| # taz.de -- Absurder Kinostart von „The Lobster“: Ein Hummer kommt groß ra… | |
| > Die Science-Fiction-Liebesgroteske „The Lobster“ von Giorgos Lanthimos | |
| > kommt nach dem DVD-Start doch noch in deutsche Kinos. Zum Glück! | |
| Bild: Auf der Flucht: Colin Farrell und Rachel Weisz als Paar in „The Lobster… | |
| Der Hund ist das beliebteste Haustier des Menschen. In Giorgos Lanthimos’ | |
| „The Lobster“ reicht die tierische Liebe sogar über den Tod hinaus. Die | |
| meisten Menschen möchten als Hund „wiedergeboren“ werden, erklärt die | |
| Hotelchefin dem neuen Gast (Colin Farrell) zur Begrüßung. Der 45-tägige | |
| Aufenthalt in dem Luxus-Resort verfolgt einen einzigen Zweck: So viel Zeit | |
| bleibt David, der gerade von seiner Frau verlassen wurde, um sich neu zu | |
| verlieben. | |
| Andernfalls droht Strafe: Singles werden im Gesellschaftsentwurf von „The | |
| Lobster“ in ein Tier ihrer Wahl verwandelt und in der freien Wildbahn | |
| ausgesetzt. Davids Bruder entschied sich dafür, ein Hund zu werden. Nun ist | |
| der Vierbeiner ständiger Begleiter seines Bruders. Davids Wunsch ist etwas | |
| spezieller: Er möchte im second life in einen Hummer reinkarnieren. Hummer | |
| leben im Meer (David liebt das Meer), sie haben eine hohe Lebenserwartung | |
| und sind bis zu ihrem Tod sexuell aktiv. | |
| Für die Biodiversität in den umliegenden Wäldern, in denen vor allem wilde | |
| Hunde herumstreunen, ist dies eine gute Wahl, sie birgt evolutionstechnisch | |
| allerdings auch Nachteile, wie die Direktorin erklärt. Hummer fristen in | |
| der Tierkolonie ein eher einsames Dasein, und die Arten pflanzen sich | |
| bekanntlich nur untereinander fort. „Ein Wolf und ein Pinguin können | |
| niemals zusammenleben, auch nicht ein Kamel und ein Nilpferd. Das wäre | |
| absurd.“ | |
| Absurd ist die ganze Prämisse von „The Lobster“, der im vergangenen Jahr im | |
| Wettbewerb von Cannes die internationale Presse begeisterte. Regisseur | |
| Lanthimos hatte sich unter Kennern bereits einen Namen gemacht. Zusammen | |
| mit Athina Rachel Tsangari und Yannis Economides gehörte er vor einigen | |
| Jahren zu den Begründern der „Neuen Welle“ des griechischen Kinos, in der | |
| sich auf erstaunliche Weise Genremotive, Krisenmetaphern und Spuren | |
| europäischer Austeritätspolitik verschränkten. | |
| ## Der formal eigenwilligste Vertreter der Greek New Wave | |
| Lanthimos etablierte sich mit seinen spröden, latent totalitären | |
| Beziehungsfilmen „Dogtooth“ (ein Patriarch hält seine Familie in einer | |
| hermetischen Scheinrealität gefangen) und [1][„Alpen“] (eine Gruppe Männer | |
| und Frauen bietet Hinterbliebenen performative Dienstleistungen zur | |
| Unterstützung in ihrer Trauerarbeit an) als formal eigenwilligster | |
| Vertreter der Greek New Wave. „Dogtooth“ war auch der erste griechische | |
| Film seit „Alexis Sorbas“, der für einen Oscar nominiert wurde. | |
| Lanthimos’ Filme lassen sich im Einzugsbereich der Science- Fiction | |
| verorten. Sie entwerfen soziale Dystopien, die als Ableitung einer | |
| scheinbar vertrauten Realität kenntlich werden. Die leichten | |
| Realitätsverschiebungen beruhen auf einem rigiden Regelwerk, das die | |
| gesellschaftlichen Verhältnisse in seinen Filmen festlegt. Weil sich aber | |
| die Logik dieser Reglements vom menschlichen Verhalten herleitet, haben die | |
| so aseptischen wie gewalttätigen Gesellschaftsparabeln bei genauerem | |
| Hinsehen eine verstörende Plausibilität – auch wenn Lanthimos seine | |
| Protagonisten wie auf dem Seziertisch betrachtet. | |
| Die Balzrituale in „The Lobster“ kippen permanent ins Groteske, manch ein | |
| Bewohner holt sich auf der Partnersuche buchstäblich eine blutige Nase. | |
| Lanthimos’ Studien sozialer Systeme unterliegen einer im Luhmann’schen | |
| Sinne skrupulösen Methodik, die zwischenmenschliche Beziehungen auf ihre | |
| grundlegenden Funktionen hin untersucht. | |
| ## Die Menschen reden Klartext | |
| Sprache und Gesten verfügen über keine sozialen Codes mehr, sie sind | |
| „nackt“: Die Menschen reden Klartext, und das meist mit komischen und immer | |
| wieder auch absurden Konsequenzen. Man könnte „The Lobster“ als eine Art | |
| Liebesfilm im stoischen Modus des deadpan beschreiben, was noch durch den | |
| Effekt verstärkt wird, dass namhafte Stars wie Farrell, Rachel Weisz, Léa | |
| Seydoux, Ben Whishaw und John C. Reilly die Hauptrollen spielen. | |
| Eine Hollywoodenklave an der Peripherie des Weltkinos: Man würde vermuten, | |
| dass „The Lobster“ im Arthouse-Metier ein Selbstläufer sein sollte. Aber | |
| auch die Geschichte des deutschen Kinostarts ist mit absurd noch vorsichtig | |
| umschrieben. Lanthimos’ Film erschien in Deutschland bereits vor zwei | |
| Monaten auf DVD und Blu-ray. | |
| Dass er lange Zeit unter dem sinnfreien Titel „The Lobster – Hummer sind | |
| auch nur Menschen“ firmierte, zeigt, wie schwer sich deutsche Verleiher | |
| noch immer mit Filmen tun, die Erzählkonventionen unterlaufen. Genres | |
| helfen da manchmal, weshalb der Film in den DVD-Regalen von | |
| Elektronikmärkten inzwischen unter dem generischen Titel „The Lobster: Eine | |
| unkonventionelle Liebesgeschichte“ zu finden ist – beziehungsweise in einer | |
| Flut von Blockbustern und lieblosen Direct-to-Video-Veröffentlichungen | |
| unterzugehen drohte. | |
| ## Initiative eines Berliner Kinobetreibers | |
| Dass „The Lobster“ doch noch in ausgewählten deutschen Großstädten zu se… | |
| ist, verdankt sich der Initiative eines Berliner Kinobetreibers, der wie | |
| viele Filmfans nach der Cannes-Premiere und euphorischen Kritiken | |
| sehnsüchtig auf den Kinostart wartete – und im Frühjahr entsetzt | |
| feststellen musste, dass Sony den Film ausschließlich für den Home-Markt | |
| veröffentlichen würde. | |
| Die Yorck-Gruppe, mit zwölf Kinos der stärkste Akteur im Berliner | |
| Arthouse-Sektor, war federführend bei der „Rückholaktion“ auf die große | |
| Leinwand. „Wir waren erstaunt“, meint Geschäftsführer Christian Bräuer, | |
| „weil wir von anderen europäischen Kinos wussten, dass der Film durchaus | |
| sein Publikum findet. Unsere Aufgabe als Programmkinobetreiber besteht | |
| darin, Filme wie ‚The Lobster‘ zu pflegen und damit auch die Vielfalt des | |
| Kinoangebots zu gewährleisten.“ | |
| Sony ist nicht erst seit „The Lobster“ dafür berüchtigt, „schwierige“ | |
| Arthouse-Filme äußerst stiefmütterlich zu behandeln. Im Frühjahr brachte | |
| der Unterhaltungskonzern das Holocaustdrama „Son of Saul“ nur ins Kino, | |
| weil es kurz zuvor für den Auslandsoscar nominiert worden war. Anzufangen | |
| wusste man mit dem kontroversen Film dennoch wenig, was sich in den | |
| Zuschauerzahlen niederschlug. | |
| ## Auf dem Home-Markt versenkt | |
| Das David-Foster-Wallace-Roadmovie „End of the Tour“ mit Jesse Eisenberg | |
| wurde gleich auf dem Home-Markt versenkt. Das Verhalten von Sony ist | |
| symptomatisch für die gesamte deutsche Verleihlandschaft bis hinein in den | |
| Arthouse-Sektor. | |
| Vor zwei Jahren blamierte sich Senator, als sich der Verleih durch einen | |
| Shitstorm in den sozialen Netzwerken gezwungen sah, Jonathan Glazers | |
| Science-Fiction-Mysterium [2][„Under the Skin“] mit Scarlett Johansson in | |
| die Kinos zu bringen, nachdem der Film zunächst für „schwer vermarktbar“ | |
| befunden und bereits als DVD und Blu-ray veröffentlicht worden war. Am Ende | |
| lief „Under the Skin“ über mehrere Monate in 80 deutschen Kinos. | |
| Es ist eine nette Erfolgsgeschichte, die nicht verhehlen kann, dass es | |
| „künstlerisch anspruchsvolle“, außergewöhnliche, gewagte oder schlicht | |
| provokante Filme (wenn es sich nicht gerade um eine „Marke“ wie NWR – | |
| Nicolas Winding Refn – handelt) in deutschen Kinos immer schwerer haben. | |
| ## Langweilige Wohlfühloasen | |
| Sebastian Selig, der Initiator der „Under the Skin“-Kampagne, bewertet das | |
| Problem der deutschen Kinolandschaft grundsätzlich: „Die ehemaligen | |
| Programmkinos, heute ‚Arthouse-Kinos‘, werden mehr und mehr zu langweiligen | |
| Wohlfühloasen. Man scheint mit seinem Publikum in Rente gehen zu wollen, | |
| dabei ist es gerade jetzt wichtiger denn je, neuen Generationen das | |
| Abenteuer Kino in all seiner Vielfalt mit Begeisterung und kuratorischem | |
| Wagemut zu vermitteln.“ | |
| Dieses Problem angesichts einer stetig wachsenden Zahl von Kinostarts | |
| erkennt auch Bräuer, der gleichzeitig betont, den etablierten Verleihern | |
| keine Konkurrenz machen zu wollen. Aber es geht für die Kinobetreiber | |
| zunehmend darum, aus dem Überangebot von Filmen die richtige Mischung aus | |
| französischen Komödien („Birnenkuchen mit Lavendel“), amerikanischem | |
| Independentkino (der neue Jarmusch oder Van Sant) und sperrigen Filmen wie | |
| dem in Gebärdensprache gedrehten Gewaltdrama [3][„The Tribe“] oder | |
| deutschen Filmen wie „Wild“ und [4][„Der Nachtmahr“] zu finden, um sich… | |
| einer zunehmend gleichgeschalteten Kinolandschaft zu profilieren. | |
| Denn auch wenn die AG Kino, die Gilde der deutschen Filmkunsttheater, gern | |
| die Vielfalt des deutschen Kinoangebots lobt, wird leicht übersehen, dass | |
| diese Vielfalt in erster Linie durch die aufopferungsvolle Arbeit von | |
| Kleinstverleihern wie Rapid Eye Movies, Grandfilm, Peripher, Film Kino | |
| Text, Pro-Fun Media und dem Berliner Arsenal Institut sowie Kinos wie dem | |
| Hamburger B-Movie, der Schauburg in Karlsruhe und Institutionen wie dem | |
| Nürnberger Filmhaus oder dem Werkstattkino München gewährleistet ist. Sie | |
| alle zeigen weiterhin Filme, an die sich etablierte Verleiher und | |
| Kinobetreiber allenfalls noch aus Pflichtbewusstsein heranwagen. | |
| Nicht zuletzt hat die flächendeckende Digitalisierung der deutschen | |
| Kinolandschaft auch eine individuelle Programmierung erleichtert. Oder eben | |
| Alleingänge wie aktuell den des Yorck-Verleihs, der im Übrigen auch das | |
| Totschlagargument von der Notwendigkeit sogenannter | |
| Veröffentlichungsfenster zwischen Kinostart und DVD-Veröffentlichung | |
| widerlegt. „The Lobster“ läuft diese Woche, zwei Monate nach | |
| DVD-Veröffentlichung, in acht deutschen Kinos an. Und da gehört er auch | |
| hin. | |
| 23 Jun 2016 | |
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| Andreas Busche | |
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