nach den
Regeln des Kapitals zu spielen.
„Die Regeln des Marktes“ lautet der Titel im französischen Original. Die
kritische Konnotation des Originaltitels setzt einen anderen Schwerpunkt
als der leicht moralische deutsche Titel, doch im Grunde thematisieren sie
denselben Sachverhalt aus zwei unterschiedlichen Positionen. Brizé ist so
klug, diese beiden Seiten von Thierrys Drama differenziert zu betrachten:
einmal als individuelles Schicksal und einmal als strukturellen Missstand.
Thierry Taugourdeau wird vom französischen Charakterdarsteller Vincent
Lindon gespielt, der zum dritten Mal für Brizé vor der Kamera steht. Sein
Spiel ist wie Brizés Inszenierung aufs Äußerste reduziert. Thierrys Mimik
verrät kaum etwas über seinen Gefühlszustand, nur die Sorgenfalten, die
sich tief in die Stirn gegraben haben, erzählen von einer inneren
Erschöpfung.
## Alle Bereiche des Lebens
Lindon verkörpert ihn mit heroischer Gelassenheit. Thierry weigert sich,
seinen gesellschaftlichen Beitrag anhand von Produktivität und Performance
taxieren zu lassen. Er ist ein fürsorglicher Familienvater, der die Raten
auf das Haus abbezahlen und seinem kranken Sohn einen Platz in einer
Sonderschule ermöglichen will.
Brizé gewährt kurze Einblicke in das Familienleben, gerade ausführlich
genug, um ein soziales Umfeld zu zeichnen: die Familie beim Abendessen,
Thierry und seine Frau im Tanzkurs. Impressionen einer prekären Existenz –
emphatisch, aber aus diskreter Distanz gefilmt. Lindon trägt seine Szenen
mit sparsamen Gesten.
Viel entscheidender ist in „Der Wert des Menschen“, in welcher Weise Brizé
seinen Hauptdarsteller filmt und damit Thierrys individuelle Erfahrungen in
einem gesellschaftlichen Kontext verortet. Darin liegt eine analytische
Qualität von Brizés Inszenierung, die nie vordergründig versucht, eine
humanistische Moral an alltäglichen Konflikten zu exemplifizieren, sondern
vielmehr die Rahmenbedingungen dieser Konflikte mit filmischen Mitteln
hinterfragt.
Insofern ist „Der Wert des Menschen“ vielleicht der beste Film, den die
Dardenne-Brüder seit Jahren nicht gemacht haben. Der Verzicht auf eine
konventionelle Dramaturgie, das Erzählen in Ellipsen, unterstreicht, wie
stark die Gesetze des Marktes alle Bereiche des gesellschaftlichen und
privaten Lebens durchdringen. Thierrys Wert wird in einer Reihe von
Verhandlungen bestimmt, in denen stets auch seine soziale Stellung auf dem
Spiel steht.
## Ein Arbeitgeber demütigt ihn über Skype
Die Szene im Fortbildungsseminar wiederholt sich später in einem
Elterngespräch über die schulische Zukunft ihres Sohnes. Die Kritik des
Lehrers am Lernverhalten des Jungen ähnelt der des Seminarleiters an
Thierry – die Kriterien der Selbstoptimierung gelten in der Schule wie im
Berufsleben. Die Verkaufsverhandlungen mit einem anderen Ehepaar, an das
Thierry und seine Frau aus Geldnot ihr Ferienhaus verkaufen müssen, werden
gar zu einer Frage des Prinzips. Thierry besteht auf der telefonischen
Vereinbarung, als der Mann den Verkaufspreis drücken will.
Die Szene ist beispielhaft für Brizés rigorose Inszenierung: Konzentriert
wechselt die Kamera in knappen, präzisen Schwenks zwischen den
Verhandlungspartnern, die bis zum Schluss auf ihren Preisvorstellungen
beharren. (Der Verkauf kommt nicht zustande.) Andere „Verhandlungen“ im
Film sind weniger bilateral.
Als ein potenzieller Arbeitgeber am Ende eines Vorstellungsgesprächs via
Skype die Qualität von Thierrys Bewerbungsschreiben moniert, erduldet
dieser die Maßregelung demütig. Der repetitive Modus dieser Konflikte folgt
einem zermürbenden Programm: Thierry kommt nicht vom Fleck.
Nach gut der Hälfte des Films passiert dann noch etwas Unerwartetes. „Der
Wert des Menschen“ wechselt die Perspektive, als Thierry als
Kaufhausdetektiv angestellt wird. Ein lapidarer Schnitt etabliert diese
plötzliche Veränderung. Für die Entfremdung in Thierrys neuem Job findet
Brizé ein exemplarisches Setting: Den größten Teil seiner Arbeitszeit
verbringt Thierry hinter einem Monitor, auf dem er die Kundschaft beim
Einkaufen beobachtet.
## Der Blick des Kontrolleurs offenbart die Ohnmacht
Die Routine des „Überwachens und Strafens“ besitzt eine ganz eigene
Monotonie, doch da diese Delegation von Macht die Hierarchie des Systems
gewissermaßen konstituiert, verharrt die Kamera demonstrativ lange auf den
Bildschirmen. Der Blick des Kontrolleurs offenbart seine Ohnmacht. Denn
nicht nur die Kunden sind in den Augen der Geschäftsleitung prinzipiell
verdächtig, auch die Angestellten. Thierry soll seine Kolleginnen an der
Kasse des Diebstahls überführen, damit das Management einen Vorwand für
Personaleinsparungen hat. So sind die Gesetze des Marktes.
„Der Wert des Menschen“ weist keinen Ausweg aus diesem moralischen Dilemma,
aber Brizé findet formal überzeugende Bilder für die ökonomischen
Machtverhältnisse. In den peinigenden Verhören der erwischten Ladendiebe,
für die ein paar unterschlagene Wertmarken keine Gewissensfrage mehr
bedeuten, sondern vielmehr eine existenzielle, ist Thierry nun an den
Bildrand delegiert, während sich die Betroffenen eingekeilt von Kamera und
Wachpersonal wie Tiere in der Falle in eine Ecke des Raumes drücken.
Ein Gefühl, das Thierry nur zu gut kennt. Der Wert des Menschen bemisst
sich an seinen persönlichen Überzeugungen und einem Gemeinsinn. Stéphane
Brizé lässt in seiner Schlusseinstellung offen, ob Thierry bereit ist,
diesen Wert dranzugeben und den Preis für einen bescheidenen Zugewinn an
sozialem Handlungsspielraum zu zahlen.
17 Mar 2016
## AUTOREN
Andreas Busche
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