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# taz.de -- Westernparodie „The Sisters Brothers“: Killercowboys, die die K…
> Jacques Audiards Westernparodie „The Sisters Brothers“ erzählt grandios
> von der zutiefst menschlichen Suche nach einer besseren Realität.
Bild: Zwei Engel für „Commodore“: Charlie (Joaquin Phoenix, l.) und Eli (J…
Eli und Charlie Sisters nehmen keine Gefangenen. Aus Prinzip nicht. Was
muckst oder sich bewegt, wird erschossen. Die „Sisters Brothers“,
Auftragskiller im ländlichen Oregon Mitte des 19. Jahrhunderts, sind
berüchtigt – Charlie (Joaquin Phoenix) gilt als aufbrausender Säufer,
dessen Empathielosigkeit an das Verhalten eines Psychopathen erinnert. Und
der ältere Eli (John C. Reilly) zieht mit. Denn von irgendetwas muss man ja
leben.
Was der französische Regisseur [1][Jacques Audiard] („Der Geschmack von
Rost und Knochen“) als Ausgangspunkt für seinen ersten US-amerikanischen
Film aufbaut, ähnelt zunächst einem klassischen Neo-Western: In der dunklen
Prärienacht überfallen die Sisters-Brüder eine einsame Hütte. Erhellt wird
das Bild nur vom punktuellen Aufleuchten der Schüsse, man wehrt sich, es
handelt sich anscheinend um mehrere Schützen, immer wieder ballert es.
Doch die Brüder kennen kein Erbarmen. Organisiert und routiniert erledigen
sie ihren Job für ihren Auftragsgeber, den „Commodore“ (Rutger Hauer), der
im Folgenden keine große Rolle spielen, schattenhaft bleiben wird: Es ist
schnurz, wer die Morde befiehlt – das Blut klebt letztlich an den Händen
der Brüder.
Wie Audiard gemeinsam mit Drehbuchautor Thomas Bidegain aus der brutalen
Ausgangslage in ihrer Adaption des gleichnamigen Romans von Patrick de Witt
die zutiefst menschliche Suche nach einer anderen Realität entwickelt, ist
ein großartiges Erlebnis – das dem Film beim Festival in Venedig 2018 den
[2][Silbernen Löwen für die Beste Regie] bescherte. Denn eigentlich, diese
Erkenntnis gewinnen die Zuschauer*innen langsam und sie sickert in den
Alltag der Brüder ein, vor allem bei dem immer stärker zweifelnden Eli –
eigentlich muss es auch damals Männer gegeben haben, die Gewalt infrage
stellten.
## Der Mann mit der Goldformel
Audiard zeigt Eli, dem John C. Reilly das passende,
charakteristisch-zerknautschte Gesicht schenkt, als einen Menschen, bei dem
der Sinn für das Feine, das Friedliche, das Schöne, Saubere wie ein zartes
Blümchen wächst. Es ist Eli, der in einem trostlosen Bretterverschlag in
einer ebenso trostlosen Holzbudenansammlung, die sich „Stadt“ nennt, eine
kleine Bürste samt dazugehörigem Pulver entdeckt.
„Für die Zähne“, teilt der Verkäufer ihm mit. Feierlich ersteht Reilly
seine erste Zahnbürste, und erlebt fortan das Wunder des (für diese Zeit)
ungewöhnlich frischen Atems, wenn er sich im abgetakelten Hotel, oder
später, da sind die Brüder schon auf ihrer Mission, an einem kühlen Fluss
ungelenk die Zähne putzt.
Und man versteht: Eli führt hier gerade (Neo-)Western-Stereotype von
schmutzigen Männern, die etwas Wichtigeres als Hygiene im Kopf haben,
spielerisch leicht und charmant ad absurdum. (Dass kurze Zeit darauf gerade
der frischgeschrubbte Eli eine äußerst eklige Körpererfahrung machen muss,
ist Künstlerpech.)
Jene Mission, die die Brüder von Oregon aus gen Westen, Richtung
Kalifornien treibt, besteht darin, einen Mann namens Hermann Warm (Riz
Ahmed) ausfindig zu machen, zu foltern und zu töten. Denn der besitzt eine
Formel für eine Emulsion, mit der man Gold in Gewässern sichtbar machen
kann.
Der Commodore will die Formel, Warm wird bereits von dessen „Kontaktmann“
Jim Morris (Jake Gyllenhall) verfolgt. Doch Warm und Morris lernen sich
kennen und schätzen, sie reden, paktieren gar – sodass den übelwollenden
Verfolgern, den Sisters-Brüdern, urplötzlich ein positives Spiegelbild
gegenübersteht, ein ganz neues Modell für männliche Identifikationsfiguren:
Der nachdenkliche, an einer der erste Universitäten ausgebildete Morris und
der geniale Erfinder Warm wollen die Welt verbessern, die Gewalt beenden,
eine neue, freundschaftliche, gerechte Gesellschaftsform erforschen. Welch
ein Plan! Welch eine Chuzpe! Und siehe da, konstatiert Eli, Morris benutzt
auch das ominöse Zahnbürstchen!
Audiards liebevolles Aufräumen mit gängigen Western- und
Männlichkeitsklischees geht über die Dekonstruktionsideen üblicher
Neo-Western hinaus: Hier werden statt der weißen Cowboy-Haudegen und
SiedlerInnen, die das weiße Amerika stolz seine Wurzeln nennt (und dabei
die Verantwortung für die gewalthaltige Eroberung der
UreinwohnerInnengebiete meist ignoriert), nicht einfach Frauen oder
nichtweiße Männer installiert.
Stattdessen zeigt Audiard, wie ein Umdenken innerhalb der Strukturen
stattfindet. Er umarmt die Gefühle seiner Helden – etwa wenn Eli eine
Prostituierte bittet, ihm in einem Rollenspiel den Schal in die Hand zu
legen, den ihm einst eine Frau als Souvenir mit auf die Reise gab, „aber
mit netten Worten. Sag es, als ob du es meinst!“ Die Prostituierte ist
überfordert. Und gerührt – das Publikum ebenfalls.
Audiard verzichtet zudem darauf, Charlies psychopathisches Handeln
psychologisch zu analysieren. Charlies Brutalität lernt man dennoch durch
gezielte Informationen besser zu erkennen, vielleicht sogar zu erklären.
„The Sisters Brothers“ steckt damit voller Hoffnung, voller Humanität und
Wahrheit. Denn wenn sogar ein kaltblütiger Killercowboy die Kurve kriegt,
und neben dem Hass etwas anderes entdeckt – was zur Hölle sollte den Rest
der Welt daran hindern?
7 Mar 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Jenni Zylka
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