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# taz.de -- Entfremdung nach Hegel und Marx: Gilt auch für Automechaniker
> Die Beziehung von Menschen zur Welt und zu ihrem Selbst ist nach wie vor
> von der Arbeit bestimmt. So sieht es die Philosophin Rahel Jaeggi.
Bild: So wie sich Arbeitsprozesse technologisch verändern, so wandeln sich auc…
Die jährlich stattfindende, vom Frankfurter Institut für Sozialforschung
organisierte Vortagsreihe „Frankfurter Positionen“ ist in diesem Jahr dem
Thema „Selbstbeobachtungen“ gewidmet. Das Thema „Selbst“ hängt sozusag…
diskursiven Schwungrad. Man könnte fast von einer Renaissance des „Selbst“
in ganz unterschiedliche Formen reden.
Es gibt darunter kindische wie die Mode der „Selfies“ und des
Fotografierens in buchstäblich allen Lebenslagen, aber auch gefährliche wie
die „Selbstoptimierung“ mittels Drogen.
Den dritten Vortrag der Reihe bestritt am Mittwochabend die in Berlin
lehrende Philosophin Rahel Jaeggi. Sie ging einem Thema nach, mit dem sie
sich bereits in ihrer Dissertation (2002) beschäftigt hatte – dem der
„Entfremdung“.
Der Begriff „Entfremdung“ stammt von Hegel, der ursprünglich damit „das
Gefühl des Unglücks und der Ärmlichkeit des Tuns“ fasste, aber auch „die
Arbeit nach einem fremden Willen“.
## Pluralität von Entfremdungserfahrungen
In dieser Form übernahm der junge Marx den Begriff und untersuchte ihn
zentral, vor allem in seinen frühen Schriften. In seiner „Kritik der
politischen Ökonomie“ in den späteren Jahren taucht der Begriff
gelegentlich auch auf, wird aber normativ – insbesondere
geschichtsphilosophisch-spekulativ – so aufgeladen und überladen, dass er
für eine aktuelle kritische Gesellschaftstheorie nicht mehr anschlussfähig
ist. Neomarxisten aus dem Kreis der jugoslawischen Praxisgruppe versuchten
deshalb, den Begriff von Traditionsbeständen zu entlasten.
Auch Rahel Jaeggi bezog sich in ihrem Vortrag über die Selbstentfremdung
der Menschen in der Arbeit und durch die Arbeit auf einen gleichsam
abgerüsteten Begriff, mit dem sich empirisch und analytisch arbeiten lässt.
Um einige Einsichten von Hegel und Marx kommt man aber auch gegenwärtig
nicht herum.
Durch Arbeit ist die Beziehung von Menschen zur Welt und zu ihrem Selbst
nach wie vor maßgeblich bestimmt, und zwar als Entfremdung von der Welt wie
vom Selbst. Freilich darf man diese Entfremdung nicht mehr anthropologisch
oder essentialistisch denken, wie die Philosophen sagen, sondern man muss
den Entfremdungsprozess historisieren zu einer „Pluralität von
Entfremdungserfahrungen“, wie Jaeggi darlegte, die dem historischem Wandel
unterworfen sind.
Auch das Selbst, auf das sich die Erfahrung der Entfremdung bezieht, ist
kein immer schon Gegebenes oder ominöses Wesen „des“ Menschen, sondern ein
Selbst, das sich etwa im Arbeitsprozess und durch die ganze Lebenspraxis
formt und verändert. Rahel Jaeggi sieht Entfremdung in drei Dimensionen als
Verhältnis zur subjektiven, zur objektiven und zur sozialen Welt.
## Gestaltungs- und Verantwortungsspielräume
Und so wie sich die Arbeitsprozesse technologisch verändern, so wandeln
sich auch Ansprüche an die Arbeit, und zwar nicht nur bei anspruchsvollen
Tätigkeiten. Ein Hausmeister oder ein Automechaniker fühlt sich in seiner
Arbeit und von seinem Arbeitsethos genauso entfremdet, wenn der
Arbeitsprozess durch den technologischen Wandel entkernt und versimpelt
wird, wie ein Hochschulprofessor, wenn ihn der akademische Betrieb zum
Vollzugsorgan absurder bildungspolitischer „Reformen“ herabstuft.
Der „verzweifelte Begehr nach Identifikation“ (Judith Butler) mit sich
selbst und seiner Arbeit ist weder an soziale Hierarchien noch an Einkommen
gekoppelt. Kritik an der Entfremdung kann und darf sich nicht an
nostalgischen Vorstellungen von der Rückkehr zur Ganzheitlichkeit oder zur
Aufhebung von Arbeitsteilung orientieren, sondern muss danach fragen, wie
Gestaltungs- und Verantwortungsspielräume im Interesse der Arbeitenden
genutzt und ermüdende, entmündigende, fragmentierende, entleerende und
verblödende Tätigkeiten überflüssig gemacht werden können. Arbeit, so
Hegel, soll die „Teilhabe am allgemeinen gesellschaftlichen Vermögen“
ermöglichen.
Und das gilt auch für Arbeitslose oder prekär Beschäftigte, die ihre
soziale Lage als Entfremdung und Exklusion von solcher Teilhabe erfahren.
Das zahlreich erschienene, zum größten Teil junge Frankfurter Publikum
dankte der Vortragenden mit starkem Beifall.
8 Dec 2016
## AUTOREN
Rudolf Walther
## TAGS
Philosophie
Arbeit
Hegel
Marx
Schwerpunkt Stadtland
Paris
Donald Trump
Lesestück Meinung und Analyse
Pathos
Postkolonialismus
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