# taz.de -- Buch über Entkolonialisierung Afrikas: Denken der Stunde | |
> Achille Mbembe befragt im Rekurs auf seine Lebensgeschichte die | |
> afrikanischen Entwicklungen seit der Entkolonialisierung. | |
Bild: Achille Mbembe ist einer der gefragtesten Philosophen unserer Zeit und Vo… | |
Sie kommen täglich, und beinahe täglich kommen einige von ihnen in den | |
Fluten des Mittelmeers um. Sie kommen aus: Afrika! Mag der eine oder andere | |
Deal mit der Türkei dazu führen, dass weniger Menschen aus dem Mittleren | |
Osten in Ländern der EU als Flüchtlinge registriert werden, so wird dies | |
mit Menschen aus den Ländern Afrikas auf Jahre hinaus nicht der Fall sein – | |
gibt es doch diese Länder nicht mehr, jedenfalls nicht als funktionierende | |
Staaten. | |
Achille Mbembe gilt als bedeutendster Vertreter dessen, was als | |
„postkoloniales Denken“ bezeichnet wird – eines Denkens, das sich bei all… | |
Schärfe der Kritik nicht in Verantwortungszuweisungen an die weiße, | |
atlantische Welt erschöpft. Das hat der Autor bereits in seiner vor zwei | |
Jahren erschienenen „Kritik der schwarzen Vernunft“ unter Beweis gestellt; | |
nun legt er einen von Christine Pries luzide übersetzten Essay vor, in dem | |
er unter Einbeziehung der eigenen Bildungsgeschichte zu ermessen versucht, | |
welche Zukunft Afrika in der Welt haben kann. | |
Mbembe beobachtet in vielen afrikanischen Staaten einen „blutigen | |
Populismus“ in einem geografischen und kulturellen Raum, der keine Umrisse | |
mehr hat: „Wenn dieser Kontinent überhaupt noch ein Ort ist, dann handelt | |
es sich häufig und für viele um einen Ort des Übergangs oder der | |
Durchreise.“ | |
Bei alledem hält sich Mbembe an die klassische Geschichtsphilosophie: Gilt | |
doch inzwischen als ausgemacht, dass sich das Kapitel zu „Herrschaft und | |
Knechtschaft“ aus Hegels „Phänomenologie“ nicht zuletzt aus der Erfahrung | |
der Gründung der ersten schwarzen Republik in Haiti unter Toussaint | |
l’Ouverture, einem ehemaligen schwarzen Sklaven, in den 1790er Jahren | |
speist. Haiti – das war nach der Französischen Revolution die zweite | |
moderne Republik auf der ganzen Welt; ihren Schattenseiten hat Heinrich von | |
Kleist übrigens die Erzählung „Die Verlobung von Santo Domingo“ gewidmet. | |
## „Die wilde Seite des europäischen Humanismus“ | |
Auf jeden Fall: Entkolonialisierung und Kritik des Rassismus müssen | |
zusammen gedacht werden; stellt doch das, was als „Rasse“ bezeichnet wird, | |
nichts anderes dar als, so der Autor, „die wilde Seite des europäischen | |
Humanismus“. Vor allem aber arbeitet Mbembe heraus, dass die | |
Entkolonialisierung – zumal im Denken Frantz Fanons – eine Form der | |
„Welterschließung“ ist. Diese Form des postkolonialen Denkens mit seiner | |
Hoffnung auf eine künftige, geschwisterliche Menschheit komme dem jüdischen | |
Denken Walter Benjamins oder Ernst Blochs sehr nahe. | |
Dieses Denken, von universalistischen Motiven getragen, wird zu einem | |
„afromodernen“ Denken dann, wenn es ein „Denken des Dazwischen und der | |
„Verwobenheit“ wird: „Das Bewusstsein von der Welt“, so Mbembe, „ents… | |
mit anderen Worten aus der Aktualisierung von etwas, das als Möglichkeit | |
bereits in mir angelegt war … durch meine Verantwortung im Hinblick auf das | |
Leben Anderer und allem Anschein nach weit entfernte Welten und vor allem | |
für die Menschen, zu denen ich allem Anschein nach keinerlei Verbindung | |
habe: die Eindringlinge.“ | |
Damit erweist sich das afromoderne Denken als das Denken der historischen | |
Stunde Europas: das Europa der „Flüchtlingsdebatte“. Angesichts dessen ist | |
die wohlfeile Aufforderung ehemals linker, jetzt nach rechts gerückter | |
französischer Intellektueller, wie etwa Pascal Bruckners, nicht in | |
Selbstmitleid über die Untaten der eigenen Kolonialgeschichte zu versinken, | |
zynisch. Denn darum geht es gar nicht. Worum es geht, ist, ein ungeschöntes | |
Bild der europäischen Expansion zu gewinnen, mitsamt ihren Spätfolgen für | |
Kolonisierer und Kolonisierte. | |
Nichts, rein gar nichts liegt Mbembe daher ferner, als die Untaten heutiger | |
Regimes afrikanischer Staaten nur den ehemaligen Kolonialmächten | |
zuzurechnen; er schenkt den afrikanischen Potentaten und ihren Hilfstruppen | |
nichts und entschuldigt ihr politisch-moralisches Versagen in keiner Weise. | |
Mit Mbembes Essay liegt ein Höhepunkt der postkolonialen Philosophie vor – | |
einer Philosophie, die weitaus mehr ist als nur eine Philosophie der | |
Entkolonialisierung. Wenn Hegel recht hat und „Philosophie ihre Zeit in | |
Gedanken gefasst“ ist, dann ist Mbembes Essay die Philosophie des | |
Zeitalters der Globalisierung. | |
17 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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