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# taz.de -- Porträt einer besonderen Berliner Göre: Die Schwester der Integra…
> Die Schauspielerin Idil Baydar hat die Kunstfigur "Jilet Ayse" erfunden:
> eine pöbelnde 18 Jahre alte Gettobraut, die ihre Wut über das ehrlose
> Deutschland auf YouTube auskotzt.
Bild: Voll sauer: Jilet Ayse alias Idil Baydar.
Dieses Mädchen donnert über einen hinweg wie ein mächtiges Gewitter. Sie
pöbelt in miesem Deutsch, sieht in Türken die neuen Juden, trägt Ohrringe
groß wie Koteletts und verachtet ihre Schwester Aysegül, weil die mit einem
Deutschen zusammen ist. Jilet Ayse, 18 Jahre alt, Schülerin aus Neukölln,
ist das Fleisch gewordene Klischee einer türkischen Gettobraut aus
Problemberlin. Das wirft Fragen auf. Und was für welche:
„Jilet Ayse, bist du integriert?“ – „Ich bin voll integriert.“ – �…
„In mein Leben! Was fragst du für Fragen? Meine Schwester Aysegül geht auf
Gynasiun, ist voll die Integrationsnutte geworden. Isch mach da nicht mit.“
Hinter Jilet Ayse steckt die Berliner Schauspielerin Idil Baydar. Eine
37-jährige Frau mit lachenden Augen und sehr bunten Schals, herzlich im
Umgang. Seit einigen Monaten veröffentlicht Baydar auf YouTube kurze Filme,
in denen sie als Jilet Ayse auftritt. Es ist stets das gleiche Szenario:
Auf einem beigen Sofa sitzend, gewappnet mit einer Schale Erdnussflips,
erzählt die Figur, was sie bewegt. Meistens ist Jilet Ayse wütend. Auf
Aysegül, auf Sarrazin, auf das ehrlose Deutschland.
Dafür, dass YouTube Baydars einzige Bühne ist und sie nicht einmal eine
Website hat, spricht sich ihr spezieller Humor schnell herum.
Wahrscheinlich auch, weil man zunächst nicht so genau weiß, wen sie
eigentlich verarscht. Wie ein Zuschauer auf der Videoplattform schreibt:
„Wir fragen uns, ob du ein Comedian bist, der sich über Kanaken lustig
macht oder über die Deutschen, die sich Türken so vorstellen.“ Baydars
Videos wurden bislang knapp eine Million Mal angeklickt und auf zahlreichen
Blogs verlinkt.
## Kindheit in Celle
Dass Idil Baydar eines Tages ihr Alter Ego Jilet Ayse brauchen würde, um
weiter Idil Baydar sein zu können, hat sie sich damals in Niedersachsen nie
träumen lassen. In Celle kommt sie zur Welt und wächst mit ihrer allein
erziehenden Mutter auf, die sich für familientherapeutische Aufstellungen
interessiert und ihre Tochter auf die Waldorfschule schickt. Sie verbringt
die Kleinstadttage mit ihren Freundinnen Anette und Ariane und die
Sommerferien in Ankara, der Heimatstadt ihrer Eltern. Sonst ist die Türkei
für sie kein Thema – bis sie mit ihrer Mutter nach Berlin zieht.
„Mir wurden hier sehr viele Pauschalurteile über Türken
entgegengeschmettert“, erinnert sich Baydar. Sie ist gerade 16 geworden und
muss sich auf einmal für etwas verteidigen, das zuvor ganz
selbstverständlich und still mitlief: ihre Herkunft. „Woher bin ich denn
migriert, außer aus dem Bauch meiner Mutter?“, wundert sich Baydar empört.
„Und dann sollte ich irgendwelche Nasen davon überzeugen, dass zu
türkischen Familien nicht zwangsläufig auch prügelnde Männer gehören.“
In Baydars Augen haben sich solche Vorurteile in den vergangenen zehn
Jahren noch verstärkt. Jilet Ayse ist eine Reaktion darauf: „Ich habe
irgendwann die Faxen dicke gehabt und gedacht: Ihr wollt eure Kanakin? Ihr
kriegt eure Kanakin!“
So sagt Jilet Ayse Dinge wie „Er kann nichts für das“, wenn sie über die
jüngsten Eskapaden ihres Freundes Ayak Ahmet berichtet. Ayak Ahmet schlägt
Jilet Ayse. Und Jilet Ayse? Wischt das Blut weg und ist der Meinung, dass
eine richtige Frau das aushalten müsse: „Manchmal, du musst Frau auf ihren
Platz schicken wie Hund.“ Sie lässt ihre fünf, sechs Handys von Ayak Ahmet
kontrollieren und träumt von sieben, acht Kindern mit ihm. Und einem
eigenen Spätkauf.
Unterwerfung gehört zu Baydars großen Themen. Mit Jilet Ayse hat sie eine
Figur erfunden, die die Opferrolle der Frau prominent vor sich herträgt:
„Du kannst dich als Opfer in deiner Rolle auch sehr gut ausruhen“, sagt
Baydar. Weil so eine Rolle Aufmerksamkeit garantiere und bei anderen
Schuldgefühle produziere, die sich zum eigenen Vorteil wenden ließen. Sie
wolle mit solchen Aussagen Frauen, denen Gewalt angetan wurde, nicht
verhöhnen und die Schuld der Täter kleinreden, betont Baydar. „Doch die
Frauen sollten nicht Opfer blieben. Mir geht es darum, dass sie
Verantwortung für sich und ihr Leben übernehmen.“ Sich selbst nimmt sie da
nicht unbedingt aus: „Ich bin halt bei Bedarf die arme Kanakin, der Unrecht
widerfährt.“
Baydars Sozialsatire lebt wie jede gute Satire von genauer Beobachtung. Und
maßgeblich davon, dass Baydar nie nur Schauspielerin war, sondern Berliner
Schulen auch als Erwachsene von innen kennt. Neben freien Hörspiel- und
Theaterproduktionen am Maxim Gorki Theater und den Sophiensælen arbeitete
sie als Integrationsbegleiterin in der Kreuzberger Nürtingen-Grundschule.
„Meine Klasse bestand zu 98 Prozent aus Türken und zu 2 Prozent aus
Arabern. Tolle Integration.“ An der Rütli-Schule in Neukölln bereitete sie
SchülerInnen auf ihren Mittelschulabschluss in Deutsch und Englisch vor. An
diesen Schulen, sagt sie, sei der Typ Jilet Ayse ein gängiges Phänomen.
„Es hat mich sehr bewegt, dass sich die Jugendlichen Identitäten
erschaffen, die alles andere als nützlich für den Alltag in Deutschland
sind“, sagt Baydar. „Aber diese Kids sind nicht dumm.“ Sie teilen nur eine
Erfahrung, glaubt Baydar: einerseits ihrem Elternhaus zu entwachsen,
andererseits aber von vielen als Fremde behandelt zu werden. Und so
richteten sie sich, in einem Akt der Rebellion, eine eigene Zwischenwelt
ein, in der die Mädchen unter ihnen dann auch mal aussehen und sprechen wie
Jilet Ayse.
„Jilet Ayse, wovor hast du Angst?“ – „Isch hab keine Angst. Wo von was
redest du? Isch mach Angst, das ist ein Unterschied.“
Das Jilet-Publikum ist laut der ziemlich groben Website-Statistik von
YouTube meist weiblich und zwischen 13 und 20 Jahren alt. Und tatsächlich
scheinen sich einige Zuschauerinnen in der Figur wiederzuerkennen: „Du bist
voll mein Vorbild!“, kommentiert eine das aktuelle Video, in dem Jilet Ayse
ihre Schwester erst in eine Zwangsheirat hineinmanövriert und dann noch die
Nerven hat, sie um Mathenachhilfe zu bitten. „Du sagst, was ich fühle!“,
ist von einer anderen zu lesen.
Wie geht Baydar damit um, dass Teile ihrer Zielgruppe das Jiletaysetum
möglicherweise für etwas anderes als Sozialsatire halten? „Jilet Ayse ist
ein Angebot, dich selbst zu reflektieren“, sagt sie. „Und das geht raus an
alle.“
8 Mar 2012
## AUTOREN
Joanna Itzek
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