# taz.de -- „Kinds of Kindness“ mit Emma Stone: Bis zur Selbstaufgabe | |
> Yorgos Lanthimos hat einen neuen Film mit Star-Besetzung gedreht. In drei | |
> absurden Episoden kreist er um Abhängigkeiten und das Begehren. | |
Bild: Was erwarten Emily (Emma Stone) und Andrew (Jesse Plemons) von dem Wasser… | |
Erst ein paar Monate sind vergangen, seit Yorgos Lanthimos’ | |
finster-feministische Variation des Frankensteinstoffs überraschenderweise | |
mit elf Oscar-Nominierungen bedacht wurde. Der letztlich vierfach | |
ausgezeichnete [1][„Poor Things“ avancierte zum bislang erfolgreichsten | |
Film des griechischen Regisseurs]. Und so schien ausgerechnet einer der | |
wichtigsten Vertreter der subversiven „Greek Weird Wave“-Strömung endgült… | |
in Hollywood angekommen zu sein. | |
Wie immer, wenn Filmemacher eine solche Entwicklung erleben, wird der | |
Erfolg in Mainstream-Gefilden von gewissen Sorgen begleitet. Darüber, ob es | |
nun vorbei ist mit den Eigenwilligkeiten und, in Yorgos Lanthimos’ Fall, | |
der eigentlich mit Massentauglichkeit in Konflikt stehenden Sperrigkeit | |
seiner Stoffe. „Kinds of Kindness“, mit dem er jetzt in die Kinos | |
zurückkehrt, lässt diese Zweifel geradezu lächerlich erscheinen. | |
Denn womöglich hat Yorgos Lanthimos mit diesem, zumindest auf den ersten | |
Blick äußerst absurden Anthologiefilm sogar seine bisherige Bestform als | |
Filmemacher erreicht, dessen wohl größte Faszination die sattsam bekannten, | |
aber seltsamerweise nur selten in Frage gestellten menschlichen | |
Merkwürdigkeiten sind. | |
„Kinds of Kindness“ ist ein im besten Sinne eklektisches Werk: Die erste | |
Zusammenarbeit mit seinem angestammten Drehbuchautor Efthimis Filippou seit | |
[2][„The Lobster“] besinnt sich klar auf die widerspenstigen Anfänge seiner | |
Karriere. Die drei kuriosen Kurzgeschichten, aus denen sich der neue Film | |
zusammensetzt, sind für sich genommen solipsistische Spektakel, in denen | |
sich surreale Szenarien voller schräger Gewalteruptionen mit bizarrem Witz | |
zu weltentrückt wirkenden Grotesken vereinigen. | |
## Sein Vorgesetzter bestimmt die beliebig wirkenden Regeln | |
Anstatt allerdings in die bisweilen spröde Selbstreferenzialität seiner | |
frühen Arbeiten zu verfallen, die sich teils nur schwerlich mit dieser, der | |
unsrigen Realität in Verbindung bringen lassen, zeichnet sich der Film als | |
Ganzes durch eine größere Anschlussfähigkeit aus. Ähnlich wie „Poor Thing… | |
ist so auch „Kinds of Kindness“ zugänglich für zeitgemäße Auslegungen, | |
bleibt aber dennoch weiter als dieser davon entfernt, sich auf eine einzige | |
stringente Erzählung oder gar einen versöhnlichen Ausgang festlegen zu | |
lassen. | |
Das eigenwillige Triptychon eröffnet mit den Leiden des mittelalten | |
Vollzeitlakaien Robert (Jesse Plemons), der von seinem ominösen Chef | |
Raymond (Willem Dafoe) in allen Lebensbereichen kontrolliert wird. Egal, ob | |
es um die exakten Bestandteile seines Frühstücks, das Sexualleben mit | |
seiner, von Raymond auserwählten Frau Sarah (Hong Chau) oder die | |
Zusammenstellung seiner Garderobe geht: Sein Vorgesetzter weiß nicht nur | |
bestens darüber Bescheid, sondern bestimmt auch die beliebig wirkenden | |
Regeln. | |
Roberts eigentliches Martyrium beginnt allerdings erst dann, als er sich | |
erstmals einem Befehl des Bosses widersetzt: Nachdem er sich weigert, mit | |
hoher Geschwindigkeit ein anderes Fahrzeug zu rammen, in dem ein Mann mit | |
Todessehnsucht sitzt, zieht sich Raymond aus seinem Leben zurück. | |
Auf sich allein gestellt scheitert Robert daran, selbst kleinste | |
Entscheidungen selbstständig zu treffen, und setzt schließlich alles daran, | |
wieder unter der Fuchtel seines früheren Anführers zu stehen. Zu sehr | |
scheint sein freier Wille bereits korrumpiert, als dass er die neu | |
gewonnene Freiheit genießen oder auch nur ertragen könnte. | |
## Ein biblisches Szenario um Aufopferung und Auferstehung | |
Was sich hier abzeichnet, soll sich schließlich als das übergeordnete Thema | |
von „Kinds of Kindness“ herauskristallisieren: Efthimis Filippou und Yorgos | |
Lanthimos kreisen mit einer mindestens so beklemmenden wie erheiternden | |
Mischung aus schwarzem Humor und spöttischer Scharfzüngigkeit um | |
zwischenmenschliche Abhängigkeiten, die bis zu Selbstaufgabe reichen. Die | |
mittlere Episode widmet sich diesen in amourösen Kontexten. Die Ehefrau des | |
Polizeibeamten Daniel (Jesse Plemons) ist vor geraumer Zeit auf hoher See | |
verschollen, seither erledigt er seine Arbeit nur noch mit mangelnder | |
Sorgfalt und meint sogar in zufälligen Tatverdächtigen seine vermisste | |
Angetraute zu erkennen. | |
Als Liz (Emma Stone) dann tatsächlich aufgespürt wird und ins gemeinsame | |
Heim zurückkehrt, jedoch plötzlich andere Ess- und Bekleidungspräferenzen | |
an den Tag legt, vermutet Daniel, es nun mit einer Doppelgängerin zu tun zu | |
haben. | |
Liz ist Meeresbiologin, deren traumatische Erfahrungen auf einer einsamen | |
Insel durch Schwarz-Weiß-Rückblenden in das Geschehen eingeflochten werden. | |
Ihr scheint keine Mühe zu groß, um sich gegenüber ihrem Geliebten als wahre | |
Liz zu beweisen. Selbst dann nicht, als er von ihr fordert, dass sie ihm | |
einen ihrer Finger als Mahl zubereitet. Die Situation eskaliert immer | |
weiter bis zu einem Finale, das sich beinah wie ein biblisches Szenario um | |
Aufopferung und Auferstehung lesen lässt, in dem Liz – von der „Sünde“ | |
eigener, vom Partner als unerwünscht empfundener Eigenschaften gereinigt – | |
als neue, alte Version ihrer Selbst wiederkehrt. | |
In „Kinds of Kindness“ wird der Aberwitz der agierenden Figuren allerdings | |
nicht nur durch die erzählerische Richtung, die die parabelhaften Vignetten | |
nehmen, sondern auch durch die ironisierende Bildsprache der Kamera von | |
Robbie Ryan und der nicht minder schalkhaften Schnitte von Editor Yorgos | |
Mavropsaridis verdeutlicht. | |
## Ein sehniger Möchtegern-Gigolo | |
Im abschließenden Kurzfilm etwa wird zunächst die makabre Suche der beiden | |
Sektenmitglieder Emily ([3][Emma Stone]) und Andrew (Jesse Plemons) nach | |
einer auserwählten jungen Frau gezeigt, die die Fähigkeit besitzen soll, | |
Tote zum Leben zu erwecken. Erst nachdem ihre jüngste Hoffnung Anna (Hunter | |
Schafer) im Leichenschauhaus an einem solchem Versuch scheitert und sich | |
damit als Enttäuschung entpuppt, zeigt sich, in wessen Auftrag sie | |
überhaupt agieren. | |
Nach einem schnellen Schnitt ist erstmals der unbedingt jung wirken | |
wollende Guru Omi (Willem Dafoe) zu sehen, wie er sich als sehniger | |
Möchtegern-Gigolo in Erwartung des Besuchs seiner nächsten treu ergebenen | |
Anhängerin (oder eines Anhängers) lächerlich-lasziv auf einem Bett räkelt, | |
während sich Andrew und Emily vergeblich darum bemühen, dem jeweils anderen | |
den Vortritt zu gewähren. „Kinds of Kindness“ amüsiert nicht nur köstlich | |
darüber, wie leichtfertig wir bereit sind, unser Ureigenes aufzugeben – | |
sondern auch für wen. | |
Wenngleich diese letzte Episode das schwächste Teilstück der Trias | |
darstellt, weil der Spielraum zur skurrilen Überzeichnung in | |
religiös-spirituellen Sphären bekanntlich gering ist, entlässt Yorgos | |
Lanthimos’ neunter Spielfilm sein Publikum als treffend schmerzliche Satire | |
auf die verzweifelte Suche nach Bestätigung. Gerade durch die Absurdität | |
der Szenarien, die übersteigerte Gewalt und die seltsame Sexualität wird | |
effektvoll die Willkür, mit der Regeln bisweilen in Arbeits-, Beziehungs- | |
oder anderen zwischenmenschlichen Kontexten aufgestellt werden, vorgeführt. | |
Ebenso wie die Verrenkungen, die wir dennoch für die begehrte extrinsische | |
Validierung, die Behauptung in einem sozialen Gefüge, unternehmen. Denn wie | |
es bei den Eurythmics, deren bekanntester Song den Film eröffnet, heißt: | |
Die süßen Träume scheinen daraus gemacht, wer bin ich, mich dem zu | |
widersetzen? | |
Wenn uns [4][das Kino nach dem Philosophen Slavoj Žižek sagt, was wir | |
begehren sollen], kann man „Kinds of Kindness“ als energische Einladung | |
dazu verstehen, exakt das in Frage zu stellen, was wir womöglich nur zu | |
begehren meinen. | |
3 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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