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# taz.de -- Trumps Wahlerfolg bei Unterschichten: Das Weltbild der anderen
> Für viele Amerikaner funktioniert der „American Dream“ nicht mehr. Linke,
> Privilegierte und Gebildete seien schuld daran. Stimmt das?
Bild: „Mein erster Gedanke war: Wie gut, dass ich nicht dort bin“, sagt uns…
Nichts empört mich so sehr wie die Empörung selbst. Ich sehe das Entsetzen
in den Gesichtern verblüffter Politiker, in ihrer Selbstzufriedenheit
gestörte Journalisten, bestürzte Eliten und mürrische Pseudoliberale. Sie
können nicht glauben, dass das System, das für sie bisher funktioniert hat,
sich ändern könnte. Denn sie verstehen nicht, dass die Welt für viele
Menschen anders aussieht als für sie.
Haben sie wirklich erwartet, dass Leute, die ein halbes Jahrhundert die
Kosten eines globalen Neoliberalismus getragen haben, der sich als
Sozialdemokratie tarnt und das Banner der Menschenrechte hochhält, um
Ausbeutung, Korruption und Gier zu verbergen, sich nicht wehren würden?
Können gebildete Menschen tatsächlich von der vollkommenen Absage an ein
System überrascht sein, das vor allem ihnen selbst Vorteile verschafft?
Wenn die Verwunderung der Politiker, Experten und Pressesprecher echt ist,
dann ist die Entfremdung von denen, die sie repräsentieren sollen, wirklich
beängstigend: Es zeigt ihre absolute Ignoranz gegenüber Menschen, mit der
sie ihre Welt teilen müssen. Diese Menschen, die wir als hässliche
Karikaturen der Dummheit und Wut darstellen, können nicht so einfach
zurückgewiesen werden, wie wir es gerne hätten. Sie haben eine Stimme – und
Demokratie bedeutet, dass die genauso wertvoll und wichtig ist wie unsere.
Nach all den Jahren, in denen wir sie ignoriert haben, haben die Menschen
endlich einen Weg gefunden, uns zum Zuhören zu zwingen. Das ist unsere
Schuld. Klar, die Verantwortung liegt zuallererst bei den Politikern, die
Unternehmer- und private Interessen über die der Bürger und Bürgerinnen
stellen, bei den Medien, die auf populistisch geäußerte Unzufriedenheit mit
herablassendem Ton reagieren, der dazu taugt, alle diejenigen Verachtung
und Scham spüren zu lassen, deren Meinung vom Mainstream als unangenehm
empfunden wird.
## Ich habe als „Loser“ begonnen
Die meiste Schuld aber trägt die privilegierte Elite, die Toleranz und
Offenheit predigt, die nur innerhalb ihres eigenen Weltbilds Gültigkeit
besitzen. Allen anderen Meinungen begegnen sie mit Abscheu. Das kann sich
bequem und moralisch richtig anfühlen, aber es ist eine „Kopf in den
Sand“-Haltung – eine kurzsichtige, verantwortungslose Position.
Ich bin US-Staatsbürgerin. Ich lebe in Berlin, aber ich komme aus New York
City, einer Bastion der linksliberalen Elite. Meine teure Ausbildung an
einer privaten Universität verschaffte mir gerade genug Beziehungen, um
meinen Traum von Erfolg zu realisieren, aber nun habe ich Hunderttausende
Dollar Schulden wegen des Studiums.
Ich habe in meinem Land als „Loser“ begonnen, als junge alleinerziehende
Mutter ohne Highschool-Abschluss. Dann machte ich das, was von allen
Amerikanern immer noch als allgemein für jeden gültig gesehen wird: Ich zog
mich am eigenen Schopf aus dem Sumpf – und wie über Nacht lebte ich den
„American Dream“. Aber was man lernt, wenn man das tut, ist: Weil man
selbst eine Gelegenheit nutzt, werden Tausende andere ebendiese Gelegenheit
nicht bekommen. Die große Täuschung liegt darin, dass es nur eine begrenzte
Anzahl „American Dreams“ gibt: Jeder Erfolg kostet Tausende Misserfolge.
Denen, die versagen, wird vermittelt, es sei ihre Schuld. Menschen wie ich
hätten härter gearbeitet und den Erfolg daher verdient. Eine praktische
Lüge, die es den Reichen erlaubt, reich zu bleiben, ohne auch nur den
Anflug eines schlechten Gewissens zu haben. Manche behaupten, wir lebten in
einer Leistungsgesellschaft – aber wenn dem so ist, leben wir in einer
unaufrichtigen. In Amerika steigen wir nicht auf, wenn wir es verdienen.
Wir steigen auf, wenn wir die „richtigen“ Menschen an den „richtigen“
Stellen kennen. Das ist genau die Formel, die es mir ermöglichte, in der
brutalen Wirtschaft der Vereinigten Staaten erfolgreich zu werden. Und ob
ich es verdient habe oder nicht, ist eigentlich irrelevant. Ohne den Zugang
zu den Kreisen der Elite, wäre alles, was ich zu bieten habe, egal gewesen.
## Privilegien für sich behalten
In der Welt derjenigen, die es geschafft haben oder – was heute
wahrscheinlicher ist – deren Vorfahren es geschafft haben, gibt es einen
unausgesprochenen Konsens, die Privilegien in einem kleinen Kreis zu
halten. Nur ab und an öffnet er sich, um die hineinzulassen, die als würdig
erachtet wurden – und um den Eindruck zu erwecken, es sei noch möglich,
sich hochzuarbeiten.
Dass es Trump gelungen ist, die Amerikaner diese dreiste Lüge glauben zu
machen, zeugt davon, dass die Rechte eins schnell gemerkt hat: Es ist
notwendig, die Verstimmung vieler in ihre Überlegungen miteinzubeziehen und
für sich zu nutzen, bis sie zu einem Werkzeug zur Umsetzung des eigenen
Programms wird. Es ist entmutigend zu sehen, wie die Linke taumelt bei dem
Versuch, mit dieser Stimmung umzugehen. Sie leidet unter ihrer eigenen
moralischen Empörung, weil sie eine Stimmung anerkennen und legitimieren
muss, die sie selbst bestenfalls als geschmacklos empfindet.
Wir Linke müssen lernen, uns nicht weiter abzugrenzen. Wir müssen aufhören,
den Gläubigen zu predigen, und wieder lernen, die Menschlichkeit derjenigen
zu sehen, die unsere Meinung nicht teilen, statt die unaustilgbaren
Unterschiede mit unseren Schwarz-Weiß-Meinungen und verächtlichen
Beleidigungen noch zu unterstreichen. Demokratie ist ein Kompromiss, der
nur möglich wird, wenn alle Stimmen einen Platz in der Regierung finden.
Wenn ein Teil unterdrückt oder abgewiesen wird, riskieren wir nicht nur die
Untergrabung ihrer Freiheit, sondern auch unserer.
Als die Nachrichten von Trumps Sieg kamen, wachte ich gerade hier in Berlin
auf. Mein erster Gedanke war: Wie gut, dass ich nicht dort bin. Anfangs
empfand ich tiefe Dankbarkeit und Glück, in diesem Land eine Zukunft zu
haben. Aber schon bald spürte ich eine Angst in mir aufsteigen.
## Wir müssen nicht lieben, aber akzeptieren
Populismus ist ein weltweiter Trend. Wer oder was könnte noch davon
ausgenommen sein? Die Bürger Amerikas, die sich über die Kosten der
globalen neoliberalen Politik empören, sind nicht so anders als die in
Europa. Ob wir es anerkennen können oder nicht: Jeder von uns, außer denen
ganz oben, ist auf die eine oder andere Weise betroffen. Mit der Wut – ob
unangebracht oder angebracht – müssen wir uns alle beschäftigen.
Auch hier finden bald Wahlen statt und dann wird Entsetzen keine
glaubwürdige Reaktion mehr sein. Europäische Politiker haben noch die
Chance zu reagieren, bevor die Enteigneten und Entrechteten ihre Stimme
unüberhörbar erheben. Sie sollten im Kopf behalten, dass sie alle Menschen
repräsentieren sollten, statt diese Aufgabe populistischen Demagogen zu
überlassen. Letztendlich beginnt Veränderung mit Menschen wie uns.
Bevor wir dem Impuls nachgeben, Leute zu beleidigen und damit aufzugeben,
sollten wir uns fragen, was wir für gegeben nehmen, das andere nicht haben.
Lasst uns unsere Offenheit und Toleranz nicht selektiv vergeben. Es mag
sich anfühlen wie eine moralische Pflicht – aber die Pflicht, die uns nun
obliegt, ist eine praktische. Lasst uns unsere Empörung und unsere
Entrüstung beiseiteschieben und lernen, Menschlichkeit auch in den Menschen
zu sehen, die anders denken, aussehen und handeln als wir. Und das
unabhängig von ihren politischen Überzeugungen.
Ich möchte nicht von der biblischen Verpflichtung sprechen, diese Menschen
lieben zu müssen, sondern davon, dass wir sie akzeptieren müssen, weil wir
ein gemeinsames Schicksal teilen.
Aus dem Amerikanischen von Valerie Höhne.
10 Nov 2016
## AUTOREN
Deborah Feldman
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