# taz.de -- Berlinale Special über Martin Luther King: Die eigene Haut riskier… | |
> Eine Frage der Gewalt und des richtigen Kalküls – Ava DuVernays Film | |
> „Selma“ über Martin Luther King ist spannend und aktuell. | |
Bild: David Oyelowo spielt die Bürgerrechtsikone Martin Luther King. | |
Es fällt schwer, das zu glauben, aber tatsächlich ist Ava DuVernays „Selma�… | |
der erste Kinofilm, der als Martin-Luther-King-Biopic beworben wird. Dabei | |
führt das Etikett in die falsche Richtung: „Selma“ nämlich ist gerade | |
deshalb so beeindruckend, weil er ganz gegen die eingeschliffenen | |
Konventionen eines Biopics erzählt. Es gibt keine Kindheitsszenen und es | |
wird nicht retrospektiv erzählt von einem tragisch-triumphatorischen Ende | |
her. | |
Stattdessen setzt DuVernay die kurze Illustration zweier historischer | |
Ereignisse an den Anfang, die die Epoche und das, was auf dem Spiel steht, | |
skizzieren: die Bombenexplosion in einer Kirche in Birmingham, Alabama, im | |
September 1963, bei der vier schwarze Mädchen getötet wurden, und die | |
Verleihung des Friedensnobelpreises an Martin Luther King im Oktober 1964. | |
In beiden Szenen wird sofort spürbar, wie DuVernay mit dem historischen | |
Material verfährt. Sie rekonstruiert die Unmittelbarkeit des Moments: Man | |
hört die Mädchen in der Kirche über Frisuren plaudern, und das Banale ihres | |
Gesprächs lässt ihre Unschuld hervortreten. Martin Luther King dagegen | |
räsoniert beim Krawattebinden über sein Ursprungsdilemma: glaubwürdig zu | |
bleiben für die Menschen von dort, wo er herkommt, und gleichzeitig in der | |
Gesellschaft zu bestehen, in die ihn sein politischer Kampf führt. | |
## Ein Stück Geschichte | |
Wenn man so will, zeigt DuVernay die private Seite von Martin Luther King | |
und macht zugleich deutlich, dass der in Zeiten des Reality-TV | |
bedeutungslos gewordene Satz, dass das Private politisch sei, in der Ära | |
der Bürgerrechtsbewegung eine gewichtige Bedeutung hatte. In „Selma“ geht | |
es um ein Stück Geschichte, um eine politische Aktion, die große Folgen | |
haben sollte. Der Film schildert (nach einem Drehbuch von Paul Webb) in | |
gebotener Trockenheit die Vorüberlegungen und die Vorbereitungen. | |
Mit einem Marsch von Selma, Alabama, nach Montgomery sollte für das | |
Wahlrecht der Schwarzen demonstriert werden. Es war ein Plan, der für alle | |
Beteiligten mit großen privaten Risiken einherging, so privat es eben ist, | |
die eigene Haut zu riskieren. DuVernay zeigt die Verhandlungen von | |
Mitstreitern und Gegnern, von Zweiflern und Aktivisten, die sich an der | |
Respektperson Martin Luther King in verschiedener Weise stoßen und | |
ausrichten. Dabei versetzt DuVernay den Zuschauer gleichsam in die Lage | |
eines neu Hinzukommenden, der sich selbst einen Überblick verschaffen muss. | |
Die Dramaturgie der Unmittelbarkeit, die DuVernay anwendet, lässt sowohl | |
die ausgetauschten Argumente wie die verheimlichten Bedenken spannend und | |
aktuell erscheinen, und das nicht nur vor dem Hintergrund der letztjährigen | |
Ereignisse rund um Ferguson. Damals wie heute stellt sich immer wieder die | |
Frage der Gewalt und des richtigen Kalküls. | |
## Von Konservativen kritisiert | |
Der Marsch, um den es in „Selma“ geht, war keine Gutmenschenaktion: King | |
und seine Leute bestimmten Selma zum Ausgangspunkt, weil sie damit | |
rechneten, dass der dortige Polizeichef sich zu unschönen Taten hinreißen | |
lassen und damit jene Medienpräsenz und Aufmerksamkeit schaffen würde, die | |
ein Protest nun mal braucht. | |
Wie insbesondere King mit dieser Verantwortung umgeht, stellt der Film ganz | |
ohne Zynismus dar. Dass dabei Präsident Lyndon B. Johnson (Tom Wilkinson) | |
die Rolle des Antagonisten zugeordnet bekommt, wofür Konservative in den | |
USA den Film sehr angegriffen haben, erscheint als völlig lässliche | |
erzählerische Freiheit. | |
Dennoch war wohl diese Kontroverse daran schuld, dass „Selma“ zwar eine | |
Oscar-Nominierung als bester Film erhielt, in den anderen Kategorien aber | |
auf sträfliche Weise übergangen wurde. Ava DuVernay hätte die Ehre gebührt, | |
als erste schwarze Frau für einen Regie-Oscar in Frage zu kommen, auch | |
David Oyelowos Verkörperung von Martin Luther King verdient das ganz große | |
Lob. Ihm gelingt etwas Rares: Er verleiht seiner Figur Würde und Autorität, | |
ohne sie je zum Heiligen zu stilisieren. Sein King ist ein Mann mit | |
persönlichen Fehlern – und manche davon tragen sogar zum politischen Erfolg | |
bei. | |
9 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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