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# taz.de -- Coming-of-Age-Film „Der Nachtmahr“: Ein Gnom mit Glubschaugen
> Eine Jugendliche wird mit ihren Ängsten in Gestalt eines grünen Wesens
> konfrontiert. Der Horrorfilm „Der Nachtmahr“ ist feinstes Affektkino.
Bild: Party etwas anders: Tina (Carolyn Genzkow) in dem Film „Der Nachtmahr“
Zart besaitete Gemüter sollten den Film „Der Nachtmahr“ von Achim Bornhak,
der in den Credits unter dem Namen Akiz auftaucht (klingt mehr nach Punk,
soll aber wohl auch vermeiden, dass Erinnerungen an seine
Uschi-Obermaier-Kolportage „Das Wilde Leben“ den positiven Gesamteindruck
trüben), mit Vorsicht genießen. Das liegt weniger an der Titelfigur, die
sich aus einem Zwischenreich des Unbewussten manifestiert, als am
offensiven Ton- und Lichtkonzept des Films.
Vorsichtshalber ist dem Film eine angeberische Warnung vorangestellt
(exzessiver Stroboskopgebrauch!), inklusive der Instruktion, die Lautstärke
ordentlich aufzudrehen. Es dauert nicht lange, bis der Film sein
Versprechen einlöst: illegale Poolparty irgendwo am Stadtrand von Berlin,
die Kids verlieren sich in stampfenden Beats, soundtechnisch eine brachiale
Acid-Säge mit Industrial Charme, dazu Leuchtstäbe und eben dieses
elektrifizierende Strobogewitter, das einen beim Zuschauen ganz kirre
macht.
„Der Nachtmahr“ fängt also schon mal gut an, ähnlich konsequent wie
„Victoria“, dem es mit seiner ruhelosen Kamera ja auch gelang, ein
jugendliches Feiergefühl, das die Schwerelosigkeit des Basses mit der
Euphorie des Raves verbindet, im Kino einzufangen. Mitten im Getümmel lässt
sich die 17-jährige Tina treiben, bis sie im Halbdunkel plötzlich ihren
heimlichen Schwarm Adam entdeckt (Wilson Gonzalez Ochsenknecht, in einem
Aufzug zwischen Meat Loaf und Bill Kaulitz, aber diesmal sogar erträglich).
Irgendwann setzt ihr das Geballer doch ganz schön zu, der viele Alkohol,
dann auch noch Adam – voll peinlich. Es ist nicht ganz klar, was passiert,
als sie sich kurz zum Pinkeln in die Büsche schlägt: Etwas kreucht durchs
Unterholz, Entsetzen, Panik, überstürzt muss die Mädchenclique mit der
völlig aufgelösten Tina im Schlepptau die Party verlassen. Und hier hat
„Der Nachtmahr“ seinen ersten David-Lynch-Moment: Zwischen Drogennebel und
Wachtraumzuständen wiederholt sich vor den Augen der Kids eine Szene, die
sie sich kurz zuvor auf ihren Handys angesehen haben. Krass, Alter!
Die Krassheit gehört gewissermaßen zum Programm von Akiz. Visuell und
akustisch ist „Der Nachtmahr“ feinstes Affektkino, das in seinem bewussten
Angriff auf die Sinne (Licht- und Soundeffekte stammen von
Atari-Teenage-Riot-Kompagnon Philip Virus) den Filmen von Gaspar Noé
ähnelt. Mit dem Unterschied, dass „Der Nachtmahr“ nicht auch noch die
Intelligenz seiner Zuschauer beleidigt, denn unter den auf Shock and Awe
abzielenden Reizen verbirgt sich eine zarte Coming-of-Age-Geschichte.
## Mit Tina stimmt etwas nicht
Tina ist mit ihren widersprüchlichen Gefühlen ziemlich alleingelassen. Ihre
beste Freundin Babs hört ihr nur mit einem Ohr zu, während sie auf der
Clubtoilette eine Line zieht, und ihre Eltern, mit denen Tina in einer
schicken Vorstadtvilla lebt, sind mit sich selbst beschäftigt. Ihre
Englischlehrerin (das ewige Indie-Rock-It-Girl Kim Gordon) bemerkt zuerst,
dass mit Tina etwas nicht stimmt.
Das Ding, das sich eines Nachts in der Küche am Kühlschrank zu schaffen
macht, ein grüner Gnom mit blinden Glubschaugen und Watschelgang (Gollum
meets E.T.), entpuppt sich, obwohl es zunächst Ekel erregt, nicht als das
unaussprechliche „Andere“, sondern als eine in schönster Cronenberg-Manier
(sein unterschätztes Meisterwerk „Die Brut“) realisierte Manifestation von
Tinas Ängsten.
Wenn sie das possierliche Wesen anfasst, fühlt es sich an, als berühre sie
ihre Seele. Natürlich ist sie die Einzige, die den Nachtmahr sehen kann.
Die Eltern glauben, ihre Tochter sei auf Drogen, ihre Freundinnen denken,
Tina wolle sich nur wichtig machen. So eskaliert die jugendliche
Identitätskrise.
## No-Budget-Guerillafilmemachen
Nach einer erfolgreichen Tour durch die internationalen Filmfestivals wird
„Der Nachtmahr“ seit einer Weile als Hoffnung des deutschen Genrekinos
gefeiert: No-Budget-Guerillafilmemachen ohne Filmförderung. Hartgesottene
Horrorfans sollten gewarnt sein, dass „Der Nachtmahr“ die Ansprüche an das
Genre nicht leichtfertig bedient.
Zugleich hat Akiz auch ein Problem mit dem Begriff „Coming of Age“, den
eigentlich nur verwerflich finden kann, wer nicht versteht, dass
Horrorklassiker wie „Halloween“ oder „Nightmare on Elm Street“ nichts
anderes als verkappte Coming-of-Age-Filme sind.
„Der Nachtmahr“ nähert sich dem Sujet einfach nur von seinem anderen, dem
nichtrepressiven, nichtreaktionären Ende her. Der Hedonismus der Jugend –
die Lust, der Sex, die Drogen – ist keine moralische No-go-Area, sondern
ermöglicht Freiheiten zur Selbstverwirklichung. „Freak“, sagt die Mutter
einmal in einem ihrer seltenen lichten Momente, „ist ein ganz blödes,
diffamierendes Wort.“
26 May 2016
## AUTOREN
Andreas Busche
## TAGS
Coming-of-Age
Horror
Spielfilm
Index
Kinostart
Kino
Spielfilmdebüt
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt Berlinale
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