# taz.de -- Regisseurin über Martin Luther King: Die Wurzeln des Rassismus | |
> Weder verklärendes Bio-Pic, noch trockene Geschichtslektion: Ava | |
> DuVernays Film „Selma“ handelt von Menschen, nicht von Pappfiguren. | |
Bild: David Oyelowo als Martin Luther King | |
In Selma, einer Kleinstadt am Alabama River, protestiert im Frühling 1965 | |
eine engagierte Gruppe von Afroamerikanern. Angeführt von Martin Luther | |
King demonstriert sie für ein uneingeschränktes Wahlrecht sowie gegen die | |
Gewalt und Schikanen, mit denen die schwarze Bevölkerung in den Südstaaten | |
immer noch an der Ausübung ihres Grundrechts gehindert wird. | |
Ihre drei Märsche in Richtung Montgomery, der Hauptstadt des Bundesstaates, | |
gehen in die Geschichte ein. Sie werden zum Synonym einer friedlichen, aber | |
unnachgiebigen politischen Strategie. Ava DuVernays Film wählt diese drei | |
bewegten Monate der US-Bürgerrechtsbewegung, um die Errungenschaften des | |
charismatischen Friedensnobelpreisträgers Martin Luther King zu | |
vergegenwärtigen. | |
„Selma“ ist weder von der Sorte konventioneller Bio-Pics, die ihren | |
Protagonisten verklären, noch eine trockene Geschichtslektion: Gemeinsam | |
mit dem beeindruckenden Hauptdarsteller David Oyelowo gelingt DuVernay ein | |
vielschichtiges Stimmungsbild dieser Zeit, in dem das Pathos nicht auf | |
Kosten der Differenzierung geht. Ich traf die noch von der | |
Berlinale-Premiere euphorisierte Regisseurin in einem Berliner Hotel. Wir | |
nahmen zwischen zwei Scheinwerfern Platz, die schon ausgeschaltet waren. | |
„Vor 50 Jahren hätten wir nicht so beisammensitzen können“, sagte Ava | |
DuVernay während des Gesprächs: „Es wäre ein Verbrechen gewesen, weil wir | |
so verschieden sind.“ | |
taz: Frau DuVernay, nach der Ermordung von Michael Brown und den | |
Ausschreitungen in Ferguson kommt „Selma“ als period piece besondere | |
Aktualität zu. Wie haben Sie diese Koinzidenz erlebt? | |
Ava DuVernay: Es war surreal! Mike Brown wurde im August ermordet, da war | |
schon klar, dass der Film zu Weihnachten in die Kinos kommen sollte. Dann | |
wurde Eric Garner von einem Polizisten in New York getötet, es kam zu | |
keiner Anklage. Wir schnitten unseren Film, während diese Fälle die | |
Nachrichten bestimmten. Es war merkwürdig, im Fernsehen Bildmaterial zu | |
sehen, das dem aus unserem Film recht ähnlich war. Als Künstlerin war ich | |
noch mehr gefordert: Einen Film zu drehen, der diesen kulturellen Moment so | |
präzise traf, das war fast unheimlich. | |
Dennoch wundert man sich, warum es so lang gedauert hat, bis ein Film über | |
Martin Luther King verwirklicht wurde. War es falsch zu glauben, dass es in | |
der Ära Barack Obamas zu einem anderen Selbstverständnis kommt, was | |
afroamerikanische Themen anbelangt? | |
Präsident Obama liegt den Menschen nicht am Herzen. Ein schwarzer Präsident | |
kann das soziale Bewusstsein nicht ändern, auch nicht die Art und Weise, | |
wie man erzogen wurde. Er kann Politik machen, er kann aber nicht | |
korrigieren, was ein weißer Polizist in den Augen eines schwarzen Mannes | |
sieht, den er auf der Straße anhält. Mit einer Person an der Macht wendet | |
sich nicht alles automatisch zum Guten. Natürlich gibt es große | |
Fortschritte seit 1965, der Zeit des Films. Doch die Wurzeln des Rassismus | |
sind noch da. | |
Woran liegt das? | |
Als wir gestern durch Berlin spazierten, sagt David (Oyelowo, Anm. D. K.) | |
etwas Richtiges: Er sah alle diese Monumente der Erinnerung, die der Reue | |
über ein dunkles Kapitel der Geschichte Ausdruck verleihen. Das haben wir | |
in Amerika nicht, es wurde so vieles unter den Teppich gekehrt. Man sieht, | |
wenn man damit nicht umgehen lernt, kommen die Dinge immer wieder zurück. | |
Was 1965 in Selma passierte, konnte deshalb in Ferguson wieder passieren. | |
Sie haben das Drehbuch von Paul Webb, das lange herumgereicht wurde, | |
umgeschrieben und den Fokus des Films verlagert. Welche Aspekte lagen Ihnen | |
besonders am Herzen? | |
Ich habe eigentlich alles umgeschrieben. Es ist ein vollkommen neuer | |
Zugang. Webb hat den Film auf die Periode um 1965 eingeschränkt. Martin | |
Luther Kings Leben wäre für ein Biopic viel zu reichhaltig, es sauste so | |
dahin: Von der Wiege zu der Bahre, das funktioniert als Film aber nicht. | |
Die Einengung auf die drei Monate von Selma ist brillant. Ich hatte aber | |
eine andere Vorstellung davon, wie dies umzusetzen sei. Da Webb jedoch in | |
seinem Vertrag eine Klausel hat, dass er bei Änderungen die Nennung des | |
Koautors auch ablehnen darf, werde ich nicht genannt. | |
Auch die Reden Luther Kings, die im Film zu sehen sind, haben Sie selbst | |
verfasst. Ich habe es nicht bemerkt und war erstaunt, als ich es danach | |
gelesen habe. Wie kam es dazu? | |
Der Luther King Estate hat die Reden an Steven Spielberg beziehungsweise | |
Dreamworks lizensiert. Wir hatten also keine Rechte. Deshalb haben wir | |
beschlossen, uns von seinen Worten zu lösen und seine Ideen in den | |
Mittelpunkt zu rücken. Ich habe mir die Reden oft angehört und versucht, | |
genau zu verstehen, was er sagen wollte. Zu Hause habe ich es dann in | |
anderen Worten niedergeschrieben. Und weil David eine so großartige | |
Performance leistet, wird man gleich von Gefühlen überschüttet. | |
Eine weitere Qualität des Films liegt darin, dass er Frauenfiguren viel | |
Platz einräumt. Sie thematisieren etwa die Spannungen innerhalb der | |
King-Familie. Warum wollten Sie den Radius vergrößern? | |
Das Interessante an dieser Zeit war, dass alle Beteiligten Autobiografien | |
schrieben, manche sogar mehrere. Mrs King war eine davon, wir haben aus | |
ihren Erinnerungen und aus denen anderer, die den Kings nahestanden, unsere | |
Informationen gewonnen. King war oft 27, 28 Tage in einem Monat nicht zu | |
Hause, und sie daheim in Atlanta, wo sie und die Kinder Morddrohungen | |
erhielten. Das würde jede Beziehung belasten! Ich habe versucht, mich in | |
die Figuren hineinzuversetzen. Niemand möchte einen Film über eine Statue | |
sehen, über eine Pappfigur, die man ausschneiden kann. Mir geht es um den | |
Menschen – King war kein Superheld, er ist kein „Feiertag“, sondern ein | |
Mann, der Großes vollbrachte. Wenn man ihn vermenschlicht, zeigt man, dass | |
er ein wenig wie du und ich war. Die Dinge, die er tat, wirken dann noch | |
außergewöhnlicher. | |
Es fällt auf, wie vorsichtig Sie mit Gewalt umgehen. Die Bilder werden oft | |
verlangsamt, ohne dass die Härte der Gräueltaten geschmälert wird. Welche | |
Überlegung steckt da dahinter? | |
Vielleicht hängt das damit zusammen, dass ich eine Frau, eine schwarze Frau | |
bin: Ich habe einen emotionalen Zugang, vor allem, wenn es um Gewalt gegen | |
Schwarze geht. Ich war nicht so sehr am physischen Aspekt, am Schlag selbst | |
interessiert, sondern daran, was mit dem Körper, dem Geist dabei geschieht. | |
Ich wollte die Bilder verlangsamen, damit man zum Zeugen dessen wird, was | |
an Lebenskraft verloren geht. Es gibt ein Echo, ein Nachwirken, Momente der | |
Trauer – etwa wenn der Großvater seinen Enkel identifizieren muss. | |
Vielleicht hat es auch weniger mit meinem Geschlecht zu tun, als damit, | |
woher ich komme: Ich habe in meiner Jugend in L. A. gesehen, wie Leute von | |
der Polizei verletzt wurden. | |
Sie wuchsen im Compton-District von L. A. auf, einem bekanntermaßen harten | |
Viertel. | |
Es war nicht leicht, aber lehrreich. Als Filmemacherin verfolge ich nun | |
nicht nur das Ziel, etwas sichtbar zu machen. Ich will auch zeigen, wie | |
sich etwas anfühlt. Das musste ich mir beim Dreh immer vorsagen. Zu Beginn | |
von „Selma“ sieht man, wie vier kleine Mädchen ermordet werden. Wir machen | |
das deshalb so früh, damit man weiß, womit man es zu tun hat. | |
Es gab Historiker, die Ihre Darstellung von Präsident Lyndon B. Johnson | |
harsch kritisierten. | |
Ich war völlig verblüfft. Zumal es nicht stimmt: Wir zeigen Johnson nicht | |
als Bösewicht. Die Leute feiern ihn am Ende des Films. Es ist eine | |
Entwicklung: Die Figur fängt woanders an, als sie aufhört. Lyndon B. | |
Johnson war nicht immer ein Held für die schwarze Bevölkerung. Zwanzig | |
Jahre lang hat er sich gegen alle Versuche gesträubt, die Segregation zu | |
beenden. Manche wollen diese Leute nur auf den Sockel stellen. Doch Johnson | |
war ein zögerlicher Held, und die Partnerschaft zwischen ihm und King glich | |
einer Schachpartie. | |
Der Umstand, dass Sie nur zwei Oscar-Nominierungen für „Selma“ erhielten, | |
wurde zum Anlass genommen, die Besetzung der Film Academy zu kritisieren. | |
Ihr Standpunkt? | |
Wir sind als bester Film nominiert, das finde ich ganz großartig, und es | |
ist eine große Ehre! Was die Diversität bei der Academy betrifft: Klar, da | |
müssen wir sichergehen, dass die Industrie in Zukunft auch die Welt | |
widerspiegelt. Das tut sie derzeit nicht. Allerdings werde ich die | |
Oscar-Gala ganz sicher genießen. Für mich ist das eine Party. Ich werde mir | |
etwas Tolles anziehen. | |
18 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Dominik Kamalzadeh | |
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