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# taz.de -- Vordenker des Postkolonialismus: Reale Fiktionen
> Achille Mbembe, Virtuose der Vernunftkritik, analysiert die Erfindung des
> „Negers“. Sein Essay verspricht eine neue Perspektive auf die
> Weltgeschichte.
Bild: Achille Mbembe benutzt das N-Wort.
Es hat sich herumgesprochen: „Europa bildet nicht mehr das
Gravitationszentrum der Welt“, wie Achille Mbembe unzweideutig formuliert.
Nichts hat Europa nötiger, als neue Sichtweisen kennenzulernen – auf das,
was hinter ihm liegt und doch seine Gegenwart mitbestimmt. Mbembes Essay
„Kritik der schwarzen Vernunft“ verspricht eine neue Perspektive auf die
Weltgeschichte. Der Titel erinnert an Jean-Paul Sartres großes Werk
„Critique de la raison dialectique“, dessen Titel wiederum mit den
kantischen Vernunftkritiken kokettierte.
Mbembe scheut sich nicht, Begriffe wie „Neger“ und „Rasse“ neu zu
durchdenken. Was sagen wir, wenn wir von „Negern“ und „Rasse“ sprechen?
Mbembe benutzt diese Wörter ohne Anführungszeichen. Er behandelt sie als
reale Fiktionen. Es geht um die Geschichte einer Welt, die diese Kategorien
hervorgebracht hat.
Mbembe setzt drei Phasen an; er lässt seine „Biographie einer
schwindelerregenden Verbindung“ mit dem transatlantischen Sklavenhandel
(15.–19. Jahrhundert) beginnen. Die zweite Phase setzt am Ende des 18.
Jahrhunderts und mit dem „Early Negro Writing“ ein und endet hundert Jahre
später mit dem Zusammenbruch des Apartheidsystems.
In der schwarzen Emanzipationsliteratur bedient Mbembe sich reichlich, um
die Gegenwart zu beschreiben. Die neue Epoche nennt er eine „Ägide des
Neoliberalismus“, die durch universale Kommodifizierung, globale Migration
und Gleichgültigkeit gekennzeichnet sei. Mbembe konstatiert eine
potenzielle Verschmelzung von Kapitalismus und Animismus, die zu einer
universalen Ausdehnung der Conditio nigra auf die subalterne
Weltbevölkerung führt. Dieses Schwarzwerden der Welt steht im Zentrum von
Mbembes „Kritik der schwarzen Vernunft“.
## Ein Strudel neuer Schlagwörter
Muss das alles so kompliziert ausgedrückt werden? Mbembe zeigt sich dem
Leser als ungeheuer belesener Intellektueller, der das Fortleben des
Rassismus in einer sich aufgeklärt vorkommenden Welt immer wieder sichtbar
macht. Denn mit dem Ende des short century, mit dem auch die
Dekolonisierungsperiode abgeschlossen wurde, ist der Rassismus keineswegs
abgeschafft worden, sondern er erscheint als „Rassismus ohne Rassen“ (Eric
Fassin) globalisiert.
Mbembes Arbeit dient als Schlussteil einer Trilogie, die er mit „De la
postcolonie“ 2000 begann und mit „Sortir de la grande nuit“ 2010
fortgesetzt hat.
Sein neuestes Buch nennt Mbembe eine „Arbeit über den Afropolitanismus“.
Wer sich nicht auskennt, wird im Strudel neuer Schlagwörter untergehen.
Mbembe erwartet und verlangt viel vom Leser, der sich in eine komplexe
Debatte über afrikanisches Selbstbewusstsein nach Ende des Kolonialismus
hineinlesen muss. An den afrikanischen Nationalismus glaubt ohnehin niemand
mehr, so wenig wie an den afrikanischen Sozialismus. Beide sind durch
räuberisch-korrupte postkoloniale Eliten zu einem Schreckgespenst geworden.
Aber auch die afrikanischen Renaissancen – Négritude, Nativismus – konnten
sich mit ihrer gespielten Naivität in einer sich globalisierenden
dynamischen Welt nicht behaupten. Der nationalismus- und
nativismuskritische Sinn seiner Schriften macht Mbembe lesenswert. Auch der
Gedanke, Afrika spiele sich nicht nur in Afrika ab, erschließt neue
Sichtachsen. Der Afropolitanismus versucht, afrikanische Erfahrung neu zu
fassen – ein inklusives Konzept, das nicht in schwarzafrikanischer
Solidarität aufgeht.
## Mit allen akademischen Wassern gewaschen
Mbembe präsentiert seinem internationalen Publikum ein Feuerwerk von Ideen;
er bietet einen reichen Synkretismus an. Aber manchmal ist man auch
erschöpft von seiner Art brillierenden Schreibens. Die kraftvolle Sprache
Aimé Césaires und Frantz Fanons hat es ihm angetan. Aber diese stammt noch
aus einer Zeit – der Zeit der Dekolonisation –, die eine harte und klare
Diktion erforderte.
Im Vergleich zu diesen beiden schriftstellerischen Größen des letzten
Jahrhunderts wirkt Mbembe wie ein Showstar, der, mit allen akademischen
Wassern gewaschen, seine Identitätssuche in aller Öffentlichkeit betreibt.
Bei ihm hat eine hybride kosmopolitische Kultur die Politik abgelöst. Die
Reflexion tritt hinter der Selbstdarstellung zurück. Die veränderten
Lebensbedingungen spiegeln sich in den Titeln. Die „Kritik der schwarzen
Vernunft“ ist mehr als fünfzig Jahre von Fanons „Verdammten dieser Erde“
entfernt.
Mbembe nennt Fanons Werk ein Projekt, das er fortsetzen möchte. Fanon nahm
die Wissenschaft in den Dienst eines Emanzipationsversuchs, Mbembes
afropolitanische Lebenshaltung profitiert von den gescheiterten
Anstrengungen der Vergangenheit. Der Intellektuelle Mbembe fühlt sich auf
den Bühnen der Eliteuniversitäten und internationalen Kongresse ganz zu
Hause, obwohl er die Conditio nigra einer rassistischen Welt noch nicht aus
dem Auge verloren hat.
22 Feb 2015
## AUTOREN
Detlev Claussen
## TAGS
Afrika
Politisches Buch
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Kunstprojekt
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