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# taz.de -- Emilia-Pérez-Regisseur Jacques Audiard: „Ich kann damit nichts a…
> „Emilia Pérez“ ist ein Musical im mexikanischen Narco-Milieu mit einer
> Transperson als Hauptfigur. Regisseur Jacques Audiard sagt, warum er das
> darf – und was ihn an Gewaltdarstellungen im Kino stört.
Bild: Würden Sie dieser Frau ein paar Kilo Kokain abkaufen? Emilia Pérez (Kar…
Die Anwältin Rita ist frustriert, weil im korrupten Rechtssystem Mexikos
ihre Arbeit nicht honoriert wird. Da macht der berüchtigte Kartellboss
Manitas ihr ein lukratives Angebot: Er will untertauchen und zur Frau
werden, Rita soll ihm helfen. In seinem ersten [1][spanischsprachigen Film,
„Emilia Pérez“, erzählt der französische Regisseur Jacques Audiard] („…
Prophet“) vom Bandenkrieg in Mexiko in Form einer Mischung aus
Sozialdrama, Musical und Telenovela, mit einer faszinierenden Transfigur
im Mittelpunkt, die ihre gewalttätige Vergangenheit hinter sich lassen
will. Was irre klingt, funktioniert überraschend gut. Ein Gespräch mit dem
72-Jährigen über Musicals und Maskulinität, die richtige Haltung und die
Frage, ob Menschen sich ändern.
taz: Monsieur Audiard, wie kommt man auf die Idee, ein Musical über den
Drogenkrieg und verschwundene Opfer in Mexiko mit einer Transfigur im
Zentrum zu machen?
Jacques Audiard: Ah, Sie wollen gleich mit der einfachsten Frage anfangen.
Lassen Sie es mich so sagen: Wenn man über ernste Themen reden will, ist es
besser, zu singen und zu tanzen. Ich sehe es wie mein verehrter, 1970
verstorbener Regiekollege Jacques Demy. Um sich mit dem Algerienkrieg
auseinanderzusetzen, drehte er „Die Regenschirme von Cherbourg“, eine
romantische Musicalkomödie. Es braucht einen gewissen Abstand zum
Gegenstand. Oder nehmen Sie Homers „Odyssee“. Nichts davon ist real, aber
alles wahrhaftig. Und es ist konzipiert wie ein langes Lied, in Versform.
Ich erzähle von sozialen und politischen Realitäten, aber ich wollte nie
einen Dokumentarfilm über die Situation in Mexiko oder über die Transition
einer Person machen. Ich nutze eine überhöhte Form, das Artifizielle des
Musicals und Melodrams, um meine Geschichte emotional zu erzählen. Dabei
mag ich Musicals gar nicht besonders. Aber hier sind die Songs integraler
Bestandteil der Handlung, nicht nur schmückendes Beiwerk.
taz: Ihr Film ist im Studio in Paris entstanden. Warum haben Sie nicht vor
Ort in Mexiko gedreht?
Audiard: Weil es schlicht nicht möglich war. Ich habe es mehrmals versucht.
2019 hatte ich eine erste Fassung von „Emilia Pérez“ geschrieben, damals
noch als Oper. Es war ein Libretto. Dann wollte ich einen Film daraus
machen. Ich flog dreimal nach Mexiko, auf der Suche nach Drehorten, und
erkannte, dass die konkrete Wirklichkeit nicht zu dem passte, was ich
wollte. Die Häuser waren zu massiv, die Straßen zu weit, viel zu viele
Menschen, ich mochte das Licht nicht. Da wusste ich, dass ich mit diesem
Film zum Ursprung des Kinos zurückkehre, zu dessen DNA, dem In-Szene-Setzen
im Studio.
taz: Dennoch sind die darin verhandelten Themen komplex und für viele
Menschen in Mexiko auch schmerzhafte Realität. Spüren Sie eine
Verantwortung, dem gerecht zu werden?
Audiard: Zunächst einmal sind Filme für mich eine Art, eine Verbindung mit
der Welt aufzubauen. Dinge zu entdecken, die nichts mit mir und meinem
Leben zu tun haben. Aber ein Dokumentarfilm taucht oft sehr fokussiert und
begrenzt in ein Thema ein. Ich wollte größere Dimensionen, den Blick
weiten, ein breiteres Publikum erreichen. Das birgt auch die Gefahr, zu
vereinfachen. Und natürlich hätte ich mir einen leichteren Stoff aussuchen
können. Ich könnte mein Leben damit verbringen, alle heiklen Themen zu
vermeiden. Aber das interessiert mich nicht, weder als Filmemacher noch als
Mensch. Und manche Momente sind gar nicht so weit weg von der Realität. Im
Film gibt es zum Beispiel eine Szene mit Frauen ermordeter und
verschwundener Männer, die das Lied „Para“ singen. Einen solchen Chor der
Witwen gibt es in Mexiko tatsächlich. Die eigentliche Frage ist doch: Bin
ich legitimiert, über bestimmte Themen zu sprechen? Darf ich mich als
weißer, heterosexueller Franzose Anfang 70 mit einer Transition
auseinandersetzen? Mit dem Leid der Hinterbliebenen von Kartellverbrechen?
Nun, ich denke, ich darf. Ich lebe in dieser Welt, ich lese und nehme wahr,
mache mir Gedanken. Und warum sollte ich diese nicht formulieren und
ausdrücken, ob nun gesprochen, gesungen oder sogar getanzt?
taz: Es ist vielleicht eher eine Frage der Haltung, wie man sich mit
bestimmten Themen auseinandersetzt.
Audiard: Das A und O ist das Zuhören. Ich wusste sehr wenig über die
Lebensrealität von Transpersonen, was es bedeutet, sich im falschen Körper
zu fühlen, sich zum Prozess einer Geschlechtsangleichung zu entschließen.
Meine Lehrerin war die Hauptdarstellerin Karla Sofía Gascón. Ich durfte ihr
all meine Fragen stellen und sie hat sie mit großer Geduld ausführlich und
erhellend beantwortet. Bei jedem Zweifel oder Problem habe ich sie gefragt.
Ich hätte nie eine Entscheidung gegen ihren Rat getroffen. Wie auch? Ich
bin nur ein weißer Normalo mit sehr limitierter Vorstellungskraft.
taz: Karla Sofía Gascón spielt sowohl Emilia Pérez als auch den Drogenboss
Manitas. Wie haben Sie die richtige Besetzung für diese Doppelrolle
gefunden?
Audiard: Das war ein langer Prozess. Ich habe viele Transschauspielerinnen
in Mexiko getroffen, professionelle und Laien. Sie erschienen mir sehr
selbstbezogen. Als ich Karla Sofía traf, sah ich sofort Emilia vor mir.
Vielleicht liegt es auch daran, dass sie bereits als Karl Schauspieler war,
die Transition also auch in ihrem Beruf machte. Sie war perfekt, um beide
Rollen zu verkörpern.
taz: Es geht in „Emilia Pérez“ auch um toxische Maskulinität und Gewalt.
Und die Frage, inwieweit eine Transition einen Charakter verändern kann.
Audiard: Wenn Manitas zu Emilia Pérez wird, gleicht sie nicht nur ihr
Geschlecht an, sie versucht damit auch, die maskuline Gewalt in sich
auszumerzen. Es ist ihr Wunsch nach Wandel und Erlösung, um ein besserer
Mensch zu werden. Sie hat genug von den Zwängen des Patriarchats und dem
Leid, das dieses System ihr und anderen zufügt. Auch wenn es sich als
Illusion erweist und die Vergangenheit sie einholen wird.
taz: Wie schwierig war es, Hollywoodschauspielerinnen wie Zoe Saldaña und
Selena Gomez für die Rollen zu gewinnen?
Audiard: Überhaupt nicht. Für US-Stars ist das europäische Kino sehr
attraktiv, weil es ihnen Freiheiten bietet, die sie im US-Studiosystem
nicht haben. Schon bei meinen früheren Filmen wie dem [2][Western „The
Sisters Brothers“] waren viele sehr erpicht darauf, dabeizusein. Und ich
arbeite gerne mit ihnen zusammen, weil sie gut ausgebildet und
hochmotiviert sind. Schon beim ersten Treffen haben sie etwas für die Rolle
vorbereitet. Das gefällt mir. Ich war anfangs scheu, jemanden wie Zoe
Saldaña zu bitten, etwas zu singen oder zu tanzen. Und sie legte einfach
los! Das wäre in Frankreich unvorstellbar.
taz: Die Dialoge und Songs sind in Spanisch und Englisch. „Emilia Pérez“
ist damit Ihr dritter Spielfilm, nach [3][„Dämonen und Wunder“] und „The
Sisters Brothers“, den Sie in einer anderen Sprache drehen. Wie
herausfordernd ist das?
Audiard: Ich würde die Frage eher umgekehrt stellen: Warum lege ich in
meinen Filmen so oft meine Muttersprache ab? Ich bin ein passionierter
Leser, ich komme von der Literatur. Wenn ich auf Französisch drehe, achte
ich penibel auf jede Silbe, auf Akzent und Aussprache. Bei einer
Fremdsprache ist meine Aufmerksamkeit viel mehr bei Mimik und Gestik, wie
sie ihre Körper bewegen, beim Schauspiel. Beim Drehen habe ich ein sehr
musikalisches Verhältnis zu den Schauspielern.
taz: Die Narco-Kartelle sind ein populäres Sujet für Filme und Serien
geworden, fast schon ein eigenes Genre. Inwiefern wollten Sie sich davon
absetzen?
Audiard: Ich kann damit nichts anfangen. Es mag Sie überraschen, aber ich
habe große Probleme mit Gewaltdarstellungen im Kino. Auch wenn meine Filme
oft von Gewalt handeln, versuche ich diese anders einzusetzen. Ohne
moralisieren zu wollen, ist der Zynismus in Narco-Serien etwas, das ich
verabscheue. Auch deshalb habe ich mit Emilia Pérez eine Figur erschaffen,
die zeigt, dass wir Menschen in der Lage sind, uns zu ändern und uns zu
entwickeln.
26 Nov 2024
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## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
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