| # taz.de -- Migration: „Wir Produkte des Kolonialismus“ | |
| > Die Silent University Hamburg macht das Wissen von Menschen auf der | |
| > Flucht zugänglich. Die vom Senat bezahlte Stadtkuratorin hat das | |
| > internationale Kunstprojekt mit politischer Dimension an die Elbe geholt | |
| Bild: Hat weder Bleiberecht noch Arbeitserlaubnis, aber was zu sagen: Abimbola … | |
| HAMBURG taz | Es ist still, wenn Abimbola Odugbesan redet. Vor 70 | |
| ZuhörerInnen steht er im Saal und spricht in ein Mikrofon. Hinter ihm | |
| projiziert ein Beamer ein Bild an die Wand, darauf eine Zeichnung von | |
| Sklaven, die zusammengepfercht auf einem Boot hocken. „Nigeria during the | |
| slavery in West Africa“ ist das Thema der Vorlesung. Odugbesan ist der | |
| erste Dozent der Silent University Hamburg. | |
| Tausende Afrikaner seien damals nach Europa gebracht worden, sagt Odugbesan | |
| auf Englisch. „Today it‘s still the same“ – immer noch überquerten | |
| unzählige Menschen das Meer, um nach Europa zu gelangen. Und immer noch | |
| kämen sie unfreiwillig. Dass der Kolonialismus offiziell beendet und die | |
| Sklaverei abgeschafft ist, ändere daran nichts: „Only the methods have | |
| changed.“ | |
| Auch Odugbesan ist auf diesem Weg nach Europa gekommen, auch er wollte sein | |
| Land nicht verlassen. An nigerianischen Schulen hat er Englisch und | |
| Soziologie unterrichtet. „Aber als Lehrer verdienst du in Nigeria nichts“, | |
| sagt er. Als er anfing, gegen die Unterbezahlung zu protestieren und gegen | |
| die sexuelle Diskriminierung von Frauen zu mobilisieren, musste er fliehen. | |
| Zu groß war der Druck, den die Behörden auf ihn ausübten. | |
| Ein Jahr später floh er erneut, diesmal aus Libyen, wo er Schutz und Arbeit | |
| gesucht hatte. Den europäischen Kontinent erreichte er, wie viele andere, | |
| in Lampedusa. Somit hat er in Deutschland weder ein Bleiberecht noch eine | |
| Arbeitserlaubnis. Damit passt der Lehrer genau in das Profil der Silent | |
| University. | |
| Erfunden wurde die Silent University in London. Der kurdische Künstler | |
| Ahmet Ögüt setzte sie im Jahr 2012 als Kunstprojekt an der Tate Modern | |
| Gallery um. Mittlerweile gibt es sie auch in Stockholm und seit September | |
| 2014 in Hamburg. | |
| „Silent University sagt, „okay, die Menschen sind hier und sie haben Wissen | |
| – das gilt es zu reaktivieren“, sagt Sophie Goltz. Sie ist Stadtkuratorin: | |
| Im Auftrag der Kulturbehörde organisiert sie Kunst im urbanen Raum. Ihr | |
| Büro in der Hafenstraße sieht ein bisschen unfertig aus, so spartanisch ist | |
| es eingerichtet. Ein weißer Tisch mit ein paar Stühlen und ein paar Bücher | |
| stehen darin, ein halb leeres Regal verdeckt eine Küchenzeile im hinteren | |
| Teil des Raumes. | |
| Von hier aus kuratiert Goltz die Silent University, wirbt Gelder ein, | |
| spricht mit JournalistInnen. Durchdringend blickt sie einen an, überlegt | |
| kurz und antwortet dann knapp und präzise. Die Silent University Hamburg | |
| ist ihr Projekt, sie hat es hierhergeholt. Das heißt: soweit man eine im | |
| Internet existierende Institution nach Hamburg holen kann. Ein Gebäude hat | |
| die Universität schließlich nicht, auch keine Mensa, keine Copy Shops. | |
| Veranstaltungen finden in unregelmäßigen Abständen in der Werkstatt Drei, | |
| einem Bildungs- und Kulturzentrum in Altona, statt. | |
| Die Stadtkuratorin beschreibt das Projekt auf ihrer Homepage so: „Silent | |
| University ist eine autonome Plattform für Wissensaustausch von und für | |
| Menschen mit Flüchtlingsstatus und auf Asylsuche sowie für Interessierte.“ | |
| Darunter steht ein Link, über den man sich einschreiben kann. Kriterien? | |
| Keine. Aber das Angebot richtet sich vor allem an diejenigen, „die eine | |
| akademische und berufliche Ausbildung in ihren Heimatländern | |
| abgeschlossenen haben, in Hamburg jedoch aufgrund des Aufenthaltsstatus | |
| nicht praktizieren können“. | |
| Klingt eigentlich gut – eine zentrale Forderung der in Hamburg lebenden | |
| Flüchtlinge ist schließlich, hier arbeiten zu dürfen. „Lampedusa | |
| Professions“ heißt eine Kampagne der Geflüchteten. Mode-DesignerInnen, | |
| HandwerkerInnen und JournalistInnen stellen sich dort vor und pochen auf | |
| ihr Recht auf Arbeit. Aber der Senat stellt sich quer. | |
| Seit zwei Jahren sitzt die SPD das Problem aus, verweigert den Dialog auf | |
| Augenhöhe, überhört die Forderungen der Flüchtlinge. Und dann wird Abimbola | |
| Odugbesan, Sprecher der Lampedusa-Gruppe, offizieller Dozent im Rahmen | |
| eines aus städtischen Mitteln finanzierten Projekts. Auf Umwegen bezahlt | |
| ihn die Stadt. Etwas paradox ist das schon. Ist der Senat schizophren? | |
| Sophie Goltz findet das nicht. Das Geld komme ja vom Elbkulturfonds, sagt | |
| sie – also nicht direkt von der Stadt. Der Elbkulturfonds fördert „große | |
| und künstlerisch innovative Produktionen“, so steht es auf der Seite der | |
| Kulturbehörde, die den Topf verwaltet. Dann redet Goltz davon, was Kunst | |
| darf, was Politik nicht darf. „Kunst setzt eine andere Vision ein“, sagt | |
| sie, „die eine andere Behauptung aufstellt als Politik.“ Für Goltz ist das | |
| kein Widerspruch. | |
| Ist die Silent University also ein künstlerisches und kein politisches | |
| Projekt? Die Flüchtlinge erwerben keinen Abschluss. Die Silent University | |
| stellt keine politische Forderung. Aber sie hat eine politische Dimension. | |
| Die tritt in Anschluss an Odugbesans Vortrag mit Gewalt zutage. Nach 45 | |
| Minuten Kolonialgeschichte und Verstrickung Hamburger Kolonialherren in die | |
| Ausbeutung Nigerias soll es Raum für Diskussionen geben. Ein älterer Herr | |
| meldet sich. Weiße Haut, weiße Haare, weißer Bart. Europa sei ja nun nicht | |
| an allem Schuld, was in Afrika schief laufe, meckert er. In 30 | |
| afrikanischen Ländern sei er schon gewesen! Während er von der | |
| Verantwortung redet, die Afrika übernehmen müsse, regt sich Gemurmel im | |
| Publikum. Leute schütteln die Köpfe, gucken sich verständnislos an – | |
| „respektlos“ nennen sie es, wie der Besserwisser seinen Senf dazu gibt. | |
| Aber es geht weiter: Zweite Wortmeldung: gleiches Kaliber. Weiße Haut, | |
| weißer Schnurrbart, männlich. Auch er weiß alles besser als der schwarze | |
| Dozent und fängt an, die Fakten, die Odugbesan genannt hat, zu korrigieren. | |
| Dann sagt er, dass viele der Neuankömmlinge in Europa sich offenbar für | |
| sehr qualifiziert halten, und da wolle er mal nachfragen, wofür eigentlich | |
| – „Stopp!“ unterbrechen ihn andere TeilnehmerInnen, „I don‘t want to … | |
| this!“, ruft eine Frau, „Abbrechen!“, fordert jemand anders. | |
| Alle reden durcheinander, empört, verärgert, es herrscht Gewusel. Die | |
| Moderatorin Marenka Krasomil ergreift das Wort und entscheidet, | |
| weiterzumachen. Jemand meldet sich und erzählt von seiner Erfahrung in | |
| einem afghanischen Camp im Iran. Aber keiner hört richtig zu. Die Stimmung | |
| ist zu angespannt durch das, was gerade passiert ist. Die beiden Störer | |
| stehen auf, nehmen ihre Jacken und gehen. | |
| Marenka Krasomil ist nicht nur die Moderatorin der Veranstaltung, sondern | |
| auch die Koordinatorin der Silent University Hamburg. Sie ist dafür | |
| zuständig, DozentInnen und TeilnehmerInnen anzuwerben, Themen zu | |
| besprechen, den Austausch zu pflegen. Auf die Frage, wo sie Silent | |
| University zwischen Kunst, Politik und Wissenschaft verortet, sagt Krasomil | |
| klar: „Es ist Kunst.“ Trotzdem reiche das Projekt weit über die Kunstszene | |
| hinaus in den gesellschaftlichen Kontext hinein. | |
| „Es geht darum, Wissen wieder hervorzuholen, das auf der Flucht verloren | |
| ging“, sagt Krasomil. Häufig seien die Fluchterfahrungen so präsent, dass | |
| sie anderes Wissen, Gelerntes von früher, verdrängten. Gleichzeitig bestehe | |
| bei vielen das Bedürfnis, auf der Flucht gesammeltes Wissen zu vermitteln. | |
| Über Fluchterfahrungen redet man nicht viel in Europa. Deshalb „silent“: | |
| Das zum Schweigen gebrachte Wissen soll artikuliert werden. | |
| Praktisch geht das so: Die stillen Studierenden bekommen einen | |
| Mitgliedsausweis, können das Uninetz nutzen, Materialien einsehen und am | |
| virtuellen Austausch teilnehmen. In der Werkstatt Drei soll ein Arbeitsraum | |
| entstehen, eine Bibliothek befindet sich im Aufbau. Als Arimbola Odugbesan | |
| noch in Nigeria unterrichtet hat, war Kolonialismus nicht unbedingt sein | |
| Thema. Er war Englisch- und Soziologielehrer. Erst mit der Flucht hat die | |
| Kolonialgeschichte für ihn an Bedeutung gewonnen. „Wir sind alle Produkte | |
| des Kolonialismus“, sagt er. | |
| „Ich finde nicht, dass wir einfach so weitermachen können“, äußert sich | |
| eine Teilnehmerin, nachdem die Störer gegangen sind. Ihr sei unwohl und man | |
| müsse darüber reden, was passiert sei. Auch andere fordern, über den | |
| Vorfall zu reden. Krasomil will weitermachen, die Zeit ist knapp. Zwei | |
| Gastdozentinnen sollen noch referieren. | |
| Der Vorfall treffe den Kern des Problems, sagte eine der beiden | |
| Wissenschaftlerinnen und leitet elegant in ihr Thema über. Nikita Dhawan | |
| ist Direktorin des Frankfurter Research Center for Postcolonial Studies. | |
| Wer sich mit der Aktualität des Kolonialismus beschäftigt, stößt | |
| unweigerlich auf sie und Maria Mar do Castro Varela, die neben ihr am Pult | |
| sitzt. „Transversale Pädagogik“ ist das Thema ihres Vortrags, „Wissen wi… | |
| im Westen hergestellt“ eine zentrale These und eine dekoloniale Sicht auf | |
| die Vermittlung von Wissen das Ziel. Es geht um Foucault, Spivak und | |
| Gramsci, um hegemoniale Strukturen und transnationale Eliten – wie man | |
| Strukturen neu konfigurieren und einen epistemischen Wandel herbeiführen | |
| kann. | |
| Für den Umgang mit dem rassistischen Zwischenfall haben die beiden auch | |
| keine Lösung. „Man kann jemanden nicht zum Zuhören zwingen“, sagt do Mar | |
| Castro. Als diskutiert wird, kommt Odugbesan wieder nach vorne. Auch er | |
| will niemanden zum Zuhören zwingen. Er will nur darauf aufmerksam machen, | |
| was ihm wichtig ist: Dass auch Rassismus ein Resultat der Sklaverei ist. Ob | |
| die weißen Männer das nun wahr haben wollen oder nicht. „They are | |
| inconscious“, sagt Odugbesan. | |
| 15 Feb 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Schipkowski | |
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