# taz.de -- Wettbewerb Berlinale 2015: Schmutzige Geschichten | |
> In „Journal d’une femme de chambre“ zeigt Regisseur Benoît Jacquot den | |
> Blick einer Kammerzofe auf das wilde Treiben des Bürgertums. | |
Bild: Die Kammerzofe Céléstine ist jung, selbstbewusst und ehrgeizig. Doch un… | |
Eine Frau geht ihren Weg. Er steht ihr freilich nicht offen. Céléstine (Léa | |
Seydoux) ist jung, schön, ehrgeizig, selbstbewusst. Aber sie hat keine | |
Familie, kein Geld, sie muss sich als Dienstmädchen verdingen. Die | |
Geschichte, die Benoît Jacquot in „Tagebuch einer Kammerzofe“ erzählt, | |
spielt um 1900, es ist die Verfilmung von Octave Mirbeaus Dekadenzroman | |
gleichen Titels. | |
Ein Film, der den Vergleich mit den berühmten Vorgängern von Jean Renoir | |
und Luis Buñuel nicht scheuen muss, weil er ihn ganz ausdrücklich gar nicht | |
sucht. (Buñuel hatte die Geschichte an den Beginn des Faschismus verlegt. | |
Jacquot holt sie nicht näher an die Gegenwart ran, sondern rückt sie zurück | |
an ihren antisemitischen Platz in der Nähe der Dreyfus-Affäre.) | |
Das Ergebnis ist Trademark-Jacquot, der der Vorlage treu bleibt, indem er | |
sich in Fabel und Form kluge Freiheiten nimmt. Vorgeführt, abgeschritten | |
wird der Weg Céléstines als dekadenzkritischer Hindernisparcours mit | |
durchaus erratischen Sprüngen in Raum und Zeit. Virtuos kontrastiert | |
Jacquot die schmutzigen Geschichten, die Mirbeau aus dem bürgerlichen Leben | |
erzählt, mit der wie stets virtuos zerklüfteten Musik seines | |
Stammkomponisten Bruno Coulais und den lichtdurchflutet hinreißenden | |
Bildern seines Kameramanns Romain Winding. | |
Das Tempo bleibt hoch in synkopischen Schnitten. Blicke können hier | |
haschen, lauern, fast sogar töten, die Kamera streicht durch die Büsche im | |
Garten oder flüchtet, wenn Céléstine durch einen Gang vorwärts eilt, nach | |
hinten davon. Alles durchaus virtuos, anders als in Jacquots besten Filmen | |
ist es hier von ins leere tendierenden Manierismen aber nicht vollständig | |
frei. | |
## Lachen oder weinen? | |
In jedem Fall wird, was inhaltlich unter Spannung ist, durch die Sprache | |
von Bild und Ton forciert. Der Hausherr, ein Würstchen, stellt Céléstine | |
nach. Manche Erinnerung, kommentarlos ins Erzählen geschoben, streift das | |
Groteske. Etwa die Geschichte vom Exitus durch Koitus mit einem an | |
Tuberkulose Erkrankten: Soll man da lachen oder weinen? Überhaupt wird ohne | |
Umstand getötet, etwa ein Frettchen, von einem Nachbarn, dessen exquisiter | |
Sadismus sich hinter dem schauderhaft leutseligen Äußeren nicht wirklich | |
verbirgt. | |
Céléstine macht nicht alles mit. Sie kann jedoch den Widerstand nur in | |
Beiseitegesprochenem proben, im Heben des Blicks, im stolzen Tragen der zu | |
noblen Kleider, im Versteifen des Körpers, der biegsam und gehorsam sein | |
sollte. Sie sucht einen Ausweg und findet ihn in Joseph (Vincent Lindon), | |
dem Gärtner des Hauses. Erst nur ein Umschleichen, ein Agieren auf der | |
Bühne, als die nur der andere die Szene jeweils erkennt. Dann offenbart | |
sich Joseph als Antisemit mit finsteren Plänen. Einen kurzen Blick nur | |
voraus erlaubt sich Jacquot nach all den Blicken zurück, in Céléstines | |
Zukunft, von der man am Ende ausdrücklich nichts mehr erfährt. | |
Bei Mirbeau wird die Heldin, nachdem sie aus der Knechtschaft entkommt, | |
selbst zur Sadistin. Nichts spricht dagegen, dass es in diesem Fall ebenso | |
endet: Die junge, schöne, selbstbewusste Céléstine ist von Anbeginn | |
deformiert, von Dienstverhältnissen, die Machtverhältnisse sind und keine | |
guten Optionen bieten, nur vielleicht in der Summe weniger schlechte. | |
Wenn sie kann, legt sie, was unter ihr ist, selbst in Ketten: An den | |
winselnden Hunden des Hauses führt der Film das ausdrücklich vor. Céléstine | |
geht ihren Weg; und es kann doch in einem emphatischen Sinn nicht ihr | |
eigener sein. Die Freiheit, zu werden und zu sein, wer man ist, hat keiner | |
in Verhältnissen, in denen Herrschaft alles immer durchdringt. Da kennt | |
Jacquot, wie schon Mirbeau, keine Gnade. | |
9 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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