# taz.de -- Comedian Idil Baydar über Deutschland: „Fickfehler gab es frühe… | |
> Ihre Mutter gab ihr den Namen Jilet Ayse – weil ihre Zunge scharf wie | |
> eine Rasierklinge ist. Über Yotube wurde sie bekannt, nun hat Idil Baydar | |
> ein Bühnenprogramm. | |
Bild: „Ihr wollt den Kanaken? Okay, ihr kriegt den Kanaken“: Idil Baydar au… | |
taz: Frau Baydar, Ihr Programm heißt „Deutschland, wir müssen reden“. | |
Worüber müssen Sie mit Deutschland reden? | |
Idil Baydar: Über uns. Ich will fragen, was es Deutschland so schwer macht, | |
uns zu lieben. | |
Spricht Deutschland mit Ihnen? | |
Meistens. Ich fühle mich ja hier zu Hause und wenn ich „Wir“ und „Ihr“ | |
sage, ist das künstlich. Ich arbeite trotzdem mit dieser Trennung. Weil sie | |
immer wieder gemacht wird: Wir und Ihr. Ihr und wir. Nach meiner | |
Lieblingsfarbe werde ich nicht gefragt. | |
Und versteht Deutschland Sie? | |
Einige empfinden Jilet als Angriff. Oder sie sagen: „Die sind doch so, die | |
Ausländer, was is’n jetzt daran lustig?“ Überhaupt scheinen die Deutschen | |
es witziger zu finden, wenn ich Türken niedermache als wenn ich mich über | |
Deutsche lustig mache. Dabei ist Jilet deutsch, in der Türkei existiert | |
diese Figur gar nicht. | |
Sehen sich die echten Ayses aus Neukölln Ihre Show an? | |
Klar. Die Jugendhäuser haben bei mir Kontingente. Weil diese Jugendlichen | |
kommen nirgendwo vor. Nicht mal Rama macht Werbung mit Ausländern. Die | |
haben doch sonst keine Möglichkeit, ihr Selbstbild zu reflektieren. | |
Was unterscheidet Sie von Kartoffel-Comedians? | |
Der Takt. Die deutsche Comedy baut sich über zehn Sekunden auf. Dann | |
passiert was, dann kommt ein Gag. Mein Takt ist ein anderer: Ich sage was, | |
das ist so behindert, da muss man lachen. Ich sage wieder was, und man muss | |
wieder lachen. | |
Sind Comedians wie Kaya Yanar oder Bülent Ceylan Ihre Vorbilder? | |
Kaya Yanar war der Erste, der sich durchgesetzt hat. Bei Bülent war ich mal | |
zu Gast, ein toller Mensch und ein großartiger Performer. Er ist vielleicht | |
nicht so politisch, aber er hat eine Haltung. Es gibt auch großartige | |
Künstler ohne politische Haltung. Aber meins ist mehr Volker Pispers oder | |
Hagen Rether. Und Serdar Somuncu. | |
Cindy aus Marzahn? | |
Nicht mein Humor. Aber sie ist sehr gut. Und auch eine soziale Figur. Kein | |
Wunder, dass sie im Osten so beliebt ist. Die Ossis sind ja auch | |
marginalisiert. | |
Ihre andere Figur, [1][Gerda Grischke,] stammt ebenfalls aus der | |
Unterschicht, aber aus der deutschen. | |
Ich liebe Gerda. Die schreit dich an: „Ab ins Arbeitslager!“ Und gibt dir | |
dann ein Pfefferminzbonbon. Bei ihr sagen viele Deutsche: „Ich kann der | |
nicht zuhören, die erinnert mich an meine Mutter.“ | |
[2][Als Jilet Ayse sagen Sie:] „Mein Freund darf mich schlagen, das ist ein | |
Mann.“ Was ist, wenn junge Frauen glauben, dass Sie Gewalt rechtfertigen? | |
Man darf als Künstler keine Angst davor haben, falsch verstanden zu werden. | |
Es kommt vor, dass mir eine 15-Jährige sagt: „Ich finde das super, was du | |
sagst. Bei uns ist das halt so. Der schlägt mich, weil er mich liebt.“ Dann | |
sage ich: „Ey, Mädchen, ist an dir dit Leben vorbeigegangen oder wat? Liebe | |
hat nix mit auf die Fresse hauen zu tun.“ Wenn sie aber diese Scheiße | |
verinnerlicht hat, wird sie die an ihre Tochter weitergeben, so wie das | |
ihre Mutter bei ihr getan hat. Aber die meisten dieser Mädchen finden etwas | |
anderes an Jilet gut: dass sie so aggressiv ist. | |
Jilet erzählt oft von ihrer Schwester, die sie „Integrationsnutte“ nennt. | |
Die hat einen deutschen Freund und geht aufs Gymnasium. Warum spielen Sie | |
diese Figur nicht? | |
Die Integrationsnutte ist nicht so lustig. Und ich habe dafür noch keine | |
Form gefunden – außer mich selbst. Vielleicht fehlt es mir an Vorbildern. | |
Ich muss dringend zur Uni. | |
Ist Jilet Ayse eine Figur, mit der Sie die echten Ayses lächerlich machen | |
wollen? | |
Ich mache mich über gewisse Dinge lustig. Aber ich mache das nicht auf eine | |
entwürdigende Weise. Es gibt Grenzen. | |
Welche? | |
Zum Beispiel Allah und der Prophet. Wenn du diese Jugendlichen erreichen | |
willst, kannst du ihnen nicht Bam Bam auf die Fresse geben. Die merken, | |
dass ich nicht bloß versuche, den Kanakenton nachzumachen, sondern das ich | |
den beherrsche, weil ich deren Welt kenne. | |
Eine Welt, in der Sie aufgewachsen sind? | |
Nicht ganz. Ich war auf einer Waldorfschule in Celle. Mit 15 zog ich mit | |
meiner Mutter nach Berlin. Siemenststadt. Schock. | |
Und da haben Sie diese Sprache gelernt? | |
Nein. „Fickfehler“, „Arschgeburt“, „Übertreib nicht deine Rolle“ �… | |
Sprache gab es zu meiner Zeit nicht. Das ist neu. Das habe ich von den | |
Kindern gelernt, mit denen ich später in Jugendhäusern und Schulen | |
gearbeitet habe. Zum Beispiel an der Rütli-Schule. Eine Katastrophe. | |
Warum? | |
Das war eine Verwahrungsstätte. Desolater Zustand. Du siehst Kids, die | |
wissen, dass sie keine Perspektive haben, Mädchen, die mit 14 schon | |
verheiratet sind… Ich habe Nachhilfe gegeben. Wenn einer Stress gemacht | |
hat, habe ich gesagt: „Pass mal auf, Digger, mach hier keine Welle, vallah | |
ich hau dir eine, dann bist du blamiert.“ Meine Kinder habe ich so zum | |
Mittleren Schulabschluss gebracht. Aber wenn Frau Schmidt gesagt hat: | |
„Mohammed, das ist vielleicht in deiner Kultur so, aber in unserer Kultur, | |
da macht man das nicht so“ – das hat nicht funktioniert. | |
Ist das heute besser? | |
Ich glaube, dass es schlechter geworden ist, seit alle von Integration | |
reden. Es gibt hier ein Projektchen und dort eins, aber an den Strukturen | |
ändert sich nichts. Die Empfehlung für die weiterführende Schule wird in | |
Deutschland nach sozialer Herkunft vergeben. Und wir wollen eine | |
Leistungsgesellschaft sein? | |
Was meinen Sie? | |
Ich hatte eine pfiffige Schülerin mit einem Notendurchschnitt von 2,0. Mit | |
Kopftuch. Ihre Mutter konnte nur schlecht Deutsch. Die hat mich angefleht: | |
„Bitte sorgen Sie dafür, dass meine Tochter aufs Gymnasium kommt.“ Ich war | |
ja nur freie Mitarbeiterin, aber ich habe nachgefragt. Die Lehrer sagten: | |
„Also nee, das ist viel zu schwer. Wenn sie keine Unterstützung in der | |
Familie hat, wird sie das nicht schaffen.“ Die kam auf die Hauptschule. Das | |
hat mir das Herz zerrissen. Ich dachte: Ey, selbst wenn du gut bist, heißt | |
das noch lange nicht, dass du in diesem System zu den Gewinnern gehörst. | |
Das ist der Grund, warum Jilet so wütend ist, warum ich überhaupt diese | |
Jilet-Nummer mache: aus Schmerz. | |
Auch eigenem? | |
Ja. Ein Beispiel: Ich musste im Jobcenter so ein Formular ausfüllen. Da | |
wurde nach dem Migrationshintergrund gefragt. Ich dachte: Mache ich mich | |
strafbar, wenn ich das nicht ankreuze? Voll Deutsch, ein richtiger Türke | |
denkt nicht so. Ich kreuze das also an, und mein Berater sagt: „Sie müssen | |
zu einem türkischen Berater.“ Und ich: „Ich bitte Sie, Sie sehen doch, dass | |
ich Deutsch kann. Ich versteh den gar nicht.“ Und der: „Ist egal, ist | |
egal.“ Am Ende war ich bei so einem Kanaken, der gebrochen Deutsch sprach | |
und sich über mein schlechtes Türkisch beschwerte. | |
Eine Demütigung. | |
Noch und nöcher! Das war 2010, da kam Sarrazin. Bald darauf habe ich | |
gesagt: Ihr wollt den Kanaken? Okay, ihr kriegt den Kanaken. | |
Wie kommt man von Schmerz auf die komische Form? | |
Weil Lachen befreiend ist. Aber es war nicht geplant. Ich kam zur Comedy, | |
weil ich meine Mutter loswerden wollte. | |
Wie das? | |
Auf der Waldorfschule hatte ich eine künstlerische Ausbildung, auch das | |
ganze Bewusstsein für Sprache. Später habe ich gerappt, Hörspiele und | |
Theater gemacht, im Gorki Theater zum Beispiel, mit Feridun Zaimoglu. Ich | |
bin wüüürklich talentiert. Aber ich saß zu Hause und habe gejammert. Meine | |
Mutter sagte: „Wenn du unglücklich bist, dann liegt das nicht an anderen | |
Leuten, sondern an dir. Sei kein Opfer und mach was.“ | |
Toll. | |
Ja! Meine Mutter ist eine hochintelligente Person. Meine Eltern kamen als | |
Arbeiter. Aber sie hat sich weitergebildet, hat schnell Deutsch gelernt, | |
als Maskenbildnerin und als Familientherapeutin gearbeitet. Und sie hat | |
mich dazu gezwungen, mit einigen ihrer Freunde vom Fernsehen das erste | |
Video aufzunehmen. Das habe ich auf YouTube gestellt. Sogar der Name Jilet | |
Ayse, Rasierklinge Ayse, ist von meiner Mutter. Ich wollte die Figur | |
Massaker-Fatma nennen; jetzt heißt Jilets Hund so. So fing das alles an. | |
Sie haben auch [3][Videos für] [4][Bild.de] produziert. | |
Das war das erste Mal, dass ich mit Comedy Geld verdient habe. Und eine | |
Möglichkeit, vor einem Massenpublikum meine Figuren zu entwickeln. Sachen, | |
die sie zu hart fand, hat die Redaktion rausgeschnitten. | |
Wurden Sie für Ihren Auftritt bei der Bild kritisiert? | |
Na klar. | |
Ihre Antwort? | |
Ich habe gesagt: Fick dich! Zahlst du meine Miete? Erzähl mir nix in dieser | |
Welt voller Doppelmoral. | |
Und was ist jetzt Ihre Lieblingsfarbe? | |
Weißgold. | |
2 Mar 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.youtube.com/watch?v=jkCKlEMO9xU | |
[2] http://www.youtube.com/watch?v=EkdO9bVL0hk | |
[3] http://www.bild.de/video/clip/jilet-ayse/jilet-ayse-27175886.bild.html | |
[4] http://www.bild.de/video/clip/jilet-ayse/jilet-ayse-27175886.bild.html | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
Deniz Yücel | |
## TAGS | |
Integration | |
Comedian | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Irak | |
Migration | |
Ausgehen und Rumstehen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Comedian İdil Baydar über Morddrohungen: „Das ist Teil meines Alltags“ | |
Von einem Polizeirechner wurden persönliche Daten der Kabarettistin İdil | |
Baydar abgerufen. Sie ist schon länger Anfeindungen ausgesetzt. | |
Irakischer Comedian über seine Show: „Selbst der IS schaut zu“ | |
Korruption, Extremismus, Terrorismus. In seiner YouTube-Show beschäftigt | |
sich Ahmed Albasheer mit allem Bösen, das in seiner Heimat Irak geschieht. | |
Bildungsministerin über Einwanderung: „Die CDU war Avantgarde“ | |
Migrantenkinder haben es nach wie vor schwer, sagt Johanna Wanka. Die | |
Ministerin über Bildungschancen, Migration und ihren eigenen Aufstieg. | |
Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Ich habe nichts gegen Ausländer | |
„Assimilierte Wichser“, die hingehen sollen, wo sie herkommen. Im Berliner | |
Theater Hebbel am Ufer feierte „Hate Poetry“ dritten Geburtstag. | |
Oliver Polak über Rassismus auf der Bühne: "Ressentiments sind zum Zerstören… | |
Für Oliver Polak ist guter Humor weder deutsch noch jüdisch, sondern | |
absurd, kaputt und selbstironisch. Seine Auftritte sind das Gegenteil von | |
"Wellnesscomedy". | |
Porträt einer besonderen Berliner Göre: Die Schwester der Integrationsnutte | |
Die Schauspielerin Idil Baydar hat die Kunstfigur "Jilet Ayse" erfunden: | |
eine pöbelnde 18 Jahre alte Gettobraut, die ihre Wut über das ehrlose | |
Deutschland auf YouTube auskotzt. | |
Der Kamillenteerocker Bülent Ceylan: "Der Türke soll schwitzen" | |
Der Comedian Bülent Ceylan kann als prolliger Hassan mit den Arschbacken | |
Nüsse knacken. Ein Gespräch über Goldketten, Kamillentee und Klischees. |