| # taz.de -- Debatte über Einwanderung: Die Fachkräfte-Flut | |
| > Trotz Pegida diskutieren Politiker wieder, ob Deutschland ein | |
| > Einwanderungsland ist. Denn Flüchtlinge könnten begehrte Fachkräfte sein. | |
| Bild: Dringend benötigter Nachschub für den Arbeitsmarkt? Syrische Flüchtlin… | |
| BREMEN taz | Im Januar flammte die Debatte auf wie eine verspätete frohe | |
| Botschaft: Deutschland müsse über ein Einwanderungsgesetz nachdenken, hieß | |
| es aus Berlin. Ein Impuls nicht etwa von der SPD, sondern von | |
| CDU-Generalsekretär Peter Tauber. | |
| Demografisch vorhersagbarer Arbeitnehmerschwund, unsichere Renten, | |
| Fachkräftemangel – Deutschland brauche die MigrantInnen, ging es als | |
| Antithese zu den Pegida-Protesten durch die Presse. | |
| Mitte Januar verkündete Niedersachsens Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) | |
| dann, im Kampf gegen den Fachkräftemangel wolle Niedersachsen verstärkt | |
| nach geeigneten Beschäftigten unter den ankommenden Flüchtlingen suchen. In | |
| jedem Erstaufnahmelager sollen deshalb künftig zwei Mitarbeiter der | |
| Bundesanstalt für Arbeit frühzeitige Beratung anbieten. | |
| Die Zahlen sind deutlich: In 20 Jahren kommen auf 100 junge womöglich 60 | |
| ältere Menschen, doppelt so viele, wie noch im Jahr 2000. Schon in zehn | |
| Jahren soll in Deutschland eine Lücke von mehreren Millionen Fachkräften | |
| klaffen. | |
| Dabei hätten rund 20 Prozent der Asylbewerber einen Uni-Abschluss und | |
| weitere 30 bis 35 Prozent eine Ausbildung, die dem deutschen Facharbeiter | |
| entspreche, heißt es aus der Bundesagentur für Arbeit. | |
| Flüchtlinge gleich Fachkräfte? Die Industrie- und Handelskammern sehen das | |
| schon länger so. Sie opponieren gegen xenophobe Kampagnen, loben Rumänen | |
| und Bulgaren als gut ausgebildete Arbeitnehmer oder verurteilen | |
| Ressentiment-geleitete Proteste à la Pegida. | |
| So irritierend solche Eingriffe in den Diskurs aufs linke Weltbild wirken | |
| mögen – womöglich ist es die Seite des Kapitals, die am nachhaltigsten auf | |
| eine Kehrtwende im Umgang mit Migration in Deutschland hinwirkt: weg von | |
| einer auf Abschreckung ausgelegten Flüchtlings- und Migrationsabwehr. | |
| Mittlerweile sehen viele zumindest in Flüchtlingen aus Syrien nicht mehr | |
| nur die ungeliebte „Asylanten“ – sondern Ärzte, Ingenieure oder Techniker | |
| mit Potenzial. | |
| ## Debatte mit Haken | |
| Vermutlich ist da etwas dran. Flucht bewältigen die ärmsten und | |
| schwerstkranken Menschen wohl selten. Vor dem Hintergrund europäischer | |
| Grenzabschottung könnte man zynisch sagen: Wer es durch die Wüste, übers | |
| Mittelmeer oder die hohen Stacheldrahtzäune schafft, hat das | |
| Assessment-Center der Flüchtlingsabwehr erfolgreich durchlaufen und darf | |
| dann zum Rentensicherer der Deutschen werden. | |
| Ein Horrorszenario vollendeter Verwertungslogik? Warnungen, die Debatte um | |
| „nützliche Einwanderer“ unterhöhle die Akzeptanz für das ohnehin schon | |
| eingeschränkte Recht auf Asyl, sind nicht unbegründet. | |
| Der Bremer Politiker der Alternative für Deutschland (AfD), Alexander | |
| Tassis, tingelt etwa mit einem Vortrag zum Thema „Einwanderer für | |
| Deutschland“ durch die Lande, in dem er – wie Niedersachsens | |
| Wirtschaftsminister Lies (SPD) – das kanadische Einwanderungsmodell lobt. | |
| Im Gegensatz zur SPD allerdings will die AfD gleichzeitig die sozialen | |
| Sicherungssysteme eindampfen. | |
| Der Rekurs gerade auf kanadische und australische Einwanderungssysteme | |
| allerdings sei „ein gefährlicher Trick“, sagt der Hamburger | |
| Migrationsforscher Vassilis S. Tsianos. Kanada und Australien seien nicht | |
| in einem vergleichbaren Umfang wie die europäischen Staaten mit | |
| asylpolitischen Fragen konfrontiert. | |
| „Sie haben Einwanderungsgesetze, aber dafür sehr prekäre Asylsysteme.“ | |
| Daher sei es „billiger Rechtspopulismus, die geografische Spezifik dieser | |
| Länder zu ignorieren und dadurch eine reaktionäre Asylpolitik zu | |
| betreiben“, so Tsianos. Der Soziologe besteht deshalb darauf, eine klare | |
| Trennung von Migrations- und Fluchtpolitik beizubehalten. | |
| Dennoch widerspricht Tsianos der linken Kritik am Nützlichkeits-Diskurs: | |
| „Es gibt keine Migrationspolitik, die nicht an Nützlichkeit gebunden ist“, | |
| sagt er. Die Kritik sei „idealistisch“: „Migrationspolitik ist | |
| Bevölkerungspolitik und wir können nichts erwarten, was der Sachlogik | |
| widerspricht.“ | |
| Schon seit vielen Jahren forderten Flüchtlingsverbände und -lobbyistInnen, | |
| die permanente soziale Ausgrenzung von Geflüchteten vom Arbeitsmarkt | |
| abzuschaffen. Das sei für all diejenigen wichtig und „integrativ“, die | |
| keine sichere Option auf Asyl haben oder mit einer Duldung leben. Tsianos | |
| fordert einen „transnationalen Arbeitsmarkt“ und „Diversity-orientierte | |
| demokratische Migrationspolitik“. | |
| ## Viele Hürden in der Praxis | |
| Doch wie kann das in der Praxis aussehen? Die Schritte, die aktuell | |
| unternommen werden, zeigen die Schwierigkeiten: Obwohl etwa die Anerkennung | |
| ausländischer Berufsqualifikationen 2012 per Gesetz vereinfacht wurde, | |
| steht auch den am besten ausgebildeten ausländischen Fachkräften immer noch | |
| eine Behörden-Odyssee bevor: Kein Arzt ohne Approbation, kein Ingenieur | |
| ohne Anerkennung seines Diploms. Auch die neuen Berufsberater in den | |
| niedersächsischen Aufnahmeeinrichtungen werden da keine Wunder vollbringen | |
| können. | |
| Die Jobvermittlung ist ohnehin nicht das größte Problem. Deutsch zu können | |
| sei der Schlüssel, sagen alle, die mit der Arbeitsmarkt-Integration befasst | |
| sind. Sprachkurse allerdings gibt es für Flüchtlinge viel zu wenig. | |
| Von den intensiven „Integrationskursen“ des Bundesamts für Migration und | |
| Flüchtlinge sind Menschen im Asylverfahren und Geduldete ausgeschlossen. | |
| Ihnen stehen nur besondere Kurse offen, die berufsbezogen die deutsche | |
| Sprache vermitteln, aber kein Regelangebot sind. | |
| In Bremen hat das Paritätische Bildungswerk schon vor Jahren begonnen, | |
| diese berufsbezogenen Sprachkurse auch für Flüchtlinge anzubieten. Schon | |
| sehr früh vermittelte man Flüchtlinge und Geduldete in Ausbildung, Praktika | |
| und in Arbeit – zusammen mit dem Bremer und Bremerhavener Integrationsnetz. | |
| Dessen Mitarbeiter pflegen schon jahrelang Kontakte zu Unternehmen – und | |
| kennen die gesetzlichen Fallstricke. | |
| Geduldete etwa haben ein dreimonatiges Arbeitsverbot. Danach gilt ein Jahr | |
| lang die „Vorrangprüfung“, nach der Arbeit zuerst an Deutsche und dann an | |
| Europäer vergeben wird. Gleiches gilt bei Aufenthaltsgestattung. Menschen | |
| mit humanitärem Aufenthalt wiederum dürfen arbeiten. Es ist so kompliziert | |
| wie es klingt. | |
| Ein Modellprojekt der Arbeitsagentur, das unter anderem in Bremen und | |
| Hamburg seit knapp einem Jahr läuft, profitiert nun von diesen Erfahrungen | |
| der Bleiberechtsnetzwerke. | |
| Im März reiht sich Hannover ein. „Jeder Mensch hat Potenzial“ ist das | |
| Motto, auch wenn nicht alle, sondern eher Flüchtlinge mit einer hohen | |
| Aufenthaltswahrscheinlichkeit zur Zielgruppe gehören, also aus dem Irak, | |
| Iran, Afghanistan oder Syrien. Sie dürfen sich noch während des | |
| Asylverfahrens bei der Arbeitsagentur melden. | |
| In Bremen klappt das ganz gut: Manche Flüchtlinge sind erst seit einer | |
| Woche in Deutschland und stehen schon bei der Arbeitsvermittlerin Angela | |
| Touré auf der Matte. Die Vorstellung, dass etwa ein syrischer Herzchirurg | |
| kurz nach seiner Ankunft schon wieder im OP stehen könnte, sei von der | |
| Realität aber weit entfernt. „Wenn es vier Jahre dauert, geht es schnell“, | |
| so Touré. | |
| Es funktioniere andersherum: „Wer jahrelang nur wartet, ist irgendwann | |
| demotiviert“, sagt Touré. Auch sie fordert mehr, möglichst frühe | |
| Sprachförderung. Doch auch die Anerkennung von Abschlüssen ist ein Problem: | |
| Einer ihrer Kunden soll nach einem Betriebspraktikum übernommen werden. | |
| Belege über Schulzeugnisse aber hat der Mann nur als Fotos auf dem Handy – | |
| und nicht im Original. „Daran wird es scheitern“, sagt Touré. | |
| ## Kompliziertes Anerkennungsverfahren | |
| Alicja Slufik kennt das. Beim Bremer Verein „Frauen in Arbeit und | |
| Wirtschaft“ ist sie auf die Berufsorientierungs-Beratung spezialisiert. | |
| Hunderten Klientinnen hat sie das unübersichtliche Verfahren zur | |
| Anerkennung ausländischer Abschlüsse schon erklärt. „Es gibt viele Hürden… | |
| sagt Slufik. | |
| Nicht nur die Originaldokumente, auch eine beglaubigte Übersetzung muss | |
| vorliegen. Dazu eine Aufstellung der erbrachten Leistungen und Noten. „Aber | |
| Flüchtlinge haben die fast nie im Gepäck“, sagt sie. Auch Zeugnisse über | |
| Berufserfahrung können eine Rolle spielen. | |
| Die im Nachhinein aus einem Bürgerkriegsland zu besorgen, ist meist | |
| unmöglich. Die Liste geht so weiter. Mehrere Hundert Euro kann das alles | |
| kosten. Geld, das viele Antragsteller nicht haben. „Manche hält das davon | |
| ab, den Antrag zu stellen“, sagt Slufik. | |
| Noch komplizierter werde es in den so genannten reglementierten Berufen: | |
| bei ÄrztInnen, RechtsanwältInnen, Ingenieuren oder in der Pflege. Auch hier | |
| hängt wieder alles an der Sprache. „Auch das Nachholen von | |
| Ausbildungsteilen ist möglich, eine Weiterbildung oder eine | |
| Externenprüfung“, sagt Slufik. | |
| Sie selbst hat Verwaltungsrecht in Polen studiert. Die Gesetze dort sind | |
| mit den deutschen aber nicht vergleichbar. Nach langen Bemühungen erhielt | |
| sie in Deutschland dafür schließlich einen Magister in | |
| Verwaltungswissenschaften. Sie hat es geschafft – und hilft nun anderen auf | |
| demselben Weg. | |
| Mehr zum Thema "Flüchtlinge und Arbeitsmarkt" finden Sie in Hamburg, | |
| Bremen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen in der gedruckten Ausgabe der | |
| taz oder am eKiosk. | |
| 30 Jan 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Jean-Philipp Baeck | |
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