# taz.de -- Wettbewerb Berlinale 2015: Zerrbilder der eigenen Barbarei | |
> Regisseur Patricio Guzmán begibt sich in „El botón de nácar“ auf die | |
> Suche nach den Verbrechen der Militärdiktatur in Chile. | |
Bild: Die einst in Patagonien beheimateten Indígenas. | |
Der letzte Film des chilenischen Regisseurs Patricio Guzmán, „Nostalgia de | |
la luz“, führte an einen der trockensten Orte der Welt, in die Atacamawüste | |
im Norden Chiles. Dort kennt man keine Luftfeuchtigkeit, was ideale | |
Voraussetzungen schafft, damit Astronomen den Kosmos beobachten können. | |
Zugleich bedeutet es, dass Körper nur sehr langsam verwesen. Noch heute | |
suchen Angehörige von Menschen, die zur Zeit der Pinochet-Diktatur | |
verschleppt wurden, nach den sterblichen Überresten der Verschwundenen. | |
Guzmáns neuer Film, „El botón de nácar“ („Der Perlmuttknopf“), der e… | |
Dokumentarfilm im Wettbewerbsprogramm, führt in die entgegengesetzte | |
Richtung, in den Süden Chiles, an einen der feuchtesten Orte der Welt: ins | |
westliche Patagonien, eine labyrinthische Landschaft aus Fjorden, | |
Gletschern und steil aufragenden Felsnadeln. | |
Das Interesse, das Guzmán antreibt, ist dasselbe. So wie er in „Nostalgia | |
de la luz“ nach physischen Spuren der Verbrechen der Militärdiktatur | |
fahndet, so steht auch „El botón de nácar“ im Zeichen forensischen | |
Ehrgeizes. Nur dass es diesmal nicht die Wüste, sondern der Meeresgrund | |
ist. Zunächst folgt Guzmán den Spuren der einst in Patagonien beheimateten | |
Indígenas, die ein symbiotisches Verhältnis zum Wasser pflegten, sich von | |
Muscheln und Fischen ernährten, ihre Lebensgrundlage aber verloren, als | |
Ende des 19. Jahrhunderts Siedler, Missionare und Goldsucher nach | |
Patagonien vordrangen. | |
Sie wurden in katholischen Missionen interniert, ihr Immunsystem hielt | |
europäischen Krankheiten nicht stand, und zudem gab es etwas, das sich | |
nicht anders denn als Menschenjagd beschreiben lässt. | |
## Wenig Abschweifungen und Umwege | |
Guzmán erzählt dies aus dem Off, während beeindruckende zeitgenössische | |
Schwarz-Weiß-Fotografien und Filmaufnahmen zu sehen sind, dazwischen | |
Interviews, Aufnahmen von Landschaften und glitzernden Wasseroberflächen, | |
so vergrößert, dass nur weiße Punkte auf schwarzer Fläche bleiben. Wie ein | |
visuelles Echo auf die Bemalungen, mit denen sich die Indígenas schmückten, | |
bevor die Siedler sie dezimierten. | |
Was dabei schnell deutlich wird, ist, dass die obsessiven Fantasien, die | |
die Europäer im 19. Jahrhundert von den sogenannten Barbaren entwickelten, | |
in Wirklichkeit nach außen gestülpte Zerrbilder der eigenen Barbarei waren. | |
Und die chilenischen Militärs entwickelten 70, 80 Jahre später ihre eigene | |
Form der Barbarei. | |
Anders als in „Nostalgia de la luz“ gönnt sich Guzmán wenige Abschweifung… | |
und Umwege, wenn er die Kontinuität der Gewalt freilegt; diese | |
Zielstrebigkeit führt bis hin zum Reenactment eines jener Helikopterflüge, | |
bei denen Militärs politische Häftlinge, mit Schienenstücken beschwert, | |
über dem Südpazifik abwarfen, und ist in ihrer Unbarmherzigkeit vielleicht | |
die einzige Schwäche dieses starken, nicht leicht zu ertragenden Films. | |
9.2. Zoo Palast 1, 13 Uhr; Friedrichstadt-Palast, 18 Uhr | |
9 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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