# taz.de -- Bildungsministerin über Einwanderung: „Die CDU war Avantgarde“ | |
> Migrantenkinder haben es nach wie vor schwer, sagt Johanna Wanka. Die | |
> Ministerin über Bildungschancen, Migration und ihren eigenen Aufstieg. | |
Bild: „Ich bin eine einfache Bauerstochter“, sagt Bundesbildungsministerin … | |
taz: Frau Wanka, braucht ein Migrantenkind in Deutschland vor allem Glück, | |
um es ganz nach oben zu schaffen? | |
Johanna Wanka: Glück schadet nie. Aber über gesellschaftlichen Aufstieg | |
entscheiden andere Faktoren. Sprachkenntnisse, gute Kitas und Schulen, die | |
Durchlässigkeit des Bildungssystems. | |
Wirklich? Erfolgreiche Menschen wie Cem Özdemir oder Fatih Akin berichten | |
von Hindernissen in der Schule. Sie sagen, ohne Menschen, die sie | |
förderten, hätten sie es nie geschafft. | |
Solche Vorbilder haben wir zum Glück viele in Deutschland. Den engagierten | |
Lehrer, der an einen Jungen mit türkischem Migrationshintergrund glaubt. | |
Die Kitaerzieherin, die libanesischen Eltern Mut macht. Solche Figuren sind | |
entscheidend für Bildungskarrieren. Bülent Ucar, Professor für | |
Islamwissenschaften in Osnabrück, hatte anfangs auch nur eine | |
Hauptschulempfehlung. | |
Sind solche Erfolgsstories repräsentativ? | |
Es gibt immer mehr davon, Bildungserfolg von Migranten ist doch nichts | |
Exotisches mehr. | |
Studien belegen, dass das deutsche Bildungssystem diskriminiert. Kinder mit | |
Migrationshintergrund brechen häufiger die Schule ab, schaffen es seltener | |
aufs Gymnasium oder auf die Uni, machen weniger Ausbildungen. | |
Migrantenkinder haben es nach wie vor schwerer. Allerdings schließt sich | |
die Kluft. Nehmen Sie die Ergebnisse der PISA-Studie: Vergleicht man die | |
Leistungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund von 2003 bis 2012, | |
dann stellt man fest, dass sie zum Beispiel in Mathematik 24 Punkte | |
aufgeholt haben. Die Schüler ohne Migrationshintergrund haben in dieser | |
Zeit vier Punkte dazu gewonnen. Die Kinder mit Zuwanderungsbiografie holen | |
also auf. | |
Geht Ihnen dieser Prozess schnell genug? | |
Nein. Das deutsche Bildungssystem muss Kinder mit Migrationshintergrund | |
noch engagierter fördern. Deutschland kann es sich nicht leisten, auf sie | |
zu verzichten. | |
Was tun Sie als Bildungsministerin dafür? | |
Die Schulen sind ja Sache der Länder. Aber da, wo wir können, tun wir | |
etwas. Zum Weltfrauentag haben wir zum Beispiel ein Projekt namens „Image“ | |
gestartet. Darin geht es darum, Unternehmen gezielt auf Akademikerinnen mit | |
Einwanderungsbiografie aufmerksam zu machen. Noch ein Beispiel: Wir haben | |
die Zahl der Servicestellen verdoppelt, in denen wir Unternehmer und | |
Familien mit Migrationshintergrund über berufliche Bildung und die duale | |
Ausbildung informieren. | |
Ist das Versprechen, es könne beim Aufstieg gerecht zu gehen, nicht eine | |
Märchen? Der Sohn eines Lagerarbeiters wird eben nicht Oberstudiendirektor. | |
Es gibt eine natürliche Korrelation zwischen dem Bemühen der Eltern und der | |
Bildung des Kindes. Die kann und will ich auch nicht wegreden. Aber als | |
2000 die erste PISA-Untersuchung erhoben wurde, erschraken wir | |
Bildungspolitiker. Alle glaubten, eigentlich müsste jeder in Deuschland | |
Chancen haben - durch Kitas, die Schulpflicht, später Bafög, und so weiter. | |
Heraus kam, dass der Bildungserfolg zu stark vom sozioökonomischen | |
Background der Eltern abhängt. | |
Dieser Zusammenhang existiert bis heute. Ist das ein Skandal für ein | |
reiches Land, das modern sein will? | |
Vergleichsstudien belegen, dass die Korrelation schwächer wird, auch wenn | |
wir längst noch nicht zufrieden sind. Meine Idealvorstellung ist, dass | |
jeder in Deutschland das für ihn optimale Ergebnis in der Bildung erreichen | |
kann. Und zwar unabhängig von seinem Ausgangspunkt. | |
Jeder kann den Aufstieg schaffen: Ist dieser Satz nicht eine grandiose | |
Selbsttäuschung der Deutschen? | |
Aufstieg für alle habe ich nicht gesagt. Es geht um optimale Möglichkeiten. | |
Jeder muss gemäß seines Potentials optimal gefördert werden, um glücklich | |
zu werden. | |
Es geht bei Karrieren nicht nur um Bildung. Wichtiger sind das Elternhaus, | |
die Beziehungen, die Kenntnis gesellschaftliche Codes. Die Eliten | |
rekrutieren sich weitgehend aus sich selbst. | |
Schauen Sie: Ich bin eine einfache Bauerstochter. Ich war in der DDR auf | |
der erweiterten Oberschule und habe Agrotechnikerin gelernt. Ich habe im | |
Stall gearbeitet, habe Rüben verzogen, bin also wirklich auf dem Bauernhof | |
groß geworden. | |
Ihre eigene Biografie ist selbstverständlich vorbildhaft. | |
Generell gesprochen: Ich halte Chancengerechtigkeit in Deutschland für | |
möglich. Das ist ja etwas anderes als Chancengleichheit. Ein riesengroßer | |
Nachteil des deutschen Bildungssystems ist die mangelnde Durchlässigkeit. | |
An diesem Problem arbeiten wir. | |
Wie? | |
Zum Beispiel ist es heute möglich, mit Ausbildung und Berufserfahrung zu | |
studieren - ohne Abitur. Damit haben wir das Studium für eine ganze soziale | |
Schicht aufgeschlossen, die dazu tendiert zu sagen: Lern erst einmal einen | |
ordentlichen Beruf. Oder die Initiative [1][arbeiterkind.de]. Dort können | |
sich Jugendliche, die als Erste in der Familie studieren wollen, | |
informieren. Solche Familien sind später unglaublich stolz auf ihr Kind - | |
und motivieren wiederum andere, es ihnen nachzutun. | |
Wenn man Ihre Reden zu Integration liest, denkt man manchmal: Da spricht | |
eine Grüne. | |
Das ist jetzt aber ein vergiftetes Kompliment. | |
Sie sagen, die Asylbewerber, die zu uns kommen, sind Teil unserer | |
Gesellschaft. Das haben Sie in der CDU exklusiv, oder? | |
Nein, ich bin nicht die einzige mit dieser Haltung. Wenn Sie sich die | |
Bemühungen von Thomas de Maizière anschauen oder manche Debatten in der | |
Unionsfraktion, dann stellen Sie fest: Die Anteilnahme für die steigende | |
Zahl von Menschen, die bei uns Hilfe suchen, ist groß. | |
Wie bitte? Die CSU wirbt mit dem Spruch: „Wir sind nicht das Sozialamt für | |
die ganze Welt.“ | |
Mein Eindruck ist: In den Unionsparteien gibt es wie in der Gesellschaft | |
überwiegend die Bereitschaft zu helfen. | |
Heute wird von allen Parteien akzeptiert, dass Deutschland ein | |
Einwanderungsland ist. Warum hat die CDU ein Großthema so lange | |
verschlafen? | |
Das ist eine schwierige Frage. Verschlafen würde ich jetzt nicht sagen. | |
Sondern? | |
Erstens: Alle Parteien haben sich bei diesem Thema stark bewegt in den | |
vergangenen Jahren. Zweitens: Die CDU reagiert nicht übereilt auf | |
gesellschaftliche Trends. Das ist oft eine Stärke des Konservatismus, | |
manchmal könnte es aber etwas schneller gehen. Drittens: Die demografische | |
Entwicklung hat die Diskussion befördert. Viertens: Die CDU war beim Thema | |
Einwanderung auch Avantgarde. | |
Ach? Das müssen Sie erklären. | |
Jörg Schönbohm hat schon als Berliner Innensenator Ende der 90er Jahre vor | |
Parallelgesellschaften gewarnt. Für diese Analyse ist er damals scharf | |
attackiert worden. Mittlerweile ist im gesamten Parteienspektrum Konsens, | |
dass es auch Gefahren bei der Einwanderung gibt und es für Integration | |
wichtig ist, frühzeitig die deutsche Sprache zu lernen. Sogar manche Grüne | |
sehen das so. | |
Welche Fehler haben Sie gemacht? | |
Ich habe zum Beispiel früher gedacht, wir könnten die demografische | |
Entwicklung durch Zuwanderer zum Beispiel aus Osteuropa abfedern. | |
Funktioniert nicht. Diese Länder haben dieselben demografischen Probleme | |
wie wir. Das heißt, es geht auch zwingend darum, Menschen aus anderen | |
Kulturkreisen aufzunehmen und zu integrieren. | |
In der CDU macht sich eine Gruppe jüngerer Abgeordneter für ein modernes | |
Einwanderungsgesetz stark. Sind Sie dafür oder dagegen? | |
Ich bin gegen eine Verengung der Diskussion auf diese Frage. Ich halte auch | |
für falsch, ein Punktesystem wie in Kanada einfach formal zu übernehmen. | |
Wir brauchen Lösungen, die auf die deutsche Situation zugeschnitten sind. | |
Wie finden Sie die aktuell gültige Gesetzgebung? | |
Wir haben viele Regelungen, gerade im Bereich der hochqualifizierten | |
Einwanderer, die gut funktionieren. Das Anerkennungsgesetz garantiert | |
Ausländern zum Beispiel den Rechtsanspruch, dass ihre Qualifikation hier | |
bewertet und eingeschätzt wird. So ein Gesetz ist vorbildlich in Europa. | |
Die Befürworter argumentieren, dass ein neues Gesetz einen enormen | |
Werbeeffekt für Deutschland hätte. Stimmen Sie zu? | |
Marketing ist wichtig, gute Politik ist wichtiger. Mir geht es um die | |
inhaltliche Diskussion. Wir müssen darüber reden, was gut ist an unseren | |
Regeln, was schlecht ist und was fehlt. Natürlich ist wichtig, für | |
Deutschland zu werben - das geht aber auch mit den bestehenden Angeboten. | |
Geht es den Parteien bei der Einwanderungsdebatte auch um eine doppelte | |
Botschaft? Ja, wir wollen Ausländer herlocken. Aber nur die Besten. | |
Und was ist die doppelte Botschaft? | |
Die Ausländer, die uns nicht nutzen, bleiben draußen. Ein Signal an die | |
Pegida-Bürger. | |
Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Beim Einwanderungsgesetz reden | |
wir über Qualifikationen, die von hiesigen Unternehmen dringend gebraucht | |
werden. Bei Flüchtlingen reden wir über die humanitäre Pflicht zu helfen. | |
Eben. Aber diese Fakten werden in der politischen Debatte vermischt. | |
Das stimmt, zumindest in Teilen. Einwanderung ist zu wichtig für Polemik. | |
Das Signal, wir wollen die Leistungsstarken, ist übrigens auch für die | |
Herkunftsländer nicht unproblematisch. Denn die müssen ihre Besten ja | |
ziehen lassen. Ich kann nur dafür plädieren, bei diesem Thema sehr | |
differenziert zu argumentieren. | |
9 Mar 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.arbeiterkind.de/ | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
Ulrich Schulte | |
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