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# taz.de -- Regisseur Jacques Audiard über Flucht: „Wann bricht das Pferd zu…
> Um Tamilen in Paris dreht sich „Dämonen und Wunder“. Ein Gespräch über
> die Arbeit mit tamilischen Schauspielern, die Realität und das Erfinden.
Bild: Eine Familie, die keine ist, lernt Französisch.
Eine Familie – Vater, Mutter und Tochter tamilischer Abstammung – muss
fliehen. In Wahrheit sind sie sich völlig fremd: eine Notlüge, um an ein
Visum für Frankreich zu kommen. Dheepan hat in Sri Lanka als Rebell
gekämpft, nun wird er Hausmeister eines Wohnbaus in der Banlieue, in dem
ein Bandenkrieg um Drogen im Gange ist. Der Franzose Jacques Audiard hat
mit „Dämonen und Wunder“ einen brisanten, auch streitbaren Film gefertigt,
der sich an der Schnittstelle zwischen Genre- und Sozialdrama bewegt. In
Cannes wurde Audiard heuer mit der Goldenen Palme prämiert.
taz: Herr Audiard, nach den Terroranschlägen in Paris erscheint Ihr Film in
einem anderen Licht. Hat sich Ihre Sichtweise geändert?
Jacques Audiard: Die Frage wäre eher, ob ich jetzt oder morgen angesichts
der Flüchtlingskrise diesen Film drehen würde – und meine Antwort darauf
wäre ganz klar Nein. Und zwar deshalb, weil sich die Frage, wie man sich
einem solchen Sujet annähert und es illustriert, ganz anders gestellt
hätte. Ich bevorzuge es, wenn ich mich bei meinen Filmen auf meine eigene
Imagination verlassen kann. Denn ich sehe mich nicht als Dokumentarist oder
Illustrator.
Das heißt, heute fühlten Sie sich nicht mehr frei genug, von einer
Flüchtlingsfamilie zu erzählen, die nur vorgibt, eine zu sein?
Nein, das hat andere Gründe. Ich habe mich nicht gefragt, ob es opportun
ist, davon zu erzählen. Sonst macht man am Ende gar nichts mehr. Oder man
produziert nur lauwarmes Wasser. Ich möchte keine präventive Haltung
einnehmen. Es geht mir um die Frage des Erfindens, um imaginierte Bilder.
Sie wurden jetzt durch reale Bilder ersetzt.
Der Plot des Films erinnert an einen Western. Ein Mann kommt in eine fremde
Stadt und will seine Vergangenheit ruhen lassen, was dann nicht gelingt.
Wie wichtig sind Ihnen solche Genremotive?
Das Genre ist für mich wie eine Kasserolle, in der verschiedene Elemente
zusammenkommen. Mein Drehbuchautor Thomas Bidegain und ich bezeichnen dies
gerne als unser Trojanisches Pferd. Man betrachtet es von außen, und es ist
klar, dass die Form zu einem bestimmten Genre gehört. Doch dann passiert
etwas Unerwartetes, und es entstehen neue Zusammenhänge. Die Idee des Films
war, Menschen herzunehmen, die in der Gesellschaft kein Gesicht, keinen
Körper haben, und ihnen eine vornehme Genreform in Cinemascope zu gewähren.
Damit schafft man dann auch den Abstand zum Dokumentarischen.
In „Le Monde“ haben Sie gesagt, Sie hätten Lust darauf gehabt, die Realit�…
wie Kino zu behandeln.
Ich kann gar nicht glauben, dass dieser schlaue Satz von mir stammt!
(lacht)
Stellt sich dabei nicht immer die Frage, wie viel Realität das Kino
verträgt?
Ja, und es ist tatsächlich eine quantitative Frage: Wie viel Realität ist
möglich, wie weit kann man gehen? Wann wird es so schwer, dass das Pferd
zusammenbricht? So sind wir auf die Idee gekommen, den Film die Form
wandeln zu lassen. Am Anfang denkt man, man hat es mit einem Kriegsfilm zu
tun, dann wird er zu einer Art Dokumentarfilm über die Migration,
Banlieues. Und schließlich kommt es dazu, dass die Hauptfigur eine Linie
zeichnet und sagt: „Genug.“ Dann wird der Film zum Genrefilm.
Die tamilischen Schauspieler sprechen ihre eigene Sprache, und sie spielen
Figuren, die gewissermaßen zwei Leben parallel führen müssen. Was bedeutet
das für die Regie?
Das war ein wesentlicher Teil des Projekts. Ich habe mir vorgenommen, meine
Sprache zu verlassen. Deshalb war es so lohnenswert, mit Tamilen zu
arbeiten. Man versucht jedoch immer, eine Fremdsprache zu verstehen: Der
Schauspieler muss meine Sprache verstehen, ich seine. Bei französischen
Schauspielern gebe ich Hinweise auf die Satzmelodie, auf die Rhythmik des
Sprechens; nun musste ich mich mehr mit dem Ausdruck der Gesichter
befassen, dem Klang der Sprache – anders, aber nicht radikal anders. Da ich
die exakte Bedeutung nicht verstand, hatte ich das Gefühl, ich sei immer
ein bisschen hinterher.
Die Gewalt von Dheepan, der Hauptfigur, ist wie etwas, das in ihm
schlummert. Wollten Sie zeigen, dass er diesen Habitus nicht loswerden
kann?
Der Film beginnt damit, dass er aufhört, ein Krieger zu sein. Ich wusste
aber, ich würde diesen Gestus am Ende des Films wiederfinden – und zwar
diesmal als Aktion, die man am Beginn gar nicht zu sehen bekommt. Doch der
Kontext verändert sich. Ich wusste, dass diese Thematik durch den ganzen
Film hindurch zu spüren wäre. Es sollte keine Überraschung sein, wenn die
Gewalt wieder auftaucht.
In Frankreich wurde der Film kontrovers diskutiert: Stört es Sie, dass
gerade konservative Medien den Film verteidigt haben?
Das Problem ist, dass wir, was die Gewalt anbelangt, von der Geschichte
eingeholt wurden. Ich weiß nicht, ob es schon konservativ ist, wenn man
Gewalt thematisiert. Was mich überrascht, ist, wie generell über „die
Flüchtlinge“ gesprochen wird. Ich habe Figuren dargestellt, habe ihnen
Namen gegeben, ein Bewusstsein, vielleicht auch eine Form von Gewalt. Bei
Migranten wird immer vermutet, dass sie bestimmte Probleme nicht haben –
diese Form der Menschlichkeit wird ihnen nicht zugestanden.
10 Dec 2015
## AUTOREN
Dominik Kamalzadeh
## TAGS
Flüchtlinge
Tamilen
Schwerpunkt Frankreich
Regisseur
Spielfilm
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt Frankreich
Isabelle Huppert
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes
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